Die Umarmungs-Religion
„Weiß du, warum der Tango in der Richtung gegen den Uhrzeigersinn getanzt wird?“
Die Antwort, so lesen wir es auf einer Tango-Werbeseite, kennt angeblich der bekannte argentinische Poet und Tangoautor Enrique Santos Discépolo:
„Das ist, damit die Zeit stoppt und dein Leben in dieser Umarmung, das euch verbindet, verewigt wird. Für drei Minuten treffen zwei empfindsame Seelen und trösten einander von den Dämonen, die sie bedrohen. Und für diese, die sich umarmen, ist der Tango ein Lebensretter."
https://blancoynegrotango.de/news/warum-wir-uns-nach-umarmungen-sehnen/
Wie oft bei solchen Ausflügen in schlechtes Deutsch und Tangopoesie ist die Realität ernüchternd: Würde man sich im Uhrzeigersinn bewegen, hätte der Führende gute Sicht nur auf den Rand des Parketts, nicht Richtung Mitte. Zumindest bei der durchschnittlichen Körpergröße eines Argentiniers. Einfach mal ausprobieren!
Dass sich auf dem Parkett zwei „empfindsame Seelen“ treffen, kann ich nicht vollumfänglich bestätigen. Eher sind es oft blinde Damen, die sich irrtümlicherweise auf das Orientierungsvermögen von Partnern verlassen, welche ihre Blicke auf das Spiel der Füße konzentrieren – obwohl ja gerade dort heute immer weniger passiert.
In einem Lateinamerika-Magazin lesen wir:
„Ein Tango-Paar zu sehen, das mit seinem Tanz die Seele berührt, öffnet das Herz und man weiß intuitiv, so kann Beziehung zwischen Mann und Frau im besten Sinne sein: intim, lustvoll, dem Moment und der Musik hingegeben, spannend, ein fließendes Aufeinander achten und Beantworten der Körperimpulse, was das Schönste in der Frau und Edelste im Mann hervorbringt. Es ist spürbar ein Genuss für den Betrachter und eine wunderschöne Erfahrung, miteinander zu tanzen. (…) Der argentinische Tango hat keine Tanzhaltung, sondern die Umarmung. Er weiß um die seelische Bedeutung des sich Umarmens für das Paar und entlässt uns nicht daraus: Wir können beim Tango wie in der Liebe nicht weg. Wenn wir die Liebe behüten wollen und auch schön miteinander tanzen lernen wollen, dann kommen wir nicht umhin, uns so, wie wir sind, aufeinander einzulassen.“
https://quetzal-leipzig.de/lateinamerika/argentinien/tango-argentino-eine-weltkultur-der-umarmung
Die Frage bleibt allerdings nach wie vor: Wer trägt den Müll raus?
Aufeinander einlassen, wie wir sind? Das wäre zwar ehrlich, könnte aber zu ziemlichen Krisen führen! Besser wir versuchen uns im Tango so zu geben, wie wir gerne wären…
Für mich ist Tango schlicht ein Paartanz, der natürlich von einer möglichst guten Abstimmung zwischen den Partnern lebt – als moralische Instanz ist er jedoch ungeeignet. Und wie man an den Trennungsraten von Tangolehrenden sieht, muss er nicht unbedingt die Paarbindung fördern.
Eine Seminar-Beschreibung zum Thema „El Abrazo“ klingt da weniger festgelegt:
„Hier geht darum, zu erkennen, WIE wir die Arme/Gelenke/Körper innerhalb der Umarmung bewegen können, welche Unterschiede es gibt, damit wir entscheiden können, welche Bewegungen wir machen möchten und wie. Wie funktioniert die Kommunikation und Verbindung in der Umarmung? Unabhängig von Rollen oder Stille!“
https://www.tangonj.de/event/alles-ueber-abrazo/
Ja, die Stille – oder gar die Stile? Man weiß es nicht…
Wie wir an dem nachfolgenden Kurzvideo jedenfalls erkennen: Die Hinterflossen verlieren im Tango immer mehr an Bedeutung.
Hätte Lamarck mit seiner Evolutionstheorie richtig gelegen, würde der ständige Nichtgebrauch dieser Extremitäten im Tango dazu führen, dass sie sich allmählich zu Gehwarzen zurückentwickeln. Nun wissen wir aber von Darwins Selektionstheorie, dass die am besten Angepassten ihre Gene erfolgreicher weitervererben: Survival oft he Fittest.
Haben die sich sparsam Bewegenden eine höhere Fortpflanzungsrate? Das erscheint angesichts des tangotypischen Durchschnittsalters fraglich. Aber vielleicht waren die auch schon in ihrer fortpflanzungsaktiven Zeit langsamer.
Bekanntlich ist eine der Hauptaufgaben der christlichen Religion die Regelung der Sexualität, die häufig mit einer Unterdrückung der Frauen einherging. Die Parallelen zum Tango sind unübersehbar.
Im Glauben ist es anscheinend wichtig, andere Einstellungen nicht sachlich zu kritisieren, sondern die Moralkeule zu schwingen. Wie ich an den Kommentaren zu meinen Texten immer wieder sehe, liegt jemand mit abweichenden Ansichten nicht etwa nur falsch – nein, er ist ein schlechter Mensch. Hierbei hat sich das Modewort „respektlos“ eingebürgert.
Vom Kabarettisten Vince Ebert stammt der Satz:
„Individualisten greifen die Idee an, die eine Person glaubt. Kollektivisten greifen die Person an, weil sie an die ‚falsche‘ Idee glaubt.“
Lasset uns denn die „caras apasionadas“ („leidenschaftlichen Gesichter“) bei der Tango-Religionsausübung bestaunen:
https://www.youtube.com/watch?v=8onz1amLzGs


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