Als wir noch auf den Milongas lernten


Das folgende Interview ergab sich völlig zufällig: Birgit, eine langjährige Tangofreundin und häufiger Gast unserer Wohnzimmer-Milonga, hatte kürzlich ihren Besuch angekündigt.

Obwohl wir schon oft und sehr gern miteinander getanzt haben, wusste ich bislang nicht viel über ihr sonstiges „Tangoleben“ und über das restliche Leben kaum etwas. Dank Corona war nun Zeit für eine längere Plauderei darüber, die so spannend wurde, dass ich sie spontan fragte, ob ich unser Gespräch aufzeichnen dürfe. Die Tonaufnahme habe ich etwas bearbeitet und Birgit gegenlesen lassen. Ich bedanke mich ganz herzlich für ihr Einverständnis, das Interview hier veröffentlichen zu dürfen:

Gerhard: Wir haben gerade nachgerechnet, wie lange Du schon beim Tango bist…

Birgit: Mit 31 habe ich angefangen, jetzt bin ich 46 – also 15 Jahre.

Gerhard: Und welche Umstände haben Dich zum Tango gebracht?

Birgit (lacht): Also, ich erzähl jetzt einfach mal: Ich war 15 Jahre mit meinem Freund zusammen, und nach langem Ringen habe ich die Beziehung beendet – ich war in einer sehr tiefen Lebenskrise.

Ein Jahr später – ich war damals ein typisches Weibchen, bin nie selber Auto gefahren, hatte vor vielem Angst – beschloss ich, etwas zu lernen. Ich muss immer etwas Neues lernen, das war schon als Kind so. Also wollte ich an der VHS Schwedisch  lernen. Und als ich das Programmheft durchblätterte, fiel mein Blick auf das Bild eines Tangopaars. Der Tanzlehrer Ralf Sartori gab in Ingolstadt Tangounterricht.

Ich wusste plötzlich: Ich muss diesen Kurs machen, ich muss das tun! Dabei hatte ich noch nie etwas mit Tanzen gemacht. Und ich wusste gar nicht, warum, denn Paartanz war für mich „Mumienschieben“, voll bescheuert, was für alte Leute.

Gerhard: Einen Schüler-Tanzkurs hast Du nie gemacht?

Birgit: Nein, entsetzlich! Ich war eh immer so burschikos unterwegs. Dann habe ich mich angemeldet und gesagt, ich brauche einen Tanzpartner. Ich leitete damals ein Improvisationstheater, und da wollte ein Italiener mitmachen. Den habe ich dann angerufen und gefragt: Machst Du mit mir einen Tango-Tanzkurs? Und obwohl wir uns noch nie gesehen hatten, meinte er: Ja, gut!

Er war aber ein ganz schrecklicher Tanzpartner. Ich dachte, Italiener sind locker – aber das war der volle Techniker! So nach dem Motto: Okay, das kann ich – Nächstes! Das war eine Tango-Maschine. Der hat in einem Lokal ein Toastbrot ganz exakt in vier Viertel geschnitten, so hat der gegessen.

Gerhard: Na ja, Vierviertel passt ja zum Tango… Ich nehme mal an, mit dem hast Du nicht weiter getanzt.

Birgit: Nein, ich hab eh nur diesen einen Kurs gemacht.
Aber es war die erste Sekunde, das allererste Mal, wo ich da mit diesem Partner gestanden bin, war das für mich… Wusch! Es war Liebe auf den ersten Blick, obwohl eigentlich die Umstände ganz schrecklich waren: der Tanzlehrer, der Partner… Aber es war Wahnsinn, von Anfang an. 

Gerhard: Und wie ging es dann weiter?

Birgit: Ich war sofort süchtig. Nach der ersten Tanzstunde erfuhr ich von einer Freundin, es gebe in Eichstätt Tango – und wir beschlossen, am nächsten Wochenende dort hinzufahren. Ich konnte nichts und wusste gar nicht, was man dort anzieht. Dann habe ich mir von meiner Schwester einen komischen Rock ausgeliehen, komische Schuhe – ich hab mich ganz schrecklich damit gefühlt, passt gar nicht zu mir, aber das war mir wurscht. Und ich hatte große Angst, in so eine Art Disco zu geraten.
Aber ich habe den ganzen Abend durchgetanzt! 

Gerhard: Auf der Basis von einem Anfängerkurs?

Birgit: Von einer Stunde! (lacht) Ich wollte ja sofort loslegen! Ich habe das Tanzen eigentlich hauptsächlich auf Milongas gelernt.
Das war toll, dass es klappt, auch wenn man nichts kann – und je weniger man denkt, desto besser klappt’s. Die waren natürlich alle neugierig, und ich war noch jung und ansprechend – und es war spannend und überraschend, dass ich mich darauf einlassen konnte. Das hat wirklich mein Leben verändert.
Am Anfang war das nicht ganz gesund, eher so eine Sucht. Aber irgendwann hat sich diese fast schon ungesunde Abhängigkeit vom Tango wieder gegeben.
Und es hatte mit Mann und Frau zu tun, mit Erotik – und ich hatte Angst vor Männern, vor Nähe, habe nicht so gute Erfahrungen damit... Mein Unterbewusstsein sagte mir aber ganz klar: Das ist eine Übung, in einem sicheren Rahmen, wo ich eine Annäherung ausprobieren kann – und es kann nichts passieren. Im Prinzip war Tango eine Therapie für mich.
Ich darf mich weiblich anziehen, ohne dass etwas passieren kann, denn sonst bin ja ich schuld, falls „etwas“ passiert.

Gerhard: Und Du hast Deinen Aktionsradius erweitert?

Birgit: Ja. Obwohl ich Angst vor dem Fahren hatte, habe ich mir ein Vierteljahr später ein Auto gekauft, damit ich auf viele Milongas gehen konnte. Man kann durch den Tango allein Städte besuchen und allein ausgehen, ohne sich komisch zu fühlen. Aber man braucht eine hohe Frustrationstoleranz: Das erste Mal in München hat kein Einziger mit mir getanzt.

Gerhard: Solche Erlebnisse gab es also auch?

Birgit: Ganz viele. Komischerweise auch auf Milongas, wo ich zuvor sehr viel „betanzt“ wurde. Und dann, nach einer längeren Tanz-Pause (Auslandaufenthalt, Kind), war ich plötzlich abgemeldet. In Regensburg und auch in Ingolstadt war dies der Fall.

Beim Tango wird oft ziemlich böse geredet. Was ich da schon für Geschichten über mich gehört habe…Aber das ist mir wurscht. Mit den Leuten, die da Gerüchte pflegen und hegen, habe ich ohnehin keinen freundschaftlichen Kontakt.

Irgendwann standen dann Musik und Bewegung im Vordergrund. Das ist, was ich bei Euch so schön finde: Man merkt ja auch beim Partner dessen Schwerpunkt, und wenn man übereinstimmt, wenn er frei ist im Denken, nicht in Falsch oder Richtig unterscheidet – das ist in dem Moment für mich Glück, oder Freiheit. Da geht es nicht um einen Schritt, eine Figur – mein Körper ist dann die Musik.

Und es gibt so viel Spannendes im Tango, das kann sehr schön sein, oder manchmal auch ganz schrecklich – auch was man über die Menschen lernt, diese ewige Zickerei, das elitäre Gehabe, das Geklüngel, das ist interessant zu beobachten. 

Gerhard: Du bist ja auch Musikerin – hattest Du dann bei der Tangomusik gleich irgendwelche Präferenzen, oder war das erstmal egal, Hauptsache Tango?

Birgit: Das ist ganz komisch… Ich hoffe, dass Ihr mich jetzt noch einladet (lacht): Ich hab mit der Tangomusik nicht viel anfangen können, ist eigentlich überhaupt nicht mein Ding – aber in dem Moment, wo ich sie tanze, schon. Ich mag alles, was einen interessanten Rhythmus hat, teilweise schräg ist. Tango ist schon eine anspruchsvolle Musik. Er hat sehr viel Spannung, überraschende Brüche, oft unberechenbar. Besonders die Milonga. Aber ich weiß nicht, wie die ganzen Titel heißen.

Gerhard: Du warst auch mal länger in Argentinien?

Birgit: Ich wollte ein berufliches Auslandsjahr machen, möglichst in einem außereuropäischen Land. Dabei ging es mir gar nicht speziell um Argentinien, und ich war auch nur kurz in Buenos Aires, länger dafür in Cordoba, auch in Uruguay, in Montevideo.
Das Niveau war außerhalb von Buenos Aires eher schlecht, die Männer tanzten ziemlich gewalttätig. Da gibt es viele Tanzlehrer, die es nicht wirklich können…

Gerhard: Wo nicht…

Birgit: Aber irgendwie tanzen die schon anders, das sind keine Figurentänzer, nicht so eitel – nach meiner persönlichen Erfahrung. Da gibt es schon welche, die sehr fein tanzen, irgendwie kleiner und bescheidener. Ich habe die Führung am Anfang gar nicht mitbekommen. Die Deutschen haben immer einen Plan, die Argentinier nie…

Gerhard: Nicht nur beim Tango… Du hast vorhin etwas über die Männerrollen dort und bei uns erzählt?

Birgit: Die Männer dort sind irgendwie klarer, sagen, was sie wollen. Da geht viel mehr über den Blickkontakt, schon beim Auffordern. Dann wirst Du vielleicht zu einem Café eingeladen, und wenn jemand mehr will, Du oder er, dann sagt er das. Und wenn Du nein sagst, ist der nicht beleidigt, sondern bedankt sich für die Zeit. Ich fand das total entspannend.

Gerhard: Und die Deutschen?

Birgit: Schwer zu beschreiben… Angemacht zu werden ist ja zunächst nichts Schlimmes, aber so „aus Versehen“ ein wenig antatschen: Wenn ich es nicht will, ist es mir unangenehm, aber ich kann schlecht schimpfen, weil es war ja vielleicht keine Absicht, das ist so schwer greifbar. Schwierig für mich, damit umzugehen. Sie haben Angst vor einer Abfuhr. Klar, es ist für ihn eine Niederlage. Er könnte aber auch froh sein, dass wir uns einfach unterhalten haben. Ich kann ihn ja als Mensch schätzen, aber von ihm als Mann will ich halt nichts.

Gerhard: In den letzten Jahren warst Du alleinerziehende und berufstätige Mutter. Was ist vom Tango geblieben?

Birgit: Wenig. Ich kann selten weg, weil ich nicht oft jemanden zur Betreuung meines Kindes habe.

Gerhard: Du würdest schon gerne mehr tanzen?

Birgit: Klar, die Leidenschaft kommt in dem Moment, wo ich wieder tanze. Weil es etwas Körperliches ist – und der Körper ist schlauer als der Geist, er vergisst nichts. Und es ist unmittelbarer, der Körper kann auch nicht lügen. Das ist so hundertprozentig direkt.

Gerhard: Zum Abschluss – was sind die Glücksmomente, die Dich immer wieder zum Tango ziehen?

Birgit: Schwierig – das hat sich gewandelt. Am Anfang sicher die Annäherung Mann-Frau, dieses Beschütztsein. Aber der Kern, der immer noch da ist: Tango ist Improvisation, ist nichts, was ich mit dem Kopf lernen muss. Dieses Agieren und Reagieren ist spannend und aufregend, wie das Leben. Und immer wieder anders,. Dazu kommt das Musikalische.
Hier bei euch habe ich eigentlich das Wichtigste gelernt, denn vorher war ich im „Falsch-Richtig-Modus“: Dass ich auch etwas machen kann, mal die Führung übernehmen – und wenn ich es nicht mache, tut es der oder die andere. Dieses Spielen war für mich eine neue Perspektive.
Es ist dieses Sich Hineinbegeben, sich voll einlassen in einen Moment, diesen Glücksmoment. Es ist immer Gegenwart, wo hat man das sonst schon!
  
Gerhard: Liebe Birgit, herzlichen Dank für dieses Gespräch.

***

Was mich an dem Interview besonders freut: Ich bin ja immer auf der Suche nach „O-Tönen“, insbesondere von Tänzerinnen. Frauen melden sich im Tango leider ziemlich selten zu Wort. Öfters erhalte ich ellenlange E-Mails mit hochinteressanten Geschichten aus weiblicher Sicht – aber meist mit dem Vermerk: nur privat, nicht zur Veröffentlichung!

Umso dankbarer bin ich Birgit, dass sie mir erlaubt, diese ziemlich persönlichen Aussagen zu publizieren. Sie beschreibt eine Welt, die im heutigen Tango weitgehend vergessen ist. Wer in den letzten Jahren erst angefangen hat, wird meist durch ein langes Kurssystem geschickt, weitgehend vom Kopf her ausgebildet. Die intuitive Annäherung an diesen Tanz, wie wir sie früher erlebten, kommt da wenig vor.

Tango kann aber auch ganz anders gehen, als man heute behauptet. Momentan wäre viel Zeit, auch darüber einmal nachzudenken!


Born to be wild * www.tangofish.de

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