Schröpfköpfe statt Antibiotika?
Auch wenn mein Lob den Kollegen Klaus Wendel verdrießen dürfte: Aktuell hat er mit seinem Blogartikel „Klammer-Blues statt Tango? Wie wir gerade den Tanz verlieren“ wirklich Bemerkenswertes veröffentlicht. Ob der Inhalt bei seiner Klientel Wohlgefallen auslösen wird, bezweifle ich. Momentan herrscht dazu weitgehendes Schweigen – wie zu einigen seiner Artikel, in denen es um Musikalisches oder Tänzerisches geht. Diese Erfahrung mache ich seit Langem: Seit wann hat der Tango etwas mit Musik und Tanz zu tun? Da kommentiert man doch lieber Texte, in denen auf Außenseiter wie mich eingedroschen wird. Macht viel mehr Spaß – und man muss sich nicht mit der verfahrenen Situation in der eigenen Szene abgeben.
An den Anfang stellt Wendel eine stimmungssenkende Diagnose: „Komplexität wird zur Ausnahme, stilistische Vielfalt weicht Konformität. Und selbst dort, wo Austausch möglich wäre, dominieren oft kurzfristige Eventformate oder Konsumstrukturen ohne nachhaltige Wirkung.“
Wendel sieht die Rettung in Tangovereinen. Und da der Autor nach eigenem Bekenntnis per Google keine gefunden hat (ich übrigens nach etlichen Sekunden), darf ich mit eigenen Beobachtungen aushelfen: Ich kenne – aus langjähriger persönlicher Erfahrung – zwei sehr rührige, in meiner Heimatstadt und in einer nicht weit entfernten Metropole. Und obwohl man die Szene mit Events und Lehrveranstaltungen flutet, sehe ich wenig tänzerische Weiterentwicklungen. Klar können Vereine hilfreich sein – schon, da sie nicht gewinnorientiert arbeiten müssen. Kommt halt darauf an, womit sie sich beschäftigen.
Ich habe vor längerer Zeit dazu eine Glosse verfasst, die nicht frei von persönlichen Erfahrungen ist:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2014/04/im-tangovarein-strafarbeit-klasse-3-b.html
Wendel nimmt kein Blatt vor den Mund: „Und Hand aufs Herz: Wie oft sehen wir bei Open-Air-Veranstaltungen oder Park-Milongas Szenen, die eher abschrecken als begeistern?“ Dazu verlinkt er ein typisches Video – wenn ich das wieder gemacht hätte, wäre ich wegen der Verunglimpfung von „Privatpersonen“ heftig gescholten worden. Doch klar – so sieht die traurige Realität aus:
https://www.youtube.com/watch?v=y8UOCkxF4E4
Der Autor kritisiert auch die äußere Aufmachung der Männer vor allem bei Freiluft-Events hierzulande, die wie eine „Mischung aus Biergarten und Wäschekammer“ wirke. Vorsicht Stufe! Es ist noch nicht lange her, dass ich mir für eine entsprechende Charakterisierung weiblicher Outfits heftige Schimpfe einfing…
Vor 20 Jahren jedenfalls, so der Tangolehrer, sei sein „Anspruch an Vielfalt und technisches Repertoire“ deutlich höher gewesen. Heute könne er so viel nicht mehr erwarten. Das „Streben nach Eleganz, Tiefe und Ausdruck“ sei einer „allgemeinen Oberflächlichkeit“ gewichen. Wohl wahr! Liege es am „Dauer-Scrollen durch Bildschirme“? Sicherlich auch.
Ich glaube, dass wir heute von der Fülle an Freizeitangeboten regelrecht erschlagen werden. Man fängt mit einem Hobby an, und wenn es dann beginnt, schwieriger zu werden, wechselt man zum nächsten. Die „Generation Praktikum“ erstreckt sich bis ins Greisenalter. Die viel gepriesenen „alten Milongueros“ hatten wenig preiswerte Alternativen, um die Nächte durch- und sich wichtig zu machen. Heute sei der Tango oft ein „Durchlauferhitzer“: schnell begeistert, schnell wieder verschwunden.
Mit Recht beobachtet der Autor auch eine tänzerische Verarmung: „Ich erkenne auf der Fläche oft denselben Stil – ein typisches ‚Encuentro-Repertoire‘, funktional, platzsparend, musikalisch reduziert.“ Die Choreografie beschränke sich auf fünf bis acht Grundelemente. Es dämmert ihm sogar, zum Tanzen könne man Platz benötigen:
„Wenn es wirklich nur noch um Nähe und Platzökonomie geht, könnten wir auch direkt zum ‚Klammer-Blues‘ übergehen. Der bräuchte keine jahrelange Schulung, passt auf jede Fläche und ist garantiert anfängerfreundlich. Die Veranstalter würden sich freuen – mehr Tänzer auf weniger Raum, mit kürzerem Lernweg. Aber das kann doch nicht ernsthaft unser Ziel sein?“
Na, unseres sicher nicht!
„Muss wirklich jede tänzerische Möglichkeit der Umarmung untergeordnet werden? Oder dürfen wir den Tango auch wieder etwas flexibler denken – ohne seine Qualität aufzugeben?“ Da staune ich jetzt aber: Hören wir nicht ständig, die Umarmung sei das Endziel allen Tangotanzens – nimals dürfe man sie zugunsten irgendwelcher Schritte aufgeben?
Da dämmern doch zart bahnbrechende Erkenntnisse, wie auch der Untertitel des Artikels beweist: „Tango light – Wenn Nähe genügt“. Nein, tut sie natürlich nicht!
Als wir mit dem Tango anfingen, war er eine höchst exotische Nische. Mit ihm beschäftigten sich einige Verrückte, die auf Kreativität und abgefahrene Musik standen. Als man diesen Tanz dann als Geschäftsmodell entdeckte, musste man den Unsinn verbreiten, Tango könne jeder lernen. Das führte zu einem wachsenden Ansturm tänzerisch schwach Begabter, welche den Tango weniger mit Raffinesse verbanden als mit der Option, straflos „Weiber anfassen" zu dürfen. Wollte diese Population besser tanzen lernen? Natürlich nicht unbedingt– und es wäre auch wenig aussichtsreich.
Natürlich durfte man die Kundschaft musikalisch nicht überfordern. Glücklicherweise bot sich dazu der 1940-er Jahre Mainstream an, den man flugs mit einem Begriff adelte, der bei älteren Herrschaften bombig ankommt: „traditionell“.
Wundert uns das Ergebnis? Also mich nicht…
Kann man diese Entwicklung umdrehen? Ich habe keine Ahnung! Aber im Gegensatz zu „Experten“ muss ich ja nicht alles wissen. Ich glaube aber, es wird nicht ohne zeitgenössische Tangomusik und private Initiativen gehen. In unserer Umgebung gibt es einige interessante Beispiele, die Hoffnung machen. Dort scheut man sich nicht vor musikalischer Vielfalt – und niemand wird ausgegrenzt.
Wer möchte, dass sich der Tango weiterentwickelt und qualitativ verbessert, darf keine Angst vor Experimenten haben. Wer es aber heute wagt, seinen eigenen Stil zu finden, anders zu tanzen als die Mehrheit, wird teilweise mit nacktem Hass verfolgt. Ich kann hier mitreden, da ich es wagte, einige unserer Tanzvideos ins Netz zu stellen.
Klar: Wer tänzerische Experimente probiert, ist nicht vor Irrtümern und Fehlentwicklungen gefeit. Als Chemiker weiß ich: Jeder Versuch kann auch schiefgehen. Wer aber auf Experimente verzichtet, verschließt sich jeder Weiterentwicklung zu neuen Ideen und Resultaten.
Daher meine ich: Wendel liefert weitgehend richtige Diagnosen. Was er als Therapie vorschlägt, greift aber zu kurz. Wer dem Fortschritt misstraut, empfiehlt halt weiterhin Schröpfköpfe statt Antibiotika. Der Tango braucht mehr Reformen als die Gründung von Vereinen.
Anders gesagt:
Wer nur einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zum Nagel!
Herr Riedl, ich würde mich sehr zur Komplettierung meines Artikels über eine Linkliste einiger Vereine freuen.
AntwortenLöschenMit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
https://tsz-freising.de/index.php/tanzen/gruppen/186-tango-argentino
Löschenhttps://www.tango-lunazul.de/
https://in-tango.de/ueber-uns/
https://www.tango-kaufbeuren.de/
Vielen Dank, habe ich unter meinen Artikel eingefügt:
LöschenZum Artikel von Klaus Wendel kommentierte dort eine „Mimi“ aus Berlin mit Blick auf die „Boomer“: „Ihr seid wie die Dinos, weil die auch mal schnell weg waren, obwohl die sich auch für die Grössten gehalten haben. Und keiner hat sie hinterher vermisst.“
AntwortenLöschenNa ja, die Dinosaurier lebten immerhin in der Zeit zwischen zirka 235 bis 66 Millionen Jahren – also etwa 170 Millionen Jahre lang. Den modernen Menschen (Homo sapiens) gibt es erst seit etwa 300000 Jahren. Insofern ist der Vergleich mit den „Dinos“ durchaus tröstlich…
Aber wer kann das beim Berliner Bildungssystem schon wissen?
Sorry, ich habe zu spät gesehen, dass Klaus Wendel Ähnliches kommentiert hat! Allerdings musste ich da sowieso nichts abschreiben - ich hab nämlich mal Biologie studiert...
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