Riedls wundersame Wendlung
In der Tangowelt wird viel gesprochen: über Stilrichtungen, Lehrer, Milongas, Mode, Authentizität und natürlich – Improvisation. Gerade Letzteres scheint ein Dauerbrenner zu sein, bei dem sich viele berufen fühlen, mitzureden. Dabei würde es doch völlig reichen, wenn man mir mal zuhört. Nicht erstaunlich ist es daher, wie oft dabei Begriffliches durcheinandergerät. Improvisation wird mit Kreativität verwechselt, mit Ideenreichtum, mit dem Mut, sich „frei“ zu bewegen, manchmal auch einfach nur mit dem Gegenteil von Figurenlernen. Hat natürlich im Tango nichts zu suchen – und ist daher in der Sache oft ziemlich daneben. (…)
Was ich hier beschreibe, ist keine Polemik gegen bestimmte Blogger oder Lehransätze – außer natürlich... na, ihr wisst schon, sondern eine Einladung, den Begriff „Improvisation“ im Tango endlich eimal gründlich zu analysieren. Vielleicht sogar zeimal. (…)
Ich möchte ja jetzt nicht behaupten, dass diese Auswahl an Zitaten und deren Autoren eine tänzerische Reputation (hähä) mitbrächten, aber ich habe sie exemplarisch für unqualifizierte, verbreitete Meinungen (muss doch mal gesagt werden!) hier widerlegt. (…)
Improvisation ist nicht: „Ich klatsch einfach lauter Figuren aneinander“ Welche Figuren denn? Schon mal auf einer Milonga gewesen? (…)
Improvisation heißt: Ich bin im Moment und handlungsfähig. Das ist nicht nur im Tango wichtig, sondern auch, wenn einen die blöde Verwandtschaft als unzurechnungsfähig erklären lassen will.
Ein paar Beispiele:
- Vor mir bleibt ein Paar plötzlich stehen – ich passe mich an und bleibe auch stehen.
- Die Musik macht eine Pause – ich halte auch an, atme. Vor allem, wenn mir schwarz vor Augen wird.
- Meine Partnerin kippt leicht in eine Drehung – ich gehe mit, statt sie auszubremsen, fange sie auf oder trete zur Seite, damit sie mich nicht auch umreißt.
Das sind keine spektakulären Moves. Aber es ist echte Improvisation. Denn:
Improvisation ist die Fähigkeit, spontan passend zu entscheiden – nicht, möglichst originell zu sein. Im Tango originell? Verrückte Idee! (…)
Improvisation ist nicht das Gegenteil von Vorbereitung. Sie ist das Ziel davon. Anders gesagt: Improvisation muss gut geplant sein! (…)
Wer aus wenig viel macht – Pausen, Atem, Verbindung – zeigt echte Kontrolle. Er vermeidet es, wegen Sauerstoffmangels umzufallen. (…)
Diese Idee vom improvisierenden Tangohelden, der einsam auf leerem Parkett seiner Kreativität freien Lauf lässt, mag schön klingen. Ist aber fern von der Praxis.
Denn: Tango ist kein Solotanz. Es hat sich bewährt, zu zweit zu tanzen. (…)
Statt immer neue Figuren zu servieren, sollte Unterricht helfen, die eigenen Möglichkeiten im Moment zu erkennen:
o Was kann ich stattdessen machen?
o Wie kann ich unterbrechen?
o Wann lasse ich bewusst weg?
Und je mehr man weglässt, desto besser der Tanz. (…)
„Geh mal los, atme, hör zu.“ Keine Ahnung, warum das die Weiber nicht raffen! (…)
Das war für mich der Schlüssel. Plötzlich wurde klar: Improvisation ist kein Talent, sondern ein Handwerk. Ansonsten hätte ich es doch nie geschafft! (…)
Also wurde auch Manuela Blößels Antwort: „Gar ned.“ auf die Frage: „Wie kann man den Leuten beibringen, zu improvisieren?“ hiermit widerlegt. Blößel… oder doch Bößel? Egal, die wird schon selber wissen, wie sie heißt! (…)
Nicht nur zwei, drei Prozent improvisieren. Sondern fast alle – nur merken sie’s nicht, weil man ihnen nie gesagt hat, was Improvisation eigentlich ist. Ich habs meinen Schülern einfach gesagt, dass sie improvisieren. Die waren vielleicht stolz! Ein genialer pädagogischer Ansatz!
Besonders absurd ist also Manuela Blößels Aussage, wenn sie sagt: „Nach deiner Erfahrung – welcher Anteil der Tangotänzerinnen und Tänzer improvisiert?“ „Zwei bis drei Prozent – hoch gegriffen!“
Vermutlich beruht diese Aussage auf der irrigen Einschätzung, dass sie nur sich selbst, ob als Partnerin mit Gerhard Riedl oder mit anderen Tanzpartnern, zu den 2-3% der Tänzer zählt, die wirklich improvisieren würden. Obwohl dies nur eine Mutmaßung ist, kann ich sie damit begründen, dass Manuela Blößel wohl kaum ihren eigenen Tanz als „improvisationsfrei“ bezeichnen würde. Ich kann ihre Tanzkenntnisse nur anhand dieses Video mit ihr und Gerhard Riedl beurteilen und dieses bestätigt meinen Satz: Improvisation braucht Struktur. Sonst wird’s Chaos. Und das, was ich dort sehe, ist allerdings ein ziemliches Chaos.
So, jetzt hab ich’s denen mit ihrem Scheiß-Video mal wieder gegeben! Nun noch den Cassiel-Spruch, wo hab ich ihn denn gleich? Ach ja:
Also wieder mal eine Meinung auf dem Niveau: „2-3% Geisterfahrer? Nein, 97-98%!
Nochmal auf dem Taschenrechner schauen: Ja, stimmt!
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Dieser Artikel ist eine Kombination des (gekürzten) Originaltextes von Klaus Wendel (Normalschrift) und meinen Einfügungen dazu (kursiv).
Angesichts des tollen Ergebnisses ist es wirklich ein Jammer, dass der Kollege und ich nicht gemeinsame Texte herausgeben. Seine etwas verknöcherte, aber kenntnisreiche Schreibe und mein satirisches Talent würden sich wunderbar ergänzen! Und Wendel hätte einen Coautor, der das in Worte fasst, was er wirklich meint. Das schafft nämlich keine KI. Leider wird er zu einer Kooperation nicht bereit sein.
Schade aber auch!
Quelle: https://www.tangocompas.co/gedanken-ueber-tango-unterricht-12-teil/
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Foto: www.tangofish.de |
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