Die Status-Tänzer

Den sehr produktiven Blogger Mark Word habe ich schon einmal vorgestellt:

Da man ihn sicher als Vertreter des konservativen Tango bezeichnen kann, sind manche seiner Erkenntnisse umso überraschender. Kürzlich stolperte ich über einen seiner Texte, der er bereits Ende 2017 veröffentlicht hat. Ein Nachdenken darüber würde sich während der Corona-Zwangspause lohnen.

„Freedom from Status Seeking” – also „Freiheit von der Suche nach Status“ nennt der Autor seinen Artikel.

Wie in solchen Fällen üblich, begann alles mit Klagen seiner Frau: Auf einem Tango-Marathon sei sie praktisch nur herumgesessen, da die anderen sie ignorierten. Daher vermuteten die beiden, keine „Status-Tänzer“ zu sein.

Mark Word versucht nun die Bedeutung des Begriffes zu umreißen, den er erst kürzlich hörte:

Als ein solcher müsse man wohl vor allem den Status der eigenen Tanzpartner beachten: Seien diese rangmäßig zu niedrig (also zum Beispiel Anfänger oder in der Szene Unbekannte), könne das die eigene Position erniedrigen. Entscheidend seien Aussehen und Leistung. Natürlich verzichte man so auf überraschende Bekanntschaften und die Entdeckung verborgener „Tango-Schätze“.

Solche Tangoleute vermieden peinlich jeden Augenkontakt außerhalb des Kreises exzellent Tanzender, um von solchen Menschen nicht aufgefordert zu werden. Das tue der Autor zwar auch, aber lediglich, indem er auf den Cabeceo bestehe. Ansonsten sei er nett und freundlich zu allen, könne sich halt aber nicht mit jedem Einzelnen abgeben.

Status-Tänzer seien Tangokenner mit selektivem Geschmack, was ja zunächst nichts Schlechtes sei.  Man könne von ihnen lernen, auf die individuell bevorzugte Musik, die dazu passende Tänzerin zu warten. Freilich könne dies für den Schreiber auch eine Frau sein, die zu lange gesessen habe oder halt in der Szene unbekannt sei und daher außen vor bleibe.

Mark Word plädiert dafür, im Tango „ohne Status zu überleben“ – denn der könne sich durch verschiedenste Einflüsse rapide ändern: zunehmendes Alter, sich ändernder Geschmack oder Umbrüche in der Gemeinschaft. Dies führe sonst vielleicht dazu, dass ein Status-Tänzer eines Tages das Handtuch werfe.

Der Autor zeigt in einer schönen Anekdote den Unterschied zwischen Tango-Promi und Status-Tänzer:

Auf einem Tango-Marathon machte ihn ein populärer DJ, den er aber nicht persönlich kannte, auf eine Tänzerin aufmerksam: „Siehst du diese Frau dort drüben? Sie sieht dich an. Tanz mit ihr. Sie ist eine großartige Tänzerin mit einer wunderbaren Umarmung.“ Der Autor klärte den DJ später auf: „Das war meine Frau. Danke, dass du mich darauf hingewiesen hast!"

Mark Words Schlussfolgerung: „Er kümmerte sich um mich und ‚diese Frau, die dort drüben sitzt‘. Er nahm sich um zweier neuer Stammesmitglieder an, die er zuvor noch nie getroffen hatte. Obwohl er DJ, Organisator und Tangolehrer war, war er nach meiner Definition kein Statustänzer.“

Na gut – vielleicht hätte der DJ auch mal selber mit dieser Dame tanzen können – aber wir wollen nicht zu verwegen werden…

Mark Word, der den Text zusammen mit seiner Gemahlin verfasste, stellt abschließend fest:

„Als wir uns eingehender mit diesem Thema befassten, stellten wir fest, dass all das Talent, das gute Aussehen und die Jugend eines Tänzers nur oberflächliche Anzeichen dafür sind, dass jemand ein Statustänzer ist. Sobald eine Person alle anderen auf der Milonga gleichermaßen mit Charme, Freundlichkeit und Offenheit gegenüber Außenstehenden behandelt, ist sie nicht mehr im Status. Der Versuch, anderen zu helfen, einen Tanz zu bekommen, ist ein Beispiel für sozialen Tango, bei dem der Status kein Thema ist. Eine Person wie diese mag Talent, gutes Aussehen und viele Freunde haben, ist aber dennoch die Zierde einer Milonga und hat sich von der Sackgasse der Statussuche befreit.“

Hier der Original-Text:

Man merkt schon, dass der Autor auch bei diesem Thema ziemlich dem traditionellen Denken verhaftet ist – nicht nur hinsichtlich des Cabeceo, der mal wieder zum „Tango-Heilmittel“ erhoben wird. Dennoch ist er mit seinen Ideen meiner Meinung nach schon relativ nahe an der Wahrheit: Besser als nichts, könnte man sagen.

Ich sehe das Problem aber umfassender. Der Mensch ist halt genetisch auf die Suche nach Rangordnungen fixiert – da, wo sich viele Individuen zu gemeinsamem Tun versammeln, erhebt sich fast automatisch die Frage: Wer hat hier das Sagen – und wer ganz bestimmt nicht? Das werden wir nicht ändern können.

Ein Ansatz wäre jedoch schon einmal, auf größere Menschenansammlungen zu verzichten. Wie wir derzeit sehen, ist dies durch ein Pandemie-Virus mühelos möglich. In kleineren Gruppen ist dann die Rangfolge wenigstens individualisiert. Es geht dann mehr um persönliche, speziell charakterliche Qualitäten und nicht mehr um allgemeine Attribute wie Aussehen, tänzerische Leistung oder gar Berühmtheit in der Szene.

Zweifellos wird es im Tango noch lange keine großen Milongas oder gar Festivals geben, wird er sich mehr auf private Treffen beschränken. Daher dürfte seine Attraktivität auf Menschen leiden, die in ihm ein Vehikel für Selbstbestätigung sehen, eine Möglichkeit, über andere zu herrschen. Hierfür ist nämlich ein größeres Publikum nötig. Daher, so hoffe ich, könnten uns die schlimmsten Figuren zukünftig erspart bleiben.

Was man allerdings verändern könnte, sind die Qualitäten, die ein „Alpha-Tier“ aufweisen soll. Nur für Amateur-Biologen gilt ja, dass sich laut Darwin „der Stärkere durchsetzt“. In Wahrheit spricht die Evolutionstheorie vom „survival of the fittest“, also dem „Überleben der am besten Angepassten“. Auch im Tierreich gilt für den Anführer des Rudels nicht die bloße Körperkraft, sondern auch Erfahrung, Schärfe der Sinne, gute Orientierung und Intelligenz.

So könnten wir auch im Tango vom Führungspersonal verlangen, dass es statt gutem Aussehen, herausragenden tänzerischen Fähigkeiten, Lexikon-Fachwissen oder dominantem Gebaren ganz andere Attribute zeigt: Vor allem soziale Intelligenz, die dazu führt, die Gemeinschaft zusammenzuhalten, dafür zu sorgen, dass alle zum Tanzen kommen und sich wohlfühlen.

Wer dagegen in unserem Tanz nur sein Ego pflegt und ein diskriminierendes Verhalten zeigt, könnte dann auf der Omega-Position landen. Alphas sind nämlich darauf angewiesen, dass der Rest sie akzeptiert. Es hängt also von uns allen ab.

Die Gastgeber von Milongas trifft hier eine besondere Verantwortung – gerade in diesen Zeiten, wo Tango wohl eher in kleineren Gruppen und privater Atmosphäre wieder beginnen wird. Ein Nachdenken darüber würde sich lohnen, so lange der übliche Tango-Betrieb noch ruht. Dann könnten sich entsprechende Verhaltensweisen etablieren und auch bestehen bleiben, wenn es wieder „Normalität“ gibt.

Schon vor dem Corona-Einbruch kannte ich eine Reihe solcher Veranstaltungen. Bei unserer eigenen Wohnzimmer-Milonga waren wir seit Jahren entschlossen, niemanden zu akzeptieren, der sich mit „Exklusivität“ profilieren wollte, indem er etwa Tanzpartner ausschloss.  Unsere Erfahrung war aber: Solche Leute verirrten sich so gut wie nie zu uns. Mit anderen Worten: Die wissen genau, wo sie ihre Spielchen treiben können und wo nicht.

Signalisieren wir ihnen doch: Mit uns nicht!

Es könnte dem Tango als Gesellschaftstanz eine neue Qualität verleihen.   

P.S. Noch eine amüsante Einführung in die Gruppenpsychologie:


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