Mehr Licht!

 

„Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.“

Was Altmeister Goethe uns im „Faust“ erklärt, ist keine Beschreibung einer Milonga – die gab es zu diesen Zeiten noch nicht. Wir erkennen aber am Reim „Gleichnis – Ereichnis“, dass es sich beim Verfasser um einen gebürtigen Hessen handelt.

Immerhin zieht uns im Tango ja nicht nur das Ewig-Weibliche hinan – auch das Unzulängliche wird öfters Ereignis:

Tango-Aktive, chronisch auf der Suche nach Flächen zur Verwirklichung des Tanzbedarfs, entdecken dabei nicht selten Nahkampfdielen aus der „Saturday Night Fever“-Epoche, damals bestens geeignet für wirtschaftliche Führungskräfte zum Zwecke des Sekretärinnen-Verzupfens. Tempi passati! Heute lernt man dort Tango-Travoltas zwar kaum kennen – dafür aber, wenn man Pech hat, jede Menge Encuentro-Boomer, welche das Disco-Parkett vollstellen: Das Unbeschreibliche, hier wirds getan!

Was mir in solchen Locations schon öfter auffiel: Die Musik als Störfaktor wird noch übertroffen von heftigen Angriffen auf die nachtadaptierte Netzhaut: Flackernde Lichtorgeln bestrahlen Discokugeln, und strategisch entworfene Gehwege durchs Getümmel leuchten UV-bestrahlt neonfarben auf – wobei ich Frauen davon abrate, ihre BHs mit Weißmachern zu behandeln... Auch altersgemäßer Zahnersatz wird bei ultravioletter Bestrahlung deutlich sichtbar. Aber beim Tango sollte man ja eh nicht lächeln…

Als Folge irre ich oft nachtblind durch solch flackernde Läden, weil ich meine Schuhe oder Jacke nicht mehr finde – oder gar meine Tanzpartnerin.

Das Parkett gar mutiert unter dem Lichtorgel-Beschuss zur Ocho-Geisterbahn, insbesondere bei Anwesenheit einer größeren Encuentro-Fraktion, die schon bei Tageslicht nicht navigieren kann.

Immerhin künstlerisch interessant wirkt der Kontrast zwischen turbulentem Lichtgewitter und schleppenden Klängen. Was der Schall nicht vermag, bewirkt durch seine weit höhere Geschwindigkeit das Licht.

Auf der verpappten Getränkekarte (wohl noch aus der Gründerzeit) finden sich dann Durstlöscher-Fossilien wie „Cola Weizen“ und andere Biggi-Besoffenmacher – ein Hoch auf die Gründerzeit! Lediglich die Preise sind inzwischen überklebt.

Mein stilles, aber unerhörtes Sehnen freilich gilt einem Tango ohne Schnack, frei von jeder Art von Programm und Show-Gedöns. Gerne auch im evangelischen Gemeindehaus. Dafür mit toller Musik und halbwegs Platz zum Tanzen.

Lange halte ich solche Disco-Etablissements nämlich nicht aus, da mir Schattenboxen im UV-Sturm gesundheitlich nicht bekommt. Aber gut – immerhin erlebt man wie im klassischen Drama die Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Alles auf einmal also.

Womit wir wieder bei Goethen wären, dem solche Show-Beeindrucke nicht fremd war:

„Besonders aber lasst genug geschehn!
Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn.
Wird vieles vor den Augen abgesponnen,
So dass die Menge staunend gaffen kann,
Da habt Ihr in der Breite gleich gewonnen,
Ihr seid ein vielgeliebter Mann.
Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen,
Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;
Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“

(Faust: Vorspiel auf dem Theater)

https://www.projekt-gutenberg.org/goethe/faust1/chap002.html

Na dann…

„Mehr Licht“ sollen ja die letzten Worte des Dichters gewesen sein.

Vielleicht war der gebürtige Hesse aber auch nur mit seiner Bettstatt unzufrieden: „Mer liecht hier so schlecht“      

Doch begeben wir uns zurück in die 70er Jahre mit ihrem Disco-Geblinker: Als leidgeprüfter Tanguero beneide ich John Travolta jedenfalls um den Platz, den er damals zum Tanzen hatte:

 

https://www.youtube.com/watch?v=u0lm58cet1g

Kommentare

  1. "Mein stilles, aber unerhörtes Sehnen freilich gilt einem Tango ohne Schnack, frei von jeder Art von Programm und Show-Gedöns. Gerne auch im evangelischen Gemeindehaus. Dafür mit toller Musik und halbwegs Platz zum Tanzen."
    Solche Milongas gibt es, zwar selten und man muss gründlich suchen, aber es gibt sie...noch.
    Das Problem ist nur, dass diese Veranstaltungen nicht kostendeckend sind. Mehr Platz zum tanzen heißt weniger Teilnehmer = weniger Einnahmen.
    Fester Eintrittspreis, um besser kalkulieren zu können, heißt mehr GEMA-Gebühren. Also wird ein Spenden-Hut aufgestellt und man hofft darauf, dass den Teilnehmern der Abend etwas wert ist.
    Zudem veranstalten solche Milongas eher Leute, die keinen großen Namen in der Szene haben, den könnten sie ja womöglich beschädigen, also kommen auch weniger Teilnehmer.
    D.h. solche Veranstaltungen können nur mit viel Enthusiasmus, Herzblut und indem man selbst Geld reinsteckt, stattfinden. Wer ist dazu noch bereit?

    Achtung: Werbung!
    Die Milonga de los Perros ist genau das...weil wir lieber Geld für unsere eigene Milonga zahlen, wo Musik gespielt wird, die uns gefällt, als für Eintritt zu Vetanstaltungen, wo wir maximal 3-4 Titel "tanzbar" finden.
    Unsere Definition von tanzbar: Musik, zu der wir Lust haben zu tanzen!
    LG
    Carmen

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    1. Liebe Carmen,
      bei Deiner Bezeichnung „tanzbare Musik“ machst Du es Dir, finde ich, unnötig kompliziert:
      Anstatt schlicht zu sagen „Musik, die uns zum Tanzen animiert“, erklärst Du im Umkehrschluss alles andere für „nicht tanzbar“.
      Doch „tanzbar“ ist keine objektive Eigenschaft von Musik – sondern eine Frage des Empfindens.
      Was Euch kalt lässt, kann andere begeistern.
      Tanzen lässt sich zu jeder Musik, choreografiert oder frei improvisiert – es hängt nur davon ab, wie man Musik wahrnimmt und was man daraus macht.
      Liebe Grüße
      Holger Siepmann

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    2. Liebe Carmen,
      ich halte nichts davon, mal wieder die Debatte zu eröffnen, welche Musik denn „tanzbar“ sei. Schon deshalb, weil das Wort lange Zeit als Kampfbegriff gegen moderne Tangos, hauptsächlich Tango nuevo, eingesetzt wurde.
      Viel wichtiger sind mir private, nicht kommerzielle Angebote wie das Eure. Wir haben damit ja auch genug Erfahrungen. Der Tango braucht weniger neue „Veranstalter“, sondern Sponsoren, die auch mal Geld in ihre Leidenschaft investieren.
      Und ja, solche Versuche gibt es glücklicherweise. Wie die Milonga in Attaching, die der Freisinger Tanzsportclub nächsten Sonntag wieder veranstaltet. Dort leistet man es sich, unkonventionell zu sein – und siehe da: Es gibt dafür Publikum!
      Daher weiterhin viel Glück für eure Milonga!
      Liebe Grüße
      Gerhard

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  2. Lieber Gerhard,
    Tut mir leid, aber da liegst Du leider gründlich daneben. Goethe wurde in Frankfurt geboren und ist dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Die Stadt Frankfurt hat aber nie zu Hessen gehört. Sie war schon freie Reichsstadt, lange bevor Hessen gegründet wurde wurde und ist erst 1946 von den USA dem neuen Bundesland Hessen zugeschlagen worden. Goethe ist also kein gebürtiger Hesse, sondern er ist gebürtiger Frankfurter.
    Liebe Grüße,
    Helge

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    1. Lieber Helge,
      vielen Dank für die Aufklärung!
      Das ändert die Aussagen meines Textes natürlich komplett.
      Beste Grüße
      Gerhard

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  3. Oje, da hab ich mit meiner Wortwahl ja wieder was angerichtet...
    Ich wollte definitiv keine Diskussion anstoßen, was tanzbar bedeutet oder ist!
    Ja, es stimmt, ich kann auf jede Musik tanzen. Aber es ist meine persönliche Entscheidung, ob ich auf diese Musik Tango tanzen will.
    Mehr möchte ich dazu nicht mehr sagen.
    Wen es interessiert, zu welcher Musik wir gerne Tango tanzen, ist herzlich eingeladen, mal vorbeizuschauen im KIM. Oder man sieht sich mal in Freising, Pörnbach oder sonstwo ;-)

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    1. Liebe Carmen,
      nein, kein Problem! "Tanzbar" ist halt eine Vokabel, die gerne zu langen, aber fruchtlosen Diskussionen führt.
      Aber ich glaube, man konnte verstehen, was du meintest.
      Bis bald und liebe Grüße!
      Gerhard

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