Geht doch!

Diesmal wird es ein Artikel, wie ich ihn am liebsten schreibe: total lobend! Und daher werde ich die Akteure auch namentlich nennen. Gerne nehme ich in Kauf, dass ein solcher Text meist wenig Resonanz findet.

Das vergangene Wochenende hat in mir die Hoffnung erweckt, dass der Kampf um den modernen Tango nicht verloren ist. Gleich an zwei Orten erlebte ich Milongas mit ansprechender, abwechslungsreicher Musik und freundlichen, völlig hierarchiefreien Gästen.

Das Sensationelle zuerst: In Augsburg, seit vielen Jahren fest in der Hand des Vereins „Tango Lunazul“ und daher von jeglichen zeitgenössischen Klängen frei, erklang ein Musikprogramm mit teilweise noch lebenden Ensembles!

Derzeit finden im „Tanzzentrum Soul & Dance“ vierzehntägig Milongas mit wechselnden DJs statt. Am letzten Freitag war Bernhard Westphal aus Ingolstadt dran. Ich kenne ihn seit über 15 Jahren – früher legte er ziemlich schräge Klänge heutiger Ensembles auf – vorwiegend Neotango.

Im Lauf der Jahre passte er sich leider dem wandelnden Trend an und spielte den gängigen EdO-Schmus rauf und runter. Vor über zwei Wochen legte er beim „Rathaustango“ in Ingolstadt auf – und bereits da war für kundige Ohren zu hören, dass er nicht nur Aufnahmen vor 1955 spielte.

Fernab der Heimat ließ er nun seinem Geschmack freien Lauf und bot ein bunt gemischtes Programm aus alten und neuen Einspielungen. Und siehe da: Ich erblickte keine Zusammenrottungen konservativer Hooligans vor seinem DJ-Pult, es fuhr kein Blitz vom Himmel – im Gegenteil: Alle hatten Spaß und tanzten eifrig in dieser sehr gut besuchten Milonga.

Na also: Geht doch!

Wie viele Gäste überhaupt merkten, welche musikalische Sensation sich da anbahnte, weiß ich nicht. Und schlauerweise hatte Bernhard seine Abfolgen brav in Tandas und Cortinas sortiert.

Im August gibt es noch zwei Termine: 12.8. und 26.8. (ab 20 Uhr)

Die Anschrift: Gubener Str. 11e, 86156 Augsburg (im Industrieviertel mit benachbarten Rotlicht-Etablissements – also „Arrabal“ pur!)

https://www.tango-lunazul.de/milonga-am-gaskessel/

Noch verblüffter war ich von einer Veranstaltung, die wir tags drauf besuchten. Einige Zeit vorher hatte ich von einer Milonga in Landshut erfahren. Na ja, normale Tanzschule und Tango argentino – meine Erwartungen hielten sich in Grenzen.

Immerhin war auf der Website über das Tanzlehrer-Paar zu lesen:

„Stefan und Gabi tanzen und lehren einen erfrischenden und modernen Tango Argentino und grenzen sich damit bewusst ab vom traditionellen Milonguero-Stil. (…) Getanzt wird zu unterschiedlichen musikalischen Stilrichtungen, mal traditionell, mal ‚Tango nuevo‘, zwischendurch auch einmal sog. Neo- und Elektrotangos So wird es nie langweilig.“

Und die beiden veröffentlichen sogar Inhalte ihres Kursprogramms! Irgendwas konnte da nicht stimmen…

Als wir im Landshuter „Arrabal“ ankamen, staunten wir nicht schlecht: Stefan und Gabi waren alte Bekannte, deren technisch hochklassigen und kreativen Tanzstil wir längst kannten! Nun wunderte uns nichts mehr…

Auch diese Veranstaltung war gut besucht, die Gäste freundlich und gut gelaunt. Die Schülerinnen und Schüler der beiden haben wirklich viel gelernt und Spaß daran, es anzuwenden. Und sie fremdeln" kein bisschen bei modernen Klängen.

Was mich am meisten beeindruckte: Stefan legt völlig ohne herkömmliche Regeln auf: Da kann nach einem traditionellen Vals schon mal eine Milonga, ein Neotango oder sogar ein Tango nuevo kommen. Selbstverständlich ohne Cortinas. Er begeht eigentlich alle „Todsünden“ orthodoxen Auflegens. Aber er hat ein untrügliches Gespür für Abwechslung und die Fähigkeit, einem mit jedem neuen Stück wieder Appetit zu machen.

Wenn ich es nicht schon vorher gewusst hätte, wäre ich nach diesem Abend überzeugt gewesen: Es geht ohne diese formalen Daumenschrauben besser. Wenn man über eine schwer zu erlernende musikalische Intuition verfügt. Der DJ meinte dazu, es nerve ihn tierisch, wenn er drei oder vier Stücke abwarten müsse, bis er mal wieder auffordern dürfe – und sich mit einer Folge ähnlicher Aufnahmen langweilen müsse. Recht hat er!

Als wir nach einem getanzten Piazzolla in der lauen Nachtluft standen, versicherten wir uns gegenseitig: Das war eine Milonga, wie wir sie früher erlebten – und wegen der wir der Faszination des Tango erlagen. Herzlichen Dank dafür!

Der nächste Tanzabend findet am 27.8. (ab 20 Uhr) statt – und wir werden sicher wieder dabei sein!

Anschrift: Tanzschule LA/VIB, Ottostr. 15, 84030 Landshut

https://tanzschule-landshut.de/VERANSTALTUNGEN_Events_162/TANGO-ARGENTINO-ABEND-27-08-2022_3218

Ebenso werden wir natürlich am kommenden Freitag (5.8.) in Freising dabei sein, wo sich Peter Ripota und seine Frau Monika seit nunmehr 15 Jahren gegen allzu konservative Trends im Tango stemmen:

Milonga de Neostalgia in der TWS Freising, Am Lohmühlbach 10, 85356 Freising (ab 21 Uhr)

https://www.tangomuenchen.de/de/tanzen/termin-details/event/event/show/milonga-milonga-de-neostalgia-der-tws-in-freising-05-08-2022.html

Und das Sensationelle: Alle diese DJs tanzen auch selber! Während des Auflegens. Geht doch!

Leider erreichte mich heute auch eine traurige Nachricht. Die Regensburger Milonga „Tango im Fluß“ wird es nächstes Jahr nicht mehr geben. Nach 22 Jahren ist Schluss – Corona hat wohl für eine finanzielle Situation gesorgt, die zur Begleichung der Saalmiete nicht mehr reicht.

Seit etwa 20 Jahren waren wir dort immer wieder gerne zu Gast und freuten uns über eine völlig unideologische Gestaltung – was nicht nur die Musik betrifft. Wir haben Christiane und Sven viel zu verdanken und hoffen, dass wenigstens die noch ausstehenden Veranstaltungen gut besucht sind.

Besonders empfehle ich die Milonga am 24.9. mit dem sehr begabten DJ Andreas Groll. Die weiteren Termine:

http://www.tangoimfluss.de/taflu02.htm

Anschrift: Gesandtenstr. 6, Regensburg (Pustetpassage / Untergeschoss)

Vielleicht noch ein Wort an meine werten Kritiker: Von wegen „YouTube-Experte“… Wie man sieht, komme ich in meinem hohen Alter noch ganz schön rum. Und lerne aus meinen Erfahrungen.

Das vergangene Wochenende hat mir wirklich Mut gemacht. Es gibt Milongas, die mit der Zeit gehen und vielleicht auch die im Tango sehnlichst vermissten jungen Menschen anlocken könnten. Sonst stirbt unser Tanz mit seinen senilen Vertretern – wie im Argentinien der 1970-er Jahre. Und ob dann nochmal ein Astor Piazzolla kommt, dessen Musik in den Bühnenshows eine neue Generation erobern wird, ist nicht gesagt…

Besser wir arbeiten mit den Mitteln, die uns heute schon zur Verfügung stehen.

Und das geht!

P.S. Ich weiß nicht mehr genau, ob es dieses Stück war, das uns am letzten Samstag verzauberte. Etwas in der Art aber sicherlich:


https://www.youtube.com/watch?v=_WIaHQwlfsw

Kommentare

  1. Es ist prima, Gerhard, wenn Du Tanzangebote findest, die Deinen Interessen entgegen kommen.

    Und ich habe nichts gegen kommerzielle Strukturen im Tango. Ich glaube der relevante Unterschied ist nur, ob Raum und Infrastruktur mehr von den Teilnehmern selbst oder von der Gesellschaft bezahlt werden. Eine dedizierte Tanzschule ist zumeist kommerziell, da möchte in der Regel eine Familie von leben, darauf ist das Kurssystem ausgerichtet. Hier dauert es lange, bis Leute entspannt tanzen können, ganz egal zu welcher Musik, egal welche Lehrer, es braucht sozusagen ein paar Jahre Wanderschaft.

    Ich habe Probleme mit einem "Kampf um den modernen Tango". So etwas findet ja nicht statt. Das Gewaltmonopol des Staates ist vielleicht nicht perfekt, bekommt Kämpfe zwischen Clans und Rockern nicht immer unter Kontrolle, aber ich glaube für die Freiheit der Tangomusik musste noch keine Einsatzhundertschaft eine Milonga schützen. Also Angriffe finden nicht statt, eine Notwendigkeit für "Vorwärts-Verteidigung" oder eine "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns"-Haltung sehe ich daher nicht.

    Ich spüre da immer den versteckten Versuch, anderen vorzuschreiben, was sie tun oder lassen sollen. Das steckt ja nicht nur in einem Wunsch nach hierarchischen Strukturen. Auch bei einer hierarchiefreien Struktur wünscht Du zum Beispiel ja nebenbei, dass der DJ auch tanzen möge. Aus welcher Position heraus denn?

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    1. Ich schreibe in der Regel aus der Position des "Tango-Kunden", der sich ein Angebot wünscht, das seinen Neigungen entspricht. Anderen vorzuschreiben, was sie zu tun oder lassen haben, überlasse ich anderen Tango-Fraktionen.

      Aus Erfahrung weiß ich halt, dass DJs besser auflegen, wenn sie zu ihrem eigenen Programm auch tanzen. Das letzte Wochenende hat dies wieder bestätigt.

      Ich hoffe, dass auch bei sportlichen Wett"kämpfen" Fairness regiert und nicht die GSG 9 eingreifen muss. Der Duden schlägt als Synonyme für "Kampf" u.a. "Bemühung", "Bestrebung" oder "Engagement" vor. Aber man kann natürlich alles missverstehen, wenn man dem anderen finstere Motive andichten will.

      Ich fürchte, du kommst halt nicht von den Vorstellungen über "Kommerzialität" weg. In früheren Zeiten haben wir in einem Jugendzentrum, einem Kunstatelier oder in Privatwohnungen für lau getanzt - oder halt für die geringen Unkosten ein paar Euro zusammengelegt.

      Das scheint für die heutige Tango-Generation unvorstellbar. Ich sage nur: Wir haben damals nichts vermisst!

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    2. Die Gedankenwelt vieler Menschen ist enorm erfinderisch, wenn es darum geht, dass andere die eigenen Bedürfnisse erfüllen sollen.

      Da dient es den Gemeinwohl, da hat man das früher anders gemacht, da gebietet es die Fairness, da gibt es aber Regeln, da gibt es aber ungeschriebene Regeln, da haben sich die Regeln aber geändert, da muss man auch die Gegenseite sehen, da gibt es keine Alternative, da ist noch eine alte Rechnung offen, da wird die Gleichberechtigung nicht gewahrt, da ist es zu teuer oder zu billig.

      Auf den Freizeitbereich gemünzt scheint mir das meiste davon Unfug zu sein, und das hängt auch nicht vom Musikgeschmack oder Tanzstil ab. Man kann natürlich anmerken, was einen stört, aber letztendlich geht man entweder hin oder man lässt es.

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    3. Genau das tue ich: Anmerken, was mich stört - und dann entweder hingehen oder nicht.

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    4. Grundsätzlich bin ich ja Deiner Meinung, dass ein DJ auch mal tanzen sollte. Der Umkehrschluss, der DJ will nie tanzen, wirft ja Fragen auf.

      Dann gibt es aber auch Situationen, wo ich beim Betreten des Raumes sehe, dass der DJ ein Idiot sein muss. Wie der da schon sitzt, dieser Gesichtsausdruck. Und warum hat der Kopfhörer um den Hals, jetzt hängt sich auch noch ein DJ-Groupie dran. Und erst die Schnösel am Tisch daneben. Wenig später ist klar, eigentlich schon sofort, dass die Musik auch Quark ist.

      Und da versuche ich mich dann doch einzubremsen, mir klar zu machen, dass diese V.I.P. Situation mich antriggert. Vielleicht hat der, oder die, beim letzten mal technischen Murks gebaut und will sich keinen Fehler leisten? Oder ist depressiv. Oder tanzt schlecht.

      Im Grunde weiss ich ja nichts wirklich - und für mein Tanzen ist es auch nicht wirklich relevant.

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    5. Relevant ist halt nur, dass er dann meist schlecht auflegt.

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