Richter-Dämmerung
Mir wird häufig vorgeworfen, ich würde mich über alles Mögliche „aufregen“. Meist trifft das nicht zu. Vieles in unserer kleinen Tangowelt ist schlicht lustig, ja manchmal saukomisch. Das bespreche ich dann höchst amüsiert, aber ohne jeden Ärger.
Das heutige Thema jedoch macht mich gewaltig wütend:
Gestern hat die Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf auf ihre Kandidatur zum Bundesverfassungsgericht verzichtet. Das erscheint konsequent: Bereits zu Beginn der rechten Hetzkampagne gegen sie hatte sie diese Möglichkeit angedeutet: Sollte die Affäre das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts beschädigen oder gar eine Regierungskrise auslösen, könne sie das persönlich nicht verantworten und würde sich zurückziehen.
Zweifellos ein höchst ehrenwerter Standpunkt – und speziell die SPD dürfte froh sein, diese Kandidatur nun nicht durchtrotzen zu müssen. Schon bisher klangen ihre Solidaritäts-Bekundungen eher pflichtgemäß als leidenschaftlich.
Der Eiertanz, den die Union zu der Sache aufgeführt hat, belastet mein Seelenleben – da erwartbar – überhaupt nicht. Und klar, der AfD schmecken liberale Richter kein bisschen. So what?
Die Professorin hat ihren Rückzug in einer persönlichen Erklärung ausführlich begründet. Ich musste länger suchen, bis ich den Text im Wortlaut fand. Unter anderem schreibt sie:
„Dass die diskurserweiternden und demokratiestärkenden Möglichkeiten des Internets mitunter zur Verbreitung von Fakenews und Schmähungen missbraucht werden, ist nicht neu. Neu und bedrohlich ist jedoch, dass sich in sozialen Netzwerken organisierte und zum Teil KI-generierte Desinformations- und Diffamierungskampagnen Bahn brechen zur Herzkammer unserer Demokratie, dem Parlament. Von politisch verantwortlichen Funktionsträgern wie Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, die für bürgerliche Werte wie Anstand, Respekt und Verantwortungsbewusstsein stehen, darf und muss man erwarten, dass Grundlage ihrer Entscheidung nicht ungeprüfte Behauptungen und Stimmungen, sondern Quellen- und Faktenanalysen sind. Die Politik muss gegenüber von bestimmten Seiten geführten Kampagnen ‚Resilienz‘ zeigen.
Lässt sich die Politik auch künftig von Kampagnen treiben, droht eine nachhaltige Beschädigung des Verfahrens der Bundesverfassungsrichterwahl. Die fachliche Kompetenz als zentrales Entscheidungskriterium darf nicht von öffentlichen Diskussionen über vermeintliche politische Richtungen oder angebliche persönliche Eigenschaften überlagert werden, zumal wenn diese ohne Tatsachenbezug erfolgen.“
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/lto-dokumentiert-erklaerung-im-wortlaut
Ich finde, das ist sehr klar und deutlich. Lesen werden es die Wenigsten.
Kaum bekannt ist auch das Verfahren, falls der Bundestag sich nicht mit Zweidrittelmehrheit für einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen kann. In dem Fall hat das Verfassungsgericht selbst ein Vorschlagsrecht – entscheiden kann dann auch der Bundesrat.
https://www.gesetze-im-internet.de/bverfgg/__7a.html
Hätte Brosius-Gersdorf (respektive die sie unterstützenden Parteien) also an der Bewerbung festgehalten, wäre daraus keine „Staatskrise“ entstanden. Irgendwie hätte man sich dann schon einigen müssen.
Was mich an der Geschichte maßlos ärgert: Frauen kann man stets rumkriegen, indem man an ihr „Verantwortungsgefühl“ appelliert. Wegen des „großen Ganzen" hätten sie gefälligst auf ihre persönlichen Ziele zu verzichten. Ich kenne das auch vom Tango: Damit die Kinder nicht verwahrlosen oder die kranken Eltern versorgt werden, habe man aufs Tanzen zu verzichten. Männern ist das vergleichsweise scheißegal: Der Kegelabend bei der Betriebssportgruppe ist – schon wegen der Karriere – schließlich unverzichtbar!
Und auch die Hetze aus dem Netz ist mir – im Tango-Bonsai-Format – bestens vertraut. Als ich einen besonders widerwärtigen Artikel über mich ein „Sportpalast-Niveau“ attestierte, wurde zur Verhinderung drohender Ohnmachten allenthalben nach den Riechfläschchen verlangt.
Erst recht bebten die Seelen, als ich bei meiner Einschätzung blieb. Die „ganze Tangowelt“, so wurde mir bedeutet, sei nun gegen mich. Darauf habe ich zwei Antworten: „Echt?“ sowie „Und wenn?“
Also bleibe ich dabei: Wenn etwas aussieht, sich anfühlt und riecht wie Dreck, ist es vermutlich einer.
An Stelle von Frau Brosius-Gersdorf hätte ich an der Kandidatur festgehalten. Die „Drecksarbeit“, mich dann nicht zu wählen, hätte ich denen überlassen, die es verdienen. Die Union ist nicht einmal auf das Angebot der Professorin eingegangen, in einer Fraktionssitzung aufzutreten. Sie wollen es nicht hören.
Männer sind da oft ganz anders gestrickt: Haben die ganzen Skandale und Gerichtsverfahren Herrn Trump davon abgehalten, wieder Präsident werden zu wollen? Oder machte es auf Herrn Merz irgendwelchen Eindruck, dass er erst aufs dritte Mal CDU-Vorsitzender und im zweiten Anlauf Bundeskanzler wurde? Und welche Konsequenzen werden gezogen, wenn man mit Masken-Deals oder Maut-Katastrophen viele Millionen Steuergelder versenkt? Nein, da wird die eigene Karriere (so lange einen die Partei stützt) auf Biegen und Brechen durchgezogen!
Ich weiß nicht, ob die Potsdamer Jura-Professorin einmal darüber nachgedacht hat, welchen Schaden sie mit ihrem – menschlich verständlichen – Schritt der Emanzipationsbewegung zugefügt hat.
Das Erfolgsrezept, wie man unbequeme Frauen loswird, wird man sicherlich gerne weiter anwenden: Unterstellungen, Lügen, Shitstorms, und dann der heuchlerische Appell an die „staatspolitische Verantwortung“!
Aber was helfen schon Empörungen? Die Republik wird die Schmach wegstecken – und die Professorin in ihren Elfenbeinturm zurückkehren.
Solche Gedanken bedrückten wohl auch Kurt Tucholsky, als er eindrucksvolle Zeilen zum „Prozess Marloh“ hinterließ. Bei den Unruhen 1919 hatte ein Offizier ohne jeden Rechtsgrund aufständische Matrosen erschießen lassen, wurde aber freigesprochen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Marloh
Der Jurist und Satiriker schrieb dazu:
„Ich resigniere. Ich kämpfe weiter, aber ich resigniere. Wir stehen hier fast ganz allein in Deutschland – fast ganz allein. Denn was sollen wir mit Parteien, was mit Publizisten anfangen, die in den wichtigsten Punkten eine Reservatio machen und sagen: »Ja – aber . . . « Und wir sagen: Nein. (…)
Ist heute ein müder Tag? Ich will mich ja gern beschimpfen und anklagen lassen, ich will ja gern alles auf mich nehmen – wenn ich nur nicht sehen müsste, wie grauenhaft allein wir stehen. Ist denn moralische Sauberkeit wirklich nicht mehr das absolut erste Erfordernis des öffentlichen Lebens? Wohin geraten wir? Wo treiben wir hin? Wohin soll es führen, wenn nun auch die Rechtsprechung anfängt, zu wanken; wenn politische Gesichtspunkte ganz offen Sondergerichte beeinflussen? Wie lange noch, und die ordentlichen Gerichte folgen. Und dann ists aus.
Pathos tuts nicht und Spott nicht und Tadel nicht und sachliche Kritik nicht. Sie wollen nicht hören.“
Ja, sie wollen nicht hören. Und lesen schon gar nicht.
http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1919/Proze%C3%9F+Marloh
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