Gewogen, gemessen…
Die
argentinische Organisation „Tango
Tecnica“, welche Daten über den Tango
argentino zusammenstellt, hat 2014 eine bemerkenswerte Statistik herausgegeben.
An
der Befragung nahmen knapp 1300
Menschen aus der Tangoszene teil: 62 % aus Südamerika (allein 43 %
Argentinier), 24 % Europäer und 13 % Nordamerikaner.
Die
Geschlechterverteilung war einigermaßen tangotypisch: 55 % Frauen und 45 %
Männer. Altersmäßig schlagen allerdings die relativ jungen Szenen aus Mittel-
und Südamerika zu Buche: 52 % der Befragten waren höchsten 40 Jahre alt, über
50 Jahre dagegen nur 29 %.
Mein
ganz herzlicher Dank geht hierbei an den Bloggerkollegen Yokoito, welcher diese Quelle jüngst anzapfte und einen Artikel
darüber veröffentlichte:
Da
er zu den statistischen Fragen und Problemen bereits informiert hat,
möchte ich mich auf eine etwas detaillierte Darstellung der Ergebnisse beschränken:
Welche Milongas ziehen
die meisten Besucher an? Sozial am stärksten wiegt hier wohl das Tanzlevel (82 %),
dicht gefolgt von möglichst großer Besucherzahl (81 %), also der Chance, mehr
Partner aufzufordern.
Zur
Infrastruktur einer Milonga findet
man die Dimension des Parketts (90 %) am wichtigsten, gefolgt von guter Kühlung
im Sommer (88 %).
Beim
Thema „Kundendienst“ steht der DJ an
erster Stelle (98 %), an zweiter der Service (82 %).
Live-Musik ja oder
nein?
Hier ist die Szene zu jeweils 50 % gespalten. Bei höherem Alter geht die
Tendenz eher in Richtung Ablehnung.
„Pärchenwirtschaft“ ist international
kein Thema: Nur 13 % tanzen ausschließlich mit dem eigenen Partner!
Das
Hauptproblem von Anfängern ist,
keinen Tanzpartner zu finden (55 %) – dies wird mehrheitlich von Frauen
geäußert (62 %). Das Argument „Ich glaube
nicht, dass ich eine Begabung für’s Tanzen habe“ (17 %) kommt dagegen zu 90
% von Männern!
Bei
der Frage nach dem effektivsten
Tangolehrer steht Javier Rodríguez
(16 %) an der Spitze. Unter den 100 am häufigsten genannten Namen ist kein
einziger Deutscher, die erdrückende Mehrheit bilden Südamerikaner.
Bei
der Frage nach der musikalischen
Vorliebe standen Tango, Milonga, Vals und „Alternative Tango“ zur Auswahl. Der Trend zum „Modernen“ ist bei
den 18- bis 30-Jährigen mit 8 % am höchsten, bei den über 70-Jährigen beträgt
er 0 %.
Bei
den beliebtesten Orchestern (50
erfasste Nennungen) führt D‘ Arienzo
mit 81 %, gefolgt von Di Sarli (78 %)
und Pugliese (73 %). Von den
moderneren Ensembles belegt das Sexteto
Milonguero den 13. Platz (35 %), gefolgt von Color Tango (28 %) auf Rang 15 – noch vor dem bei uns häufig gespielten
Orquesta Tipica Victor (Rang 17 mit
25 %). Piazzolla schafft es immerhin
auf Platz 22 (22 %).
Das
Sexteto Milonguero ist am
gefragtesten in Südamerika (69 %), am wenigsten gewünscht in Europa (16 %).
Der
beliebteste Tangotitel weltweit ist „Poema“ (18 %), gefolgt von „Bahía Blanca“ (16 %) und „Desde el Alma“ (15 %).
Was ist das
wichtigste Attribut, das man sich bei einem Tanzpartner wünscht? Hierbei sind sich
Männer und Frauen ziemlich einig: Eine „nette
und gepflegte Erscheinung“ hält den Spitzenrang (38 % aus Sicht der Tänzer
und sogar 51 % bei den Tangueras). An zweiter Stelle maßgebend ist das Tanzniveau
(für 32 % der Damen und 36 % der Herren).
Was stört einen
besonders an einem Tanzpartner? In der bei uns wohl häufigsten Altersstufe
(51-60 Jahre) an allererster Stelle bei beiden Geschlechtern „mangelnde Körperhygiene“ (49 % der
Männer und 56 % der Frauen). An zweiter Stelle landet für die Herren „ihr Tanz ist unbequem für mich“ (48 %)
bzw. bei den Damen „versucht, mein
Tanzen zu korrigieren“ (53 %). Der zu niedrige Tanzlevel kommt immerhin auf
Platz 4 (46 %) aus männlicher und Platz 3 (51 %) aus weiblicher Perspektive.
Andere
Länder, andere Sitten: Tatsächlich beschweren sich 22 % der Tänzer (Rang 8) und
37 % der Tänzerinnen (Rang 7), ihr Partner sei betrunken!
Dürfen auch Frauen
auffordern?
Hier konnten sich die Befragten zwischen „völlig
einverstanden“, „gar nicht dafür“
und „keine klare Meinung“ entscheiden.
In Europa bejahen die weibliche Aufforderung an die 70 % – aber selbst in
Argentinien noch 50 %. Zwischen 5 und 15 % der Europäer sind strikt dagegen –
im Mutterland des Tango 11 %. Die höchste Rate der Ablehnung findet man in
Nordamerika (33 %) – dort finden nur 41 % die Einladung durch eine Frau ok.
Tendenziell
steigt die emanzipatorische Zustimmung mit sinkendem Alter!
Und wie sollte die
Aufforderung erfolgen: per Cabeceo, verbal oder beides je nach Situation? Auch
hier haben wieder die Nordamerikaner die strengsten Vorstellungen: 57 %
schwören auf den Blickkontakt, 43 % überlassen es der Situation. Die reine
Aufforderung am Tisch hat null Anhänger!
Europäer
votieren zu gut 40 % für den Cabeceo, die verbale Tanzeinladung favorisieren um
die 5 %, über 50 % sind für „je nachdem“.
In
Argentinien dagegen findet der pure Blick zum Auffordern nur 25 % Anhänger (!),
23 % fordern lieber in Worten auf, 53 % situationsgemäß.
Ganz
unpopulär ist der Cabeceo in Uruguay und Venezuela (13 bzw. 15 %) – also in den
Ländern mit der altersmäßig jüngsten Tangoszene.
Welche Menschengruppen
gehen zum Tango?
Bei den Männern eher die mit fester Partnerin (47 gegenüber 34 %), bei den
Frauen etwas mehr die Singles (44 zu 41 %). Personen, deren Lebenspartner nicht
tanzt, sind deutlich seltener vertreten: 12 % der Damen und 21 % bei den
Herren.
Bei
Paaren, von denen nur einer tanzt, befürwortet der andere mehrheitlich diese
Beschäftigung (zirka 55 % bei beiden Geschlechtern), möchte aber selber nicht
mitkommen. Von Eifersuchtsszenen berichten gleichermaßen nur etwa 5 %.
Was ist Tango für
Sie?
In der bei uns vorherrschenden Altersgruppe (51-60 Jahre) steht auf Platz 1 für
beide Geschlechter die „Umarmung“ (76
%), bei Männern an Platz 2 die „Sinnlichkeit“
(56 %), bei den Frauen die Musikinterpretation (56 %) – „Sinnlichkeit“ folgt erst auf Platz 5 (49 %).
Ganz
schlecht weg kommen „Erotik“ oder gar
„Sexualität“: Bei den Männern landen
solche Gelüste auf Platz 14 und 15 (9 bzw. 2 %), die Frauen gar nennen diese
nur zu je 1 %.
Wieder
macht hier Nordamerika eine Ausnahme: Sex landet da immerhin mit 15 % auf Platz
10, Erotik bei null Prozent!
Reklamieren
die Geilsten auch die strengsten Sitten? Man könnte es fast meinen…
Fazit:
Sicherlich
haben die Herausgeber dieser Untersuchung recht, wenn sie feststellen: „Das Geheimnis der Passion, welche vom Tango
ausgeht, kann und soll nicht statistisch gemessen werden.“
Dennoch
waren die Ergebnisse für mich sehr interessant und teilweise überraschend –
gerade, was Verhaltensnormen und emanzipatorische Fortschritte betrifft: „Códigos“
wie Mirada und Cabeceo werden zwar – in den einzelnen Regionen sehr
unterschiedlich – durchaus als Optionen gesehen. Ein „Alleinvertretungsanspruch“
kommt ihnen jedoch nicht zu.
Die
Musikpräferenzen werden natürlich vor allem davon bestimmt, was man landauf,
landab auf den Milongas hört. Dennoch denkt das tanzende Volk etwas
fortschrittlicher als die veranstaltenden Geschmacksbestimmer (siehe Pugliese,
Sexteto Milonguero, Piazzolla).
Und
vor allem sollte man sich mit sehr konservativen Ansichten nicht auf das „Mekka“
am Rio de la Plata beziehen: Auch und gerade dort sind die Einstellungen
vielfältiger und liberaler, als es uns die heimischen Exegeten vormachen.
Insgesamt
finde ich ein Statement der Autoren dieser Studie sehr überzeugend:
„Tango is a polytheistic religion.”
P.S.
Zum Selbststudium hier der gesamte Report:
http://tangoclay.us/pdf-tc/Report%202014.pdf
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