Eine Nummer am Rücken kann auch entzücken

 

„Wenn alle scheiße tanzen, gewinnt auch einer.“ (Spruch eines unserer früheren Tanztrainer)

Ich muss gestehen, dass sich meine Einstellung zu Tanzturnieren im Lauf der Jahre geändert hat: Als Jugendlicher ließ ich keine der damals häufigen Fernsehübertragungen aus – mich faszinierte die Eleganz der Standard- und Lateinpaare und vor allem die Musik eines Hugo Strasser oder Max Greger. Ab den ersten Schultanzkursen träumte ich eine Zeitlang davon, Tanzlehrer und später Turniertänzer zu werden.

Zirka dreißig Jahre später ging dieser Traum tatsächlich in Erfüllung – wenn auch auf dem niedrigsten denkbaren Level: Nachdem wir uns von Tanzschulen hin zu Tanzsportclubs entwickelt hatten, überredete uns einer unserer Trainer, doch einmal an einem „Breitensportturnier“ teilzunehmen. Ohne großes Reglement trafen sich dort Paare mehrerer Vereine, um eine kleine Meisterschaft auszutragen.

Einige Jahre hatten wir durchaus Spaß an solchen Events, die uns sportlich und konditionell guttaten – und uns auch zu einer realistischen Einschätzung unserer Fähigkeiten brachten: Manchmal gewannen wir, öfters landeten wir im Mittelfeld, einige Male flogen wir schon in der Vorrunde raus – meist im Standard, weniger in Latein. Unser schlechtester Tanz war übrigens stets – der Tango!

Dessen La Plata-Version lernten wir 1999 kennen und waren zunehmend fasziniert davon, dass man dabei keine ellenlangen Figurenfolgen üben musste und es keine Wertungsrichter gab, deren oft sehr subjektive Einschätzung man sich auf hochgehaltenen Täfelchen lächelnd und mit Verbeugung abholen durfte. Wir lernten, Tango sei kreativ und vor allem total individuell. 2005 tanzten wir unser letztes Turnier.

Inzwischen habe ich mir im Tango argentino mehr Wertungen meines Tanzens abgeholt als in unserer Zeit der Sportwettkämpfe. Und es gibt mehr Normierungen und Verbote als im Breitensport. Logisch, dass seit Jahren auch die Turniere Einzug in unseren Tanz gehalten haben. Wahrlich: Schon lange holt uns das ein, vor dem wir einst geflohen waren!

Nun gut – wem es Spaß macht, sich mit Nummer auf dem Rücken zu produzieren, der soll es tun! Was ich nun aber von der „Europäischen Tangomeisterschaft 2022“ (Tschuldigung: „European Tango Championship“) mitbekam, welche vom 6. bis 9.10. in Münster droht, hat mich denn doch zu einem Artikel gedrängt!

Mein erster Gedanke war: Aha, wenn „Europäische Meister“ gekürt werden, müsste es vorher doch erstmal deutsche, französische etc. Landeswettbewerbe gegeben haben! Nein, braucht man nicht: In der westfälischen Metropole dürfen sich einfach alle anmelden, welche einen europäischen Pass besitzen. Da muss man erstmal draufkommen…

Mensch, warum haben wir denn nicht schon vor Jahren in Pörnbach „Tango-Weltmeisterschaften“ veranstaltet? Hätten doch Paare aus der ganzen Welt teilnehmen können…

Gesucht werden die Sieger in verschiedenen Kategorien: Tango de Pista (also der übliche „Salontango“), Vals, Milonga, Tango Escenario (Bühnentango) – und, besonders originell: „Best Milongueros“. Hier müssen die Kandidatinnen und Kandidaten drei Tangos mit einer jeweils anderen, zugelosten Person vollführen. Speziell für Tangolehrkräfte sicherlich eine ungewohnte Herausforderung!

Ein schönes Zeugnis für den heutigen Normierungswahn sind die Bewertungs-Kriterien für die Sparte „Tango de Pista“ (deutsche Übersetzung):

„Die Tänzerinnen und Tänzer finden sich in Paaren zusammen und lösen sich erst am Ende der Musik voneinander, weil dies die einzige akzeptierte Haltung ist. Der Körper des Tänzers muss die Umarmung des anderen für die gesamte Dauer des Tanzes halten – wobei die Umarmung bei bestimmten Figuren flexibel sein kann, aber nicht für die gesamte Dauer des Tanzes. Alle Bewegungen müssen in dem Raum ausgeführt werden, der sich durch die Umarmung zwischen beiden Teilen des Paares ergibt.

Die Jury achtet auf die Musikalität, die Verbindung des Paares und die Eleganz der Bewegung als wesentliche Punkte für die Bewertung. Innerhalb dieser Parameter können die Tänzerinnen und Tänzer alle Figuren ausführen, die üblicherweise im Tango als Gesellschaftstanz getanzt werden, darunter auch Barridas, flache Sacadas, Enrosques etc. Völlig ausgeschlossen sind Sprünge und Figuren, bei denen man mit beiden Füßen den Bodenkontakt verliert und jede andere choreographische Figur aus dem Tango Escenario. Die Paare müssen sich wie im Ballsaal kontinuierlich gegen den Uhrzeigersinn bewegen und dürfen nicht auf einer Stelle stehen bleiben, da sonst der Tanzfluss in der ‚Ronda‘ blockiert wird. Die Kleidung ist kein Bewertungsparameter.“

Na, das kommt sicher auch noch…

Aber immerhin winken satte Preise: Zwischen 500 und 1500 Euro gibt es für die Sieger in den einzelnen Sparten – zudem winkt den Salontango-Meistern eine Buchung für Unterricht und Showtanz bei einem Festivalito im Wert von 1000 Euro (plus Reisekosten und Hotel). Eine Wahl, wohin es geht, haben sie jedoch nicht – und wenn sie örtlich und zeitlich nicht können, verfällt der Vertrag.

Das Preisgeld brachte mich einen Moment ins Grübeln: Vor allem seit Corona haben uns doch die Veranstalter vorgejammert, dass sie vor dem Ruin stünden? Nun gut – in Münster führt den Event der gemeinnützige Verein „Tango Pasión“ durch – der kann gar nicht Pleite gehen. Es wird aber noch viel interessanter:

Jeder Teilnehmer an den Wettbewerben muss nämlich eine Teilnahmegebühr von 85 Euro entrichten (wofür er dann allerdings auch freien Eintritt zu allen Milongas hat). Nach Konsultation meines Taschenrechners ist mir nun klar: Wenn sich annähernd 30 Paare beteiligen, regelt sich der Preisaufwand von selber. Und wenn es deutlich weniger würden? Nun, dann reduzieren sich auch die Preisgelder. Zudem enthalten die Bedingungen eine Art Generalklausel:

„Die Wettbewerbsregeln können von der Organisation der Meisterschaft geändert werden. Wenn es am Tag der Anmeldung eine andere aktualisierte Version der Wettbewerbsregeln gibt, werden die Teilnehmer darauf hingewiesen. Die Wettkampfregeln liegen bei der Anmeldung und während der gesamten Meisterschaft aus. Mit der Registrierung und Einschreibung erkennen die Teilnehmer diese Wettkampfregeln an und akzeptieren sie.“

http://www.tangofestivalmuenster.de/championship.html

Ansonsten kommt der Geldstrom ja von anderer Seite: Das Ganze ist eingebettet in ein ziemlich umfangreiches Festival: Es gibt vier Milongas mit Eintrittspreisen von 12 bis 35 Euro, das Gesamt-Ticket kostet zirka 80 Euro. Livemusik gibt es nur einmal mit einem italienischen Tangoduo. Für die Workshops (je 75 Minuten) zahlt man zwischen 25 und 30 Euro.

Bei 100 zahlenden Gästen, von denen viele auch Tangounterricht buchen werden, kommen da schätzungsweise mindestens 10000 Euro rein. Das meiste davon dürften die drei Showpaare kassieren, welche auch die Workshops bestreiten und in der Jury sitzen.

http://www.tangofestivalmuenster.de/tickets2.html

Für über 90 Prozent der Tanzenden, welche die Wettbewerbe bestreiten (aber nicht gewinnen), sieht das Ganze so aus: Für 85 Euro dürfen sie am Festival teilnehmen und mit den vielen Wettbewerben Kunden anlocken und kostenlos vortanzen. Ich habe Zauberauftritte stets abgelehnt, bei denen ich hätte noch Geld mitbringen sollen…

Laut Ankündigung ist eine „faire und transparente Meisterschaft“ vorgesehen. Ja, schon, falls man das Kleingedruckte liest.

Ich hoffe, manche der Meisterschafts-Aspiranten überlegen es sich noch, ob sie sich darauf einlassen. Aber wahrscheinlich haben sie anweisungsgemäß schon im Voraus bezahlt. Dann ist das Geld so oder so weg…

Das Publikum darf sich dann weitgehend an einer geklonten Ronda erfreuen:

https://www.youtube.com/watch?v=0R3qHeRbVms

Aber seien Sie unbesorgt:

Wenn alle gleich tanzen, gewinnt auch einer!

Kommentare

  1. Wir leben in einem freien Land: was nicht verboten ist, ist erlaubt. Und so darf jeder Weltmeisterschaften veranstalten, zumindest solange er keine Markenrechte verletzt. Aber so eine Veranstaltung braucht sehr viel Einsatz, viele freiwillige Helfer, und wirft keine Gewinne ab.

    Ich war die letzten Jahre dort. Die Turniertänzer haben auf den Milongas logischerweise das Ziel, sich miteinander einzutanzen und ggf. nebenbei die anwesenden Juroren zu beeindrucken. Und es gibt genrebedingt relativ viele Ankündigungen, Showtänze und Ehrungen. In diesem Jahr erspare ich mir das, ungestörtes Tanzen kann auch entzücken.

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    1. Wohl wahr!
      Wobei in dem Zusammenhang der Begriff "Europameisterschaften" schon ziemlich anmaßend klingt.
      Klar, größere Gewinne lassen sich im Tango nur selten erwirtschaften. Nur finde ich es schon schwach, die Teilnehmenden selber den Wettbewerb finanzieren zu lassen. Wenn denn das Geld so knapp ist, hätten es Pokale für die Sieger auch getan.

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