Der Matilda-Effekt
Lange Zeit schienen Frauen in der Wissenschaft kaum eine Rolle zu spielen: 93,6 Prozent aller Nobelpreise gingen bislang an Männer – in Physik sind es sogar 98,2 Prozent.
Eine Ausnahmeerscheinung war Marie Curie, die zusammen mit ihrem Mann Pierre (und ihrem Lehrer Henri Becquerel) 1903 den Nobelpreis für Physik erhielt – und 1911 den Nobelpreis für Chemie, ohne ihren Mann, der bereits 1906 durch einen Unfall ums Leben gekommen war.
Die Preisverleihung war umstritten, da Curie seit 1910 eine Liebesbeziehung mit einem verheirateten Kollegen führte. Dass männliche Nobelpreis-Aspiranten außereheliche Affären belasteten, ist mir nicht bekannt. Damals bezichtigte man Marie Curie auch fälschlicherweise, Jüdin zu sein.
https://www.geo.de/wissen/matilda-effekt--die-unsichtbaren-frauen-der-forschung-33234972.html
Tatsächlich Jüdin war die Physikerin Lise Meitner, die als langjährige Mitarbeiterin von Otto Hahn die Kernspaltung mit entdeckte. 1926 wurde sie die erste deutsche Professorin der Physik. Den Nobelpreis erhielt jedoch 1945 allein ihr Kollege Hahn.
Trotz lukrativer Angebote aus den USA weigerte sich Meitner, an der Entwicklung der Atombombe mitzuwirken. Sie blieb in ihrem schwedischen Exil, wohin sie 1938 vor den Nazis flüchten musste.
An Meitners Auffassung der Naturwissenschaften sollte man sich gerade heute wieder erinnern:
„Das ist in meinen Augen gerade der große moralische Wert der naturwissenschaftlichen Ausbildung, dass wir lernen müssen, Ehrfurcht vor der Wahrheit zu haben, gleichgültig, ob sie mit unseren Wünschen oder vorgefassten Meinungen übereinstimmt oder nicht.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Lise_Meitner
Ein Beispiel, das mich als Biologen besonders beeindruckt, ist die Entdeckung der DNA-Struktur im Jahr 1953, welche die Grundlage der modernen Genetik legte. Für ihr berühmtes Molekülmodell erhielten James D. Watson und Francis Crick zusammen mit Maurice Wilkins 1962 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Eine wichtige Grundlage waren kristallografische Aufnahmen aus dem Institut von Wilkins. Gefertigt hatte sie allerdings die Biochemikerin Rosalind Franklin – Watson und Crick verwendeten sie ohne Nachfrage. Beim Nobelpreis wurde Franklin nicht mal erwähnt – sie war bereits 1958 verstorben. Auch sie war Jüdin.
Der Physiker Robert Altman beschrieb die Gewohnheiten am Institut wie folgt:
„Wohlbelesen in zwei Sprachen, war sie [Rosalind Franklin] ein zivilisiertes, intellektuelles Leben sowie Gespräche über Malerei, Lyrik, Theater und Existenzialismus gewohnt … Jetzt umgaben sie Menschen, die noch nie von Sartre gehört hatten, die hauptsächlich den „Evening Standard“ lasen und denen die Sorte Mädchen gefiel, die sich auf Fachbereichspartys betranken, von Schoß zu Schoß weitergereicht wurden und sich den BH öffnen ließen.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Rosalind_Franklin
Wenig bekannt ist auch die ungarische Forscherin Katalin Karikó, welche maßgeblich die Grundlagen für die mRNA-Impfung legte. In ihrer Heimat verlor sie eine wissenschaftliche Anstellung, worauf sie mit ihrer Familie in die USA auswanderte. Auch dort fand sie erst mit Mühe eine schlecht bezahlte Stelle, Förderanträge wurden abgelehnt. Erst die Zusammenarbeit mit dem Immunologen Drew Weissman brachte den Erfolg, für den die beiden 2023 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/04/die-unbekannten-heldinnen.html
https://www.tagesschau.de/wissen/nobelpreis-medizin-mrna-forschende-100.html
Oder kennt jemand Margaret Hamilton? Sie entwickelte das Computerprogramm für die Mondlandung 1969: 40000 Kommandozeilen in 17 Bänden. Die Anerkennung blieb ihr lange verwehrt.
https://www.geo.de/wissen/matilda-effekt--die-unsichtbaren-frauen-der-forschung-33234972.html
Was ist dann der „Matilda-Effekt“? Der Name geht zurück auf die Frauenrechtlerin und Soziologin Matilda Joslyn Gage.
https://de.wikipedia.org/wiki/Matilda_Joslyn_Gage
1870 verfasste sie ein Essay mit dem Titel „Woman as Inventor", das 1993 durch die Veröffentlichung der Soziologin und Historikerin Margaret Rossiter bekannt wurde. Zum „Matilda-Effekt“ schrieb diese:
„Jüngste Arbeiten haben so viele historische und aktuelle Fälle von Wissenschaftlerinnen ans Licht gebracht, die entweder ignoriert wurden, denen die Anerkennung verweigert wurde oder die auf andere Art und Weise aus dem Rampenlicht verschwanden, dass hier ein geschlechtsgebundenes Phänomen im Spiel zu sein scheint."
https://de.wikipedia.org/wiki/Matilda-Effekt
Männern passiert das wesentlich seltener – auch im Tango: Ein Blogger- Kollege zeichnet sich beispielsweise dadurch aus, dass er Frauen im Zweifel nicht erwähnt. Und wenn, schreibt er ihre Namen meist falsch. So gelingt es ihm selten, die derzeitige Partnerin von Gustavo Naveira, Giselle Anne, korrekt zu benennen. Und wer war gleich Olga Besio? Richtig: Die erste Frau des berühmten Tangotänzers und Lehrers, mit der er seinen Unterricht begründete – die wurde völlig aus den Annalen getilgt. Ich habe einmal an sie erinnert (siehe unten).
Eventuell beruht das Vergessen auch darauf, dass sie Ansichten vertrat, die im heutigen Tango eher unwillkommen sind:
„„Essenziell ist ganz sicher nicht, was man heute in bestimmten Szenen sieht, die sich die Kappe des Authentischen aufgesetzt haben und Códigos unterrichten. Diese wurden früher nie so genannt, es waren normale Formen der Kommunikation in einer bestimmten Umgebung. Der Cabeceo war eine ganz natürliche Sache an einem Ort, hatte aber an einem anderen keine Gültigkeit. Unter uns gesagt: Die Milongas, in denen mit Cabeceo aufgefordert wurde, waren nicht so gut angesehen. In eleganten Clubs oder im familiären Ambiente wurde so nicht aufgefordert. Aber mal ehrlich, sowas muss man doch nicht unterrichten!“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/05/gustavo-naveira-und-olga-besio-wenn-die.html
2024 ist die Tango-Pionierin verstorben. Die deutsche Tangoszene nahm kaum Notiz davon.
Zweifellos: Der Mann führt! Auch in den Biografien.
P.S. Aus vergilbten Archiven:


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