Tango für Introvertierte

In einem Diskussionsforum fand ich einen Beitrag, dessen Titel nicht ganz dem Inhalt entspricht: „Ist Tango für einen kompletten Anfänger wie mich zu schwierig?“

Eher schreibt da ein zutiefst schüchterner Mann:

„Ich bin kein sportlicher Mensch. Ich weiß nicht, wie man tanzt, und ich habe das Gefühl, mein Körper sei eingerostet, haha. Ich würde gerne anfangen, Tangounterricht zu nehmen (das ist die einzige ‚Sport‘-Option, die mir zur Verfügung steht), aber ich mache mir Sorgen, dass es zu schwierig und für einen Anfänger wie mich nicht geeignet sein könnte. Die Tatsache, dass es ein ‚Paar‘-Tanz ist, stresst mich ein wenig. Ich weiß, dass ich extrem ungeschickt sein kann, und ich habe Angst, dass die Leute von mir frustriert werden.

Ich bin ein introvertierter, äußerst schüchterner Mensch und möchte es ausprobieren, um zu lernen, wie ich aus meiner Komfortzone herauskomme.

Irgendwelche Ratschläge? Könnten Sie mir sagen, ob das ein Tanz ist, den jemand wie ich schaffen könnte? Oder ist er zu fortgeschritten?“

Wie man an etlichen Kommentaren sieht, sind Menschen dieser Bauart beim Tango wahrlich nicht selten:

„Was mich am Tango fasziniert, ist, dass er nicht zur Schau gestellt wird. Man tanzt nicht für andere. Man tanzt für sich und seinen Partner. Als Introvertierter ist Tango für mich ein gemütliches Gespräch mit einem Partner – genau die Art von Interaktion, in der Introvertierte aufblühen können.“

„Soziales Partnertanzen scheint generell ein Zufluchtsort für viele Introvertierte zu sein. Meine persönliche Theorie, warum das so ist: Weil das Umfeld des Partnertanzes einen Rahmen von ‚Regeln‘ bietet, wie man mit anderen Menschen dort interagieren sollte, sei es das Führen/Folgen des eigentlichen Tanzes, die Formalitäten, wie man um einen Tanz bittet, oder was auch immer. Diese (zumindest relativ) klaren Strukturen können viel von der Angst nehmen, die man haben könnte, wenn man mit Menschen umgeht.“

„Dein Kommentar über die Regeln und Strukturen, die Partnertänze bieten, ist eine interessante Theorie. Mir erlaubt es – abgesehen von diesen relativ klaren Strukturen, die das Tanzen bietet und die helfen können, Angst zu reduzieren – auch zu erleben, wie es sich anfühlen könnte, für eine kurze Zeit ein Extrovertierter zu sein.“

„Eigentlich kenn ich im Tango mehr Introvertierte als in anderen Tanzszenen. Die sind auch super Tänzer.“

„Die soziale Form erfordert keine große Beweglichkeit (Gott sei Dank!). Es basiert hauptsächlich auf Gehen zur Musik mit einem Partner.“

„Die psychologischen Aspekte des Tangos sind herausfordernd. Man muss sehr nah an einer anderen Person stehen, die Absichten des anderen ohne Worte lesen, die Musik interpretieren, ohne sie vorher gehört zu haben, und die Spurdisziplin auf der Tanzfläche einhalten.“

Quelle: https://www.reddit.com/r/tango/comments/1fmz5lq/is_tango_too_difficult_for_a_complete_beginner/?tl=de

Ich glaube, dass es heute gerade sehr schüchterne Menschen zum Tango zieht: Die Musik ist überschaubar und weitgehend bekannt, es gibt klare Verhaltensregeln, mehr als Umarmung, Gehen und ein paar simple Schrittvarianten werden kaum verlangt. Und mit der alles wissenden und könnenden Tangolehrkraft wird ein verlässliches Über-Ich installiert.

Beim Studium dieser Quelle überfiel mich ein schrecklicher Gedanke: Da laufen also im Tango so viele (wohl vor allem männliche) Kontaktproblematiker herum – und auf meinem Blog müssen sie lesen, wie ich die Gepflogenheiten der Szene rauf und runter verblödle – für diese Personengruppe geradezu traumatisch! Daher wohl die teilweise hasserfüllten Kommentare, mit der man meine Satiren begleitet.  

Daher die dringende Triggerwarnung:

Sollten Sie zu dieser Personengruppe gehören – unterlassen Sie das Lesen meiner Artikel – sie könnten bei Ihnen zu schwerwiegenden seelischen Verwerfungen führen!

Bleiben Sie bei Ihrem Glauben, Tango sei sehr einfach zu erlernen, wenn man sich an alle Regeln, Gebote sowie Parkettbenutzungsordnungen hält! Komplizierte Musik und kreative Bewegungen sind Renegaten vorbehalten.

Bin ich selber schüchtern und introvertiert? Im Grundschulalter jedenfalls war ich es: Auch wegen meines extremen Längenwachstums ein blasses, kränkliches Klappergestell und somit der natürliche Feind der damals „Turnlehrer“ genannten Pädagogik-Experten: „Lass dich doch zum Mädchen umoperieren!“ – so der laut geäußerte Rat, als ich mal wieder an der Kletterstange keinen Meter hochkam. Inzwischen könnte man es per Ummeldung beim Standesamt verwirklichen – nicht der einzige Witz meiner Jugendzeit, der inzwischen Realität geworden ist!

Und heute? Wer mich – im Gegensatz zu vielen Kommentatoren meiner Artikel – persönlich kennt, erlebt jemand, der eher leise und zurückhaltend agiert. Vielleicht das sudetendeutsche Erbe…

Nur wenn ich Leute gut kenne, kann das mal ins Gegenteil umschlagen. Oder in einer „Bühnensituation“ – ob beim Unterrichten, Zaubern oder Tanzen. Und was man nicht verstecken kann, muss man ausstellen.

Was hat dem introvertierten, blassen Buben Souveränität und Selbstvertrauen verliehen? Vielleicht auch mein sprachliches Geschick – ich lernte, mich effektiv statt mit Fäusten mit Worten zu wehren. Die können ebenfalls ganz schön wehtun. Und meine schulischen Erfolge verschafften mir auch die Anerkennung meiner Kumpel.

Vor allem aber war es das Tanzen: Seit meiner ersten Kursstunde wusste ich, dass ich mich zur Musik ganz gut bewegen konnte – und die Mädchen mochten das. Was will Mann mehr?

Schüchternheit ist also kein genereller Grund, das Tanzen zu lassen. Die Aktion auf dem Parkett kann die Persönlichkeit positiv verändern. Nur sollte man beim Erklingen von Musik schon das dringende Bedürfnis verspüren, sich zu bewegen.

Ich weiß noch, wie ich damals nach der ersten Tanzstunde im Langsamen Walzer-Schritt zum Bus schwebte und spürte, dass ich etwas gefunden hatte, was ich mit meinem Körper anfangen konnte.

Dieses Gefühl muss da sein. Und wenn nicht: Es gibt so viele schöne Hobbys…

Shall we dance?

https://www.youtube.com/watch?v=X3zW4pEKKJo

Kommentare

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