Nach der Krise: „Und tschüss“?
In der Facebook-Gruppe, aus welcher man
nicht zitieren darf, gab es kürzlich eine sehr interessante Frage:
In
Zeiten hitziger Corona Debatten, so
eine Tänzerin, lerne sie einige Menschen aus der Tangoszene von einer ganz
anderen Seite kennen. Manche überraschten sie positiv, über andere schüttle sie
innerlich den Kopf. Könne man sich nach solchen negativen Erfahrungen noch in eine Umarmung mit Menschen begeben,
welche völlig andere Werte
verträten?
Die
Kommentare decken – wie zu erwarten –
ein weites Spektrum ab: vereinfacht
gesagt von ist doch wurst, Hauptsache
tanzen bis zu nein, da gibt es schon Grenzen.
Klar,
gerade in der ersten Phase der Corona-Krise
ging es im Tango-Internet schon heftig zu: Wer nicht sofort in die beginnende Hysterie einstimmte, wurde oft hemmungslos attackiert – bis hin zur
Drohung, Unvorsichtige bei unserem Tanz müssten sofort polizeilich angezeigt werden. Corona-Blockwarte übernahmen das
Kommando, auf gewissen FB-Seiten war die Meinungsfreiheit
praktisch ausgesetzt: Wer zur vernünftigen Abwägung der Gefahren riet, dem wurde so lange mit Beschimpfungen zugesetzt,
bis er aufgab.
Noch
heute gibt es Tango-Senioren, welche angstvoll täglich mehrere Corona-Statistiken posten, da sie sich als
Angehörige von Risiko-Gruppen
andauernd in der Gefahr wähnen, von Unvorsichtigen per Anhuster gemeuchelt zu
werden. Die Erkenntnis, dass sie sich mit ständigen negativen Gedanken das Restleben umso mehr versauen, steht bei ihnen
noch aus.
Und, by the way: Nein, keiner, der nun für maßvolle Lockerungen plädiert, will gleich das „Leben der alten Menschen opfern"! Vielleicht könnten wir mal mit dem unsäglichen Schwarz-Weiß-Getue aufhören.
Da
ich auch zu denen gehörte, welche zur Kühlung
des Kopfes aufriefen, bekam ich natürlich ebenfalls mein Fett ab. Wer es nachlesen
möchte: Auf meinem Blog gibt es nun
ein eigenes Label zum Thema:
Daher
würde ich die obige Fragestellerin schon einmal trösten: Wer zum Tango kritisch-satirische
Texte, gar Bücher, veröffentlicht, braucht kein Corona-Virus, um die Bandbreite von Charakteren in Gottes
großem Tiergarten kennenzulernen.
Gegen
mich wurden schon aus harmloseren
Gründen Bannflüche und verbale
Todesstrafen verhängt: Wegen Schmähung von Tango-Traditionen,
Encuentro-Tänzern, Veranstaltern, DJs, Tangolehrern, Bloggern, Machos, Übergewichtigen
und Verschwörungstheoretikern. Nun halt auch wegen schrecklicher Verharmlosung der Corona-Gefahren. Aber auch beim Danebenbenehmen gibt es halt
räumliche Grenzen: Mehr daneben geht dann nicht.
Journalismus
wird derzeit auch bei uns immer gefährlicher – die jüngsten Angriffe auf Fernsehteams von ARD und ZDF zeigen es. Für einen Tangoblogger
liegt die Obergrenze momentan darin, auf Facebook als „Penner“ oder „Arschloch“
tituliert zu werden. Und diese verbalen oder physischen Schläger
halten sich ja für Leute, die an der Rettung der Menschheit arbeiten… Sie fordern Grundrechte ein, die selbstredend nur für sie allein gelten sollen.
Glücklicherweise
habe ich immer wieder festgestellt: Zwischen den Spinner-Kohorten im Internet und den realen Tangomenschen liegen Welten. Leider ist das vielen nicht
klar. Wenn mich dann beispielsweise eine Tango-DJane auf Facebook ihrem Fanclub
zum Fraß vorwirft und dafür 50 Likes erhält, halten viele Leser dies für eine Mehrheit. Die Realität hat mir bewiesen: Nein,
ist es nicht, im Gegenteil – und nicht mal alle aus der Daumenheber-Fraktion
meinen es ernst.
Weiterhin
begrüße ich es, dass die überwältigende Mehrzahl auf den Milongas durchaus
kapiert hat, dass ein Unterschied
zwischen dem Autor Gerhard Riedl und
dem gleichnamigen privaten Besucher
von Tanzveranstaltungen besteht. Oder sie kennen den Verfasser von Texten gar
nicht respektive interessieren sich kein bisschen dafür, was er schreibt. Gut
so! Kontroversen führe ich ausschließlich
in digitaler Form – als analoger Gast bemühe ich mich,
bescheiden und freundlich aufzutreten.
Mir
geht es umgekehrt ebenso: Wenn ich mit jemandem tanzen möchte, interessiert
mich ausschließlich sein Verhalten auf
der Milonga. Freundlichkeit und
vor allem Aufgeschlossenheit sind
mir besonders wichtig. Was der oder die Betreffende ansonsten privat oder beruflich treibt, ist mir völlig egal, ebenso, wie sich seine bzw. ihre politische oder weltanschauliche
Haltung gestaltet.
Daher
fand ich schon immer, die Beziehungen auf den Tangoevents gingen viel zu sehr ins Private. Da sieht man Männer, die
sich neben eine sie offenbar interessierende Dame setzen und halbstündige Unterhaltungen
provozieren. Oder ich bekomme selber von anderen einen Wust an Tratsch und
sonstigen Neuigkeiten, auf die ich lieber verzichtet hätte. (Klar, als Blogger
freut man sich gelegentlich über irre Geschichten – aber die kann man eh nur
anonymisiert verwenden.) Eigentlich bin ich halt zum Tanzen da…
Die
Gefahr ist: Je mehr man über einen Menschen erfährt, desto schneller kommt man
auf eine Eigenschaft oder Ansicht, die einen ziemlich abtörnt. O Gott, was die da meint oder treibt, hätte man nie
vermutet – wie furchtbar! Ein guter Motor für die Aufrechterhaltung der Toleranz ist der Mangel an Informationen, für den ich stark plädiere.
Aber
wenn ich es denn weiß, kann ich trotzdem mit Vielem leben: Na, dann soll die Dame halt auf Códigos, historische
Musik, Sektengurus, Bachblüten, Globuli oder Heilsteine schwören oder von mir
aus von Bill Gates als Schädling respektive der Flachheit der Erde überzeugt sein. Jeder Jeck ist anders…
Auf
jeden Fall aber kein Grund, nicht
mit ihr zu tanzen. Anders läge der Fall, wenn sie nun den Tango dazu einsetzen würde, mich als Anhänger
ihrer abstrusen Vorstellungen zu keilen. (Ich renne auf den Milongas auch nicht
mit Buchflyern herum.) Unser Tanz wird schon für viel zu viel missbraucht. Da würde ich sicher auf Abstand gehen.
Dennoch
erwarte ich nicht, in der Praxis auf
solche Probleme zu stoßen – schon deshalb, weil die ganzen digitalen Maulhelden, die mich immer wieder angreifen, zu mehr als 90 Prozent männlich sind. Und mit denen
will ich eh nicht unbedingt tanzen.
Es
ist für mich kein reiner Zufall, dass Länder mit weiblichen Regierungschefs (z.B. Norwegen, Neuseeland, Dänemark,
Taiwan, Finnland, Island und Deutschland) bislang besser durch die Krise kommen
als Staaten, an deren Spitze ein gnadenloser
Alpharüde (wie Trump, Johnson, Putin, Erdogan oder Bolsonaro) steht.
Frauen
sehen in Krisen vor allem die Herausforderung,
Probleme zu lösen – Männer dagegen
wollen den Herausforderern Probleme
bereiten.
Zurück
zur Ausgangsfrage: Wo sollte man im
Tango dennoch einen Schlussstrich
ziehen? Ich meine, unser Grundgesetz
beantwortet uns das schon in seinem ersten Artikel: wo die Menschenwürde verletzt wird.
Als
Satiriker sage ich gerne (und auf
Wunsch auch noch hundert Mal): Argumente dürfen scharf, ironisch, auch
überspitzt ausgetauscht werden. Bei wichtigen
Themen muss das wohl sogar sein. Die Grenze
liegt für mich da, wo es vorwiegend oder nur noch darum geht, den Gegner persönlich herunterzumachen.
Ich
habe beispielsweise nicht erst in der Corona-Krise erlebt, dass gewisse
Zeitgenossen offen mit meinem bald
bevorstehenden Tod spekuliert haben. Das lasse ich niemandem durchgehen – ich
werde an solche Ausfälle immer wieder erinnern. Wie Kurt Tucholsky einmal schrieb: Man
sucht seine Gegner nicht im Bett auf. Erst recht nicht im Krankenbett.
Glücklicherweise
begegne ich solchen Menschen im realen
Leben kaum – es gibt schließlich
Milongas, wo sie sich nicht wohl fühlen, weil dort zu viele Freiheiten herrschen.
Daher:
Mit etwas mehr Sensibilität hätte
die obige Fragestellerin diese Zeitgenossen schon vor der Krise entdecken
können. Es war doch absehbar, was passiert, wenn man ein Hobby mit folgenden Versprechungen
bewirbt:
·
ausschließlich
auf Traditionen begründet
·
absolut
sicher durch strenge Regeln
·
hierarchische
Ordnung
·
körperliche
Nähe zum anderen Geschlecht ist Voraussetzung
·
Wiederkehr
längst abgebauter männlicher Vorrechte
Prima,
und dieses Volk haben wir nun seit Jahren im Tango an der Backe…
Da könnte sich nach Corona ein fallweiser Abschied schon empfehlen – nur: „Tschüss“
erscheint mir dabei als zu preußisch. Ich tendiere zu „Servus“:
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