Das Boreout-Syndrom beim Tango
„Nach der Erwerbstätigenbefragung 2007 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und des Bundesinstitutes für Berufsbildung fühlt sich fast jeder siebte
Mitarbeiter in Deutschland angesichts seiner Qualifikation unterfordert.
Unterforderung, Langeweile und Desinteresse kennzeichnen den Zustand der
Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, den man als Boreout bezeichnet.
‚Ab und zu habe ich für ca. ein oder
zwei Stunden etwas zu tun. Den Rest der Zeit surfe ich im Internet, suche
Schnäppchen in Online-Shops, plane den nächsten Urlaub. Es gibt nichts zu tun.
Was ich tue ist total irrelevant. Mein Telefon klingelt manchmal tagelang
nicht...‘ Dies schreibt eine verzweifelte Teilnehmerin im Forum ‚Boreout‘.“
In der
Arbeitswelt macht ein neues Kunstwort von sich reden: Vom Englischen „bored“ (also „gelangweilt“) abgeleitet, kennzeichnet „Boreout“
die psychische Situation von Beschäftigten, die sich an ihrem Arbeitsplatz
unterfordert fühlen, da sie Fachwissen, Kreativität und Entscheidungsfreude
nicht ausleben können: zu simple Aufgaben, von oben bis ins Detail vorgegebene
Arbeitsabläufe, Beschneidung ihrer Kompetenzen.
Man
vermutet, der Anteil der Betroffenen sei in Wahrheit noch höher. Der Grund: Das
andere Extrem, der bekannte „Burnout“,
wird viel lieber zugegeben, da es in unserer Gesellschaft akzeptierter ist,
sich zu überarbeiten denn gelangweilt am Schreibtisch zu sitzen, private Mails
zu schreiben oder sich mit Ballerspielen wach zu halten. Wer gibt schon gerne
zu, seine Arbeit völlig uninteressant zu finden und damit vielleicht seine
Stelle zu gefährden?
Oft werden
Stress und Vollbeschäftigung nur vorgetäuscht:
Die PC-Tastaturen klappern zu privaten Zwecken, die Arbeitsunterlagen bedecken
nur die aufgeschlagene Zeitschrift, und die Exel-Tabellen stellen in Wahrheit
Preisvergleiche für private Anschaffungen dar.
Wertschätzung für geleistete Arbeit ist Mangelware
– so Philippe Rothlin, der zusammen mit
Autor Peter R. Werder das Buch „Diagnose
Boreout“ geschrieben
hat: „Die Betroffenen fühlen sich
ausgelaugt, unzufrieden und sind frustriert, weil die Anerkennung fehlt, weil
sie ihr Wissen nicht anwenden können."
Dazu kommen
oft unnötig vertikale Hierarchien,
wie der Wirtschaftspsychologe
Christian Dormann von der Universität
Mainz meint: „In Deutschland wird auf der
Arbeit zu viel vorgeschrieben, auch gut ausgebildeten Leuten.“ Man habe
dann zwar genug Aufgaben, entwickle jedoch über kurz oder lang einen
Widerwillen gegen solche Tätigkeiten.
In
diesem Zusammenhang musste ich an einen Text des Tangolehrers Michael G. Kronthaler denken, den ich
kürzlich schon besprochen habe: „Der Tanz wird nicht durch Regeln effizient, musikalisch
und innig. Das ganz natürliche Miteinander sollte für rücksichtsvolles,
höfliches, respektvolles Verhalten sorgen. Solche ‚natürlichen‘ Regeln erzeugen
Empathie und Harmonie.“
Leide ich beim Tango inzwischen am Boreout-Syndrom? Es passt eigentlich alles
zusammen: Die Hierarchien werden immer stärker, Vorschriften regeln auf vielen
Milongas das gesamte Miteinander. Beim Tanzen fühle ich mich unterfordert,
musikalisch und bewegungsmäßig. Und die Wertschätzung? Wenn mir auf dem Parkett
mal eine besonders coole Aktion gelingt, sehe ich sofort die angewiderten
Blicke der „neuen Tangogeneration“ – ihr Tangolehrer hat ihnen schließlich
erzählt, so etwas sei nur „Exhibitionismus“: Die wahre Tanzkunst liege darin,
eben nicht aufzufallen.
Wie dem auch sei – mir ist laaangweilig!!
Und wenn ich die Stimmung auf den üblichen
Milongas richtig deute, stehe ich damit nicht allein.
Aber glücklicherweise kann man ja heute fast
alles testen! Im Internet findet man genügend Fragenkataloge zum Boreout. Ich
habe ein besonders schönes Beispiel auf unseren Tanz adaptiert:
1. Fühlen Sie sich beim Tango grundsätzlich
unterfordert oder gelangweilt?
2. Sind Sie mit dem Tango unterm Strich
eher unglücklich?
3. Denken Sie beim Tanzen öfters an Ihren
Einkaufszettel oder das Essen für den nächsten Tag?
4. Verschicken Sie auf Milongas heimlich
private E-Mails?
5. Tun Sie gelegentlich nur so, als ob
Sie tanzen würden, und warten in Wahrheit sehnsüchtig auf die Cortina?
6. Sind Sie nach einer Milonga erschöpft,
obwohl Sie überhaupt keinen Stress hatten?
7. Vermissen Sie den Sinn, die tiefere
Bedeutung des Tango?
8. Könnten Sie schneller tanzen, als Sie
dies tun?
9. Würden Sie gern woanders Tango tanzen,
scheuen aber den Wechsel?
10. Interessiert Sie der heutige (also der
gestrige) Tango gar nicht oder nur wenig?
Sollten Sie hierbei mindestens fünf Fragen
positiv beantworten müssen, sind Sie vom „Tango-Boreout“
gefährdet! Bei mir waren es sechs...
Was kann man als Betroffener tun? Selbsterkenntnis ist der erste Schritt!
Die „Techniker Krankenkasse“ (TK) empfiehlt, sich folgende Fragen
ehrlich zu beantworten: „Wie viel ist tatsächlich Scheinarbeit? Was ist besonders
langweilig? Und was macht Spaß?“
Eigeninitiative muss folgen: Man
sollte eigene Vorschläge und Ideen mit dem Chef diskutieren und erklären, dass
man sich über neue Aufgaben freuen würde. „Kann
sich ein Betroffener gar nicht mehr motivieren, Energie in seinen Job zu
stecken, ist es Zeit für klare Worte zum Vorgesetzten, um die Arbeitssituation
zu ändern oder für eine berufliche Umorientierung“, heißt es dazu bei der TK.
Kann
man das auf den Tango anwenden? Die Selbsterkenntnis sicherlich: Bleiben Sie
doch mal einen Abend lang zu Hause,
statt wieder zu ihrem Tangostammtisch mit den knisternden Melodien zu gehen!
Rufen Sie in Ruhe eine Playlist
meines Blogs auf (oder „Gerhards Tandas") und lassen Sie sich die genannten Aufnahmen von „Deezer“ oder „YouTube“ vorspielen. Wär das mal was? Noch dazu vielleicht mit
Tänzerinnen, die das umsetzen können und daher noch nie von Ihnen aufgefordert
wurden?
Ob
Sie dagegen Ihre Eigeninitiative an die üblichen Veranstalter oder DJs
verplempern sollten, ist die Frage. Sicherlich könnten Sie Ihnen mitteilen, sie
würden sich über neue, abwechslungsreichere Musik freuen. Nur: In welcher
Sprache?
Ich
empfehle Ihnen daher im Tango, lieber die Firma zu wechseln! Besuchen Sie
hinfort Milongas mit abwechslungsreicher Musik, auch wenn die Fahrtstrecke länger sein sollte!
Aber
Vorsicht: Die hinreißende Musik auf solchen Veranstaltungen könnte im Einzelfall zum Tango-Burnout führen! Aber lieber das,
als gar kein Feuer fangen!
https://www.youtube.com/watch?v=hTKWqrrhmNg
P.S.
Anekdote:
Auf
einer traditionellen Milonga sprach uns neulich, als die Rede vom steigenden
Durchschnittsalter im Tango war, ein Tänzer an: Mit fünfundzwanzig habe er
dieser Musik noch nichts abgewinnen können. Inzwischen aber höre er die ganzen
Feinheiten der EdO-Aufnahmen.
Da ich beim Tanzen keine Diskussionen möchte,
habe ich ihm nicht das geantwortet, was mir auf der Zunge lag: „Das liegt am nachlassenden Hörvermögen beim
Älterwerden! Was man früher als normale Lautstärke empfand, klingt nun wie
interessante Zwischentöne…“
Hallo Gerhard, was du immer für schöne Ideen hast.... �� noch eine Möglichkeit, die wir umgesetzt haben, um dem boreout zu entgehen ist eine eigene Milonga!!! Nach 5 EDO Neolongas ist nun sogar die nächste Neolonga in Wien entstanden vom Kollegen Martin Krake, in der Schwelle 7, sehr coole location (mit Andreaskreuz ��) und abwechslungsreicher Musik.... Es tut sich was in Wien
AntwortenLöschenGanz liebe Grüße und hoffentlich lernen wir uns mal persönlich kennen...
Natürlich ein herzliches Grüßgott von Peter ☺️
Liebe Alessandra,
AntwortenLöschenmit der eigenen Milonga dem Boreout zu entgehen versuchen wir ja auch, in bescheidenem Maße... Immerhin werden wir 2017, wegen der vielen Anmeldungen, zu einem dreiwöchigen Turnus übergehen.
Die Entwicklung in Wien lässt ebenso hoffen!
Ganz herzlichen Dank einmal pauschal für Deine vielfältige Unterstützung unserer Aktivitäten auf Facebook!
Liebe Grüße nach Wien!
Gerhard