Lüders‘ Tango-Curriculum

Der Münchner Sport- und Englischlehrer Jochen Lüders betätigt sich nicht nur als Blogger und Neo-DJ, sondern hält sich auch für einen Tangolehrer. Er gibt allerdings ausschließlich Privatstunden:

https://jochenlueders.de/?page_id=12063

Gestern hinterließ er hier einen Kommentar, in dem er mir (selbstredend ohne Anrede und Grußformel) zunächst ein Zitat aus einem meiner Artikel um die Ohren haute:

„Ein chaotisches System wie den Tango kann man nicht in Schubladen zwängen.“

Seine Ansicht dazu ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig:

„Was für ein Unsinn! Aus der Tatsache, dass (zugegebenermaßen) meistens chaotisch und unstrukturiert ‚unterrichtet‘ wird, sollte man nicht schließen, dass es nicht auch anders geht. Und wenn Inhalte in eine in sich stimmige Abfolge gebracht werden, werden sie deshalb nicht gleich ‚in Schubladen gezwängt‘.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/09/stufenweise-zum-tango-erfolg.html?showComment=1662816348362#c64682745039713224

Abschließend dann das Wichtigste: Der Link zu einem neuen Artikel aus seiner Feder, in dem er einen „Tango Lehrplan“ aufstellt:

https://jochenlueders.de/?p=15759

Gut, über die etwas unhöfliche Art der Werbung kann man geteilter Meinung sein. In einer Berufsgruppe, wo man Trillerpfeifen für das menschliche Kommunikationsmittel der Wahl hält, mag man jedoch nichts Schlimmes daran finden.

Nun hat Jochen Lüders schon öfters Gedanken zum Tangounterricht formuliert – und dabei festgestellt, wie sehr die meinen in die Irre gehen. Im Prinzip also nichts Neues.

https://jochenlueders.de/?p=14477  

https://jochenlueders.de/?p=14165

Allerdings, das muss man ihm zugestehen, hat der Autor mit seiner Kritik am üblich lausigen Tangounterricht hierzulande durchaus Recht. Und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er mehr Überlegungen zu diesem Thema veröffentlicht als alle anderen deutschen Tangolehrer zusammen. Und von keinem seiner Kollegen habe ich bislang den Versuch eines Tango-Curriculums gelesen.

Was Lüders an Lerninhalten zusammenstellt, ist plausibel und gut gegliedert. Als Referendar hätte ich es in meiner Seminararbeit so ähnlich beschrieben. Nur kannte ich damals den argentinischen Tango noch nicht.

Ich darf den Kollegen nur daran erinnern, dass zu einem Lehrplan auch Lernziele und Lernzielkontrollen gehören.  Weiterhin fehlt mir ein Adressaten-Kreis: Will er das wahrlich umfangreiche Pensum Anfängerinnen und Anfängern aufdrücken? Welche Zeitplanung hat er dazu im Sinn? Monate? Jahre?

Nach eigener Aussage gibt Lüders ausschließlich Privatstunden. Ich nehme an, damit ist Einzelunterricht gemeint. Das wäre schon einmal ein Fortschritt. In seinen bisherigen Texten hatte er eher den üblichen Gruppenunterricht im Blick, den ich für besonders wenig ertragreich halte.

Leider ist sein Lehrplan, wie im Tango üblich, sehr auf die zu erlernenden „Figuren“ (wie Kreuze, Ochos oder Molinetes) zugeschnitten. Nach seiner Ansicht muss man diese Schrittfolgen erstmal alleine üben, bis man es dann einmal paarweise versuchen darf. Immerhin sollen Männlein und Weiblein zusätzlich die Bewegungen der anderen Seite hinbekommen – ein Anspruch, welcher in den üblichen Tangokursen leider nicht erhoben wird.

Es wird das Interesse am Artikel nicht fördern, dass Lüders zu den einzelnen Bewegungsmustern einen schwer lesbaren Kürzelsalat abliefert:

Vorwärts-Ochos über 2 Beats (n) (bzw. einen Takt) und (analog zum Gehen) Kombis: ll nnnn bzw. nnnn ll. Oder: lnn bzw. nnl“

Wie man an solchen Beschreibungen schon ahnt: Der Autor bietet einen sehr verkopften Einstieg in den Tango. Das haptische Lernen, also das Erspüren von Bewegungen, blendet er weitestgehend aus. Stattdessen bleibe ich dabei, Prácticas oder Einzelunterricht zu empfehlen, in denen Neulinge auch mal mit Erfahrenen tanzen und dabei in drei Minuten mehr lernen als an drei Kursterminen, wo man ihnen irgendwelche Schrittmusterbögen in die Birne schraubt.

Aber gut – manche brauchen dieses großhirngesteuerte Erfassen des Tango. Für die ist ein solcher Unterricht wahrscheinlich besser als das üblicherweise am Markt Gebotene.

Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass der Lüderssche Tangolehrplan schon als ein sehr schweres und spaßarmes Pensum daherkommt. Ein Lernziel wie „Mit Freude tanzen“ fehlt. Sicher: Wer einen Schulabschluss, einen Meisterbrief oder ein Universitäts-Diplom erwerben will, geht von großer Anstrengung und harter Arbeit aus. Wie wir von der „Feuerzangenbowle“ wissen, muss die Schule (wie auch eine Medizin) bitter schmecken, sonst nützt sie nichts.

Menschen, die Tangounterricht buchen, wollen aber keinen Berufsabschluss erwerben, sondern suchen nach einem sozialen Erlebniswert. Sie wollen Spaß an der Bewegung haben und sich nicht allzu sehr anstrengen. Mit dem Rest müssen sie sich nämlich die ganze Woche herumschlagen.

Man mag es bedauern, dass viele dem Erlernen des Tango nicht den nötigen „Ernst“ schenken – und natürlich unterschätzt man gerade am Anfang den Aufwand, der zum halbwegs erfolgreichen Tanzen führt, gigantisch. Das sollte man den Lernenden nicht verschweigen. Aber die meisten erwarten auch gar nicht, nach ein paar Privatstunden zu den Preistänzern zu gehören.

Ich meine aber: Wer die Kundschaft nicht bei ihrer Neugier abholt, ihr nicht Spaß an Musik und gemeinsamer Bewegung vermittelt, wird die Schülerinnen und Schüler nicht lange halten können. Bestenfalls bleiben ein paar verkopft zergrübelte Masochisten, welche den Tango als gerechte Strafe empfinden.

Und sicherlich kann man den Tangounterricht bestmöglich strukturieren. Ein Chaos wie in vielen Kursen braucht keiner. Unser Tanz bleibt dennoch ein „chaotisches System“, schon weil er ganz stark auf dem basiert, was Lüders nicht sehen will: Emotionen. Weiterhin, da die Menschen sehr unterschiedlich sind: Es gibt nicht nur große und kleine, dicke und dünne, alte und junge, sondern vor allem Personen mit sehr unterschiedlichen Gefühlen, Persönlichkeitsstrukturen und Bewegungsmustern. Und, was die Sache noch komplizierter macht: Frauen und Männer. Daher kann man sie nicht alle in die „spanischen Stiefel“ eines schulmäßigen Lehrplans stecken.

Die „Turnlehrer“ meiner eigenen Schulzeit wussten das nicht. Da musste jeder, ob trainingsgestählt oder mit Puddingmuskeln, den gleichen Felgaufschwung können.

Ich hatte gehofft, die heutigen Sportlehrer wären da weiter.

Illustration: www.tangofish.de

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