Tango-Regelkunde für Anfänger

Liebe Anfängerin, lieber Anfänger,

wahrscheinlich haben Sie schon von den „Códigos de la Milonga“, also dem „Milonga-Kodex“ gehört, welcher gerade auf den sich „traditionell“ nennenden Tangoveranstaltungen erwartet wird.

Bevor Sie sich dabei in die Nesseln setzen, sollten Sie lieber vom Experten lernen. Also von mir.

Wie Sie bereits in meiner Lehrschrift zum Mirada-Cabeceo-System gemerkt haben dürften, ist Tango ein Tanz, bei dem man vor allem viel falsch machen kann. Daher sind die folgenden Regeln genauestens zu beachten! Es gibt nämlich bei uns eine herbe Rangordnung, welche sich aber nicht nach den tänzerischen Fähigkeiten bemisst, sondern nach theoretischen Kenntnissen zu Tangomusik und Regelkunde.

Zunächst sollten Sie herausfinden, ob Sie sich auf einer Veranstaltung befinden, wo man die ganzen Códigos tierisch ernst nimmt. Das erkennen Sie an folgenden Merkmalen:

·       Als Neuling oder fremder Gast werden Sie mit einem glasigen „Alien-Blick“ ignoriert – nicht mal die studentischen Hilfskräfte an der Kasse oder Bar nehmen Sie wirklich zur Kenntnis. Ihr Tango-Marktwert rangiert also noch hinter dem der Hauskatze.

·       Der DJ sitzt (meist mit Kopfhörern auf) angetackert hinter seinem Computer. Niemals wird er seinen Platz verlassen und selber tanzen.

·       Auf dem Parkett wälzt sich träge und im Gegenuhrzeigersinn eine säuberlich hintereinander tanzende Reihe von Paaren. Dies nennt der Kenner „Ronda“.

·       Gerade als nicht mehr ganz junge Frau werden Sie anfangs kaum aufgefordert. Sie haben also viel Zeit, sich mit den theoretischen Grundlagen zu beschäftigen!

Die Damen können aber schon im Sitzen grundlegende Fehler begehen: Als Outfit werden nämlich High Heels (möglichst farbig und glitzernd) sowie Kleidchen oder Rock erwartet. Satinhosen gehen grade noch durch – mit Jeans, Jogginghosen und Sneakers dagegen ziehen Sie bereits auf den ersten Blick die Arschkarte! Als Mann dagegen müssen Sie sich nach der Gartenarbeit nicht extra umziehen. Allenfalls bei festlicheren Milongas punkten Sie mit weiten Bundfaltenhosen, geblümtem Hemd und weißen Tangoschleichern.

Grundsatz: Die Herren wählen aus, nicht die Damen!

Natürlich wird vorausgesetzt, dass man (besser: Mann) ausschließlich per Mirada und Cabeceo auffordert. Ich hoffe, Sie haben die Grundlagen dieses Systems durch meinen oben verlinkten Artikel bereits verinnerlicht!

Wenn Sie dann mal an einen Partner fürs Parkett kommen sollten: Auf solchen Milongas tanzt man ausschließlich eng! Als Frau sollten Sie also nicht zurückzucken, wenn Sie ihr Partner an seine geblümte sowie verschwitzte Heldenbrust nietet. Merke: Ekel ist im Tango kein Argument!

Natürlich könnten Sie einwenden, auf derart geringen Abstand hätten Sie nur wenig Möglichkeiten, ihre Beine zu bewegen. Das stimmt zwar, ist aber auf solchen Milongas kein Thema: Die paar Mini-Schrittchen sowie fünfeinhalb stets gleichen Figürlein kriegen Sie auch im Ganzkörper-Kontakt hin! Merke: Tanz wird hier eher als Vorwand betrieben.

Viel wichtiger ist, dass Sie sich diszipliniert in die Ronda einreihen. Diese besteht aus einer Runde, bei größeren Tanzflächen auch aus zwei Kreisen von Paaren. Ob Sie sich als Anfänger in der äußeren oder inneren Ronda bewegen sollten, ist unter Experten umstritten. Als Frau lassen Sie einfach den Mann entscheiden – im „traditionellen“ Tango eh eine gute Idee. Aber da alle mehr oder weniger gleich tanzen, ist diese Differenzierung eher unwichtig.

Aber Vorsicht: Im Fluss der Ronda können Sie extrem viel falsch machen, was dazu führen dürfte, dass niemand mehr mit Ihnen tanzt. Daher mein genereller Rat: Halten Sie den Ball (nicht: die Bälle) flach!

Als Frau speziell die Füße: Erheben Sie diese maximal eine Handbreit über den Boden. Raumgreifendere Beinaktionen gelten als „Rücksichtslosigkeit“ und werden mit Nicht-Aufforderung für mindestens drei Milongas bestraft!

Weiterhin gilt für jede Ronda ein striktes Überholverbot: Auch wenn das Paar vor Ihnen nicht tanzen kann und daher weitgehend auf der Stelle verharrt: Tun Sie einfach so, als könnten Sie es auch nicht!

Ebenso ist ein Spurwechsel zwar auf der Autobahn, nicht aber im Tango erlaubt. Aber er hätte auch – im Gegensatz zum Straßenverkehr – kaum einen Sinn: Nebenan geht es ja auch nicht schneller. Die Gesamtgeschwindigkeit der Ronda folgt dem schulisch bekannten „Wandertags-Gesetz“: Der Langsamste entscheidet.

Sollten Sie meinen, das Ganze habe mit kreativem Paartanz nichts zu tun: Ja, sicher! Die Idee ist einfach, sich in einer Art „Formationstanz“ aufgehoben zu fühlen, sich wie in einem Vogelschwarm harmonisch im Reigen der Artgenossen zu bewegen. Und glauben Sie mir: Vögel gibt es in diesem Tangosegment jede Menge!

Dazu passt ja auch die hypnotisch einschläfernde Musik. Als Frau empfehle ich Ihnen, die sich alsbald einstellende geistige Leere mit dem mentalen Erstellen des Einkaufszettels für den nächsten Tag oder des Putzplans fürs Wochenende zu füllen. Als Mann hingegen dürfte Ihnen geistige Leere eh nichts ausmachen.

Am Ende der Tanda weckt Sie zudem eine meist interessantere Musik aus der Versenkung. Sollten Sie jedoch auf den Einfall kommen, dazu zu tanzen, bedeutet dies die sofortige Exkommunikation auf dieser Milonga! Stattdessen haben Sie umgehend das Parkett zu räumen, damit die Lurer-Truppe freie Sicht fürs nächste Geblinzel erhält!

Wissen sollten Sie auch, dass auf den Milongas unheimlich viel geredet wird. Aber das kennen Sie ja schon aus Ihrem Tango-Unterricht! Dabei gilt das Naturgesetz: Je weniger Originelles jemand zu sagen hat, für desto origineller hält er sich! Der biologische Hintergrund ist klar: Tanzen ist ritualisiertes Balzverhalten. Wie bei den Vögeln (Sie wissen ja…) tun sich dabei die Männchen besonders hervor. Und wie bei diesen transportiert das stundenlange Gezwitscher eigentlich nur zwei Botschaften: „Ich bin der Größte“ und „Lass mich endlich ran“.

Wenn also so ein Vogel neben Ihnen aufbaumt, so denken Sie daran: Er will nur austesten, ob Sie ihn so toll finden wie er sich selber. Und Sie vor den Aufforderungen minderer Männchen schützen. Jetzt ist schauspielerisches Talent gefragt: Tun Sie so, als würden Sie sich köstlich über den Quark amüsieren, den er verzapft (und in einem höheren Sinn stimmt das ja sogar). Wenn dann eine Tanda kommt, die er für musikalisch unschädlich hält, wird er Sie bestimmt auffordern – und leider meist weiterreden.

Gerade größere Gruppen von Tango-Weibchen produzieren oft ein heftiges Gegacker (sic!) und Gekreische, welches sogar nur eine Botschaft transportiert: „Sieht denn endlich jemand, dass wir da sind?“ Mit über 90 dB (A) wird so mühelos die Musik übertönt, was auf solchen Milongas eine Gnade sein kann.

Ein letzter Tipp: Es wird sehr genau registriert, wer Sie auffordert: Ist dies eine Person aus einem angesagten Tangozirkel, haben Sie quasi die „höheren Weihen“ erhalten – mit der Aussicht, dass weitere Premium-Tänzer folgen werden. Nehmen Sie hingegen die Aufforderung eines Menschen an, welcher in der Szene als problematisch, vielleicht sogar renitent gilt, sind Sie künftig für die VIP-Abteilung Luft. Hier ist ein Wegschauen oder bei direkter Aufforderung sogar ein Korb ratsam. Sollte Ihnen so ein Missgeschick dennoch einmal unterlaufen, so reagieren Sie wenigstens mit einem gequälten Ausdruck und missverstehen Sie absichtlich die Führung. Manchmal erbarmt sich dann ein Obercliquen-August Ihrer und bietet Ihnen einen „Trost-Tanz“ an.

Liebe Anfängerinnen und Anfänger,

Sie sehen, die (bisher) „ungeschriebenen Regeln“ einer Milonga sind gar nicht so schwierig. Gehen Sie immer vom Grundsatz aus: Je weniger ein Verhalten mit Musik und Tanz zu tun hat, umso entscheidender ist es für Ihr Fortkommen in der Tangowelt.

Diese Erscheinung ist ja nicht nur unserem Tanz vorbehalten – wie der folgende Musikerwitz zeigt:

Das Mitglied eines Laienchors überredet einen Freund, doch mal zu einer Chorprobe mitzukommen – vielleicht finde er ja Gefallen und wolle mitmachen. Die Probe verläuft wirklich sehr anregend: Es wird viel gegessen und noch mehr getrunken, man führt launige Gespräche und reißt einen Witz nach dem anderen. Beim Aufbrechen fragt der Kumpel den Neuling mit schon schwerer Zunge: „Also, wie hat es dir gefallen?“ „Okay, war wirklich schön – nur: Wann singt ihr eigentlich?“ „Na, jetzt dann – besoffen auf dem Heimweg!“     

Schön, wenn man einen unangepassten Dirigenten wie Otto Waalkes hat:

https://www.youtube.com/watch?v=DEiSeYHAhy0

Kommentare

  1. Herrlich auf den Punkt (bzw. die Punkte) gebracht!

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  2. Durchaus erfrischend zu lesen! :-)=)
    Ich würde ja hingehen - nur gibt es hier auf zwei Autostunden keine Milonga, welche die Hälfte der Kriteren halbwegs erfüllt.

    Hier können überall auch Frauen führen und auffordern. Und Männer können "nöö" sagen, zum Folgen und zum Aufgefordertwerden. Also der Tango folgt der Gesellschaft, na vielleicht mit einigen Dekaden Verzögerung.

    Musikalisch ist es so, dass gefühlt auf der Hälfte der Milongas, insbesondere sonnntagsnachmittags, auch "Weltmusik" gespielt wird. Deren Takt-Monotonie es Anfängern wohl etwas einfacher macht, jedenfalls sind diese dann zahlreicher vertreten. Dementsprechend gibt es auf den Milongas mit traditioneller Musik eher eine Grüppchenbildung unter "Altgedienten".

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    1. Es wird dich nicht überraschen, dass ich mir unter "moderner Tangomusik" etwas anderes vorstelle als takt-monotone "Weltmusik".

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    2. Es nervt mich immer mehr, dass es fast nur noch die Wahl zwischen Edo oder Neo/Non-Tango gibt. Pest oder Cholera. Als wenn es dazwischen keine Musik gegeben hätte. Nicht, dass ich ganz gerne auch mal (!) einen traditionellen Tango genießen könnte (wenn er nicht zu sehr knackst und knistert). Und es gibt auch tolle Neo-Tangos, zu denen es Spaß macht zu tanzen. Aber zwischen diesen beiden Extremen gibt es sooooo viele wunderschöne Tangos.....ich glaube, ich muss doch mal selber eine Milonga veranstalten. Ich fürchte nur, dass da fast niemand kommt. Aber ich muss ja zum Glück nicht davon leben.
      Liebe Grüße
      Carmen

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    3. Du beschreibst exakt unsere Situation mit der Wohnzimmer-Milonga!

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    4. Dein Konzept von Musik mit "Tango-DNA" ist mir klar, Gerhard. Das ist eine Nische, so wie Jazz. Super Sache und wenn man das mag muss man Angebote aktiv suchen. Ich wechsele da im Autoradio eher den Sender.

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    5. Ich wäre glücklich, wenn "meine" Sparte der Tangomusik ähnlich populär wäre wie der Jazz. Bei der Künstlersozialkasse sind über 4500 Jazzmusiker gemeldet. Dürften beim Tango etwas weniger sein.

      Im Auto höre ich übrigens ausschließlich Nachrichten.

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