Von der Freiheit befreit

 

Auf ein Buch, das mich seit Tagen beschäftigt, geriet ich durch Zufall: Bei einer kleinen Erkundungstour im Landkreis kamen meine Frau und ich auf den Autor eines Werkes zu sprechen, das sich in drei Bänden mit „Geheimnisvollen Plätzen in der Hallertau“ beschäftigt. Verfasst hat es ein ehemaliger Kollege von Karin, Reinhard Haiplik – ein Kenner der Heimatgeschichte, aber auch Schauspieler, Kabarettist und ÖDP-Stadtrat in Pfaffenhofen. Meine Gattin meinte: „Der hat ja auch ein Buch über Pfaffenhofen in der Nazizeit geschrieben.“

Mein Interesse war sofort geweckt – Karin hatte es natürlich griffbereit in ihrer Bibliothek. Seither komme ich nicht mehr von dem über 400 Seiten dicken Wälzer weg.

Reinhard Haiplik dokumentiert in weitgehend nüchterner Sprache detailliert das Unfassbare, was nicht weniger eindrucksvoll sein muss – im Gegenteil. Man könnte unsere Kreisstadt mit einiger Berechtigung als „Nazi-Hochburg“ bezeichnen: Bereits 1922 wurde dort eine NSDAP-Ortsgruppe gegründet – und Adolf Hitler hielt in diesem Jahr eine Ansprache, die das „Pfaffenhofener Volksblatt“ bereits damals so bewertete:

„Der ganze Vortrag war hochinteressant, und wenn die Zuhörer nachdenken, müssen sie zugeben, wie Recht der Redner hat, dass wir immer mehr abwärts kommen und dass der jetzige Weg nicht zur Gesundung führt.“ (S. 20)   

Auch beim „Hitler-Putsch“ 1923 waren Parteigenossen aus Pfaffenhofen beteiligt, kamen allerdings wegen einer Wagenpanne zu spät: Die Revolution war schon vorbei, und sie wurden von der Münchner Polizei mit der Bahn nach Hause geschickt. Man fuhr lieber eine Station weiter, um sich vor den Leuten in der Heimatstadt nicht zu blamieren. In Pfaffenhofen wurde inzwischen ausgerechnet dem Sohn des Bürgermeisters ein Gewehr in die Hand gedrückt: Er habe das Rathaus zu  besetzen – was der Papa mit einigen kräftigen Watschen unterband.

Was 1923 noch Bauerbühnen-Züge aufwies, wurde zehn Jahre später schrecklicher Ernst: Nach der „Machtergreifung“ am 30.3.1933 erzielte man in Pfaffenhofen bei den folgenden Reichstagswahlen  das höchste NSDAP-Wahlergebnis von ganz Oberbayern. Auch die Anzahl der Parteigenossen lag in der Stadt weit über dem Landesdurchschnitt. Noch brauner ging es nur in Wolnzach zu - was mich wegen meiner persönlichen Erfahrungen nicht wundert.

Gespenstisch fand ich vor allem, wie mühelos die Nazis es innerhalb einiger Monate schafften, in Stadt und Landkreis die wichtigen Posten zu besetzen. Es war wohl vor allem das skrupellose Auftreten der SA in Verbindung mit dem allgemeinen politischen Umschwung, das größeren Widerstand nicht aufkommen ließ. Mit Kommunisten und Sozialdemokraten hatte man eh nicht viel Arbeit, da diese in der Stadtgesellschaft wenig verwurzelt waren. Etwas mehr Gegendruck kam zunächst von der bislang dominierenden Bayerischen Volkspartei. Am überzeugendsten wehrten sich – bis in die Kriegsjahre – manche katholische Pfarrer und Ordensleute, die teilweise auch in Haft kamen.

Bei der Volksabstimmung im November 1933, bei der auf die Wähler großer Druck ausgeübt wurde, stimmten bereits 3070 Pfaffenhofener für Hitler – und nur 62 mit Nein. Diese wurden in der (bereits gleichgeschalteten) Presse aufs Übelste beschimpft:

„Die 62 Pfaffenhofener Neinstimmen, die von verkrochenen Kellerlochpolitikern und Verärgerten abgegeben wurden, haben ja nichts zu bedeuten. (…) Das war kein Heldenstück, ihr Außenseiter! Gebt nur Acht, dass euch nicht doch noch Dachau winkt, ihr Pappenheimer und Volksverräter!“ (S. 39) 

Durch das ganze Buch ziehen sich diese ständigen Bedrängungen jedes Einzelnen: Zu Veranstaltungen wird nicht mehr eingeladen, vielmehr ist „das Erscheinen Pflicht“. Und das Volk wird mit ständigen Aufmärschen und Feierlichkeiten auf Trab gehalten – es werden fanatische Reden und Fahnen geschwungen, Häuser beflaggt und dämliche Gedichte oder treudeutsche Weisen dargeboten, man marschiert viel, meist uniformiert und vorwiegend zu Blasmusik.

Nun könnte man ja meinen: Eine politische Bewegung, die über 90 Prozent Zustimmung erfährt, könne doch auf einzelne „Abweichler“ gelassen reagieren. Oder gar Widerspruch als interessante neue Perspektive begreifen, die man sich ja nicht zu eigen machen muss. Nein: Bereits einzelne Gegenstimmen lösten heftigste Abwehrreaktionen aus, wurden als „Volksverrat“ hingestellt – was natürlich auch die inhaltliche Schwäche der Machthaber zeigt.

Ich kenne dieses Hundertprozentige ja auch vom Tango: Bereits eine einzelne Tanda mit moderner Musik bringe „eine fürchterliche Unruhe“ in die Milonga, ebenfalls ein aus der Ronda ausscherendes Paar. Und gar erst, wenn sich einer erfrechen sollte, anders als per Cabeceo aufzufordern oder darüber gar Witze zu machen, ist das Vaterland in Gefahr. Pfui, „Geisterfahrer“ – keine Frau wird mehr mit dir tanzen wollen…

Das ist die Sprache der Totalitären.

Beachtlich ist auch die Logik, der Führer habe das deutsche Volk „befreit“ – allerdings von einer nur behaupteten Gefahr: der Ausbeutung und Unterdrückung durch das internationale Judentum und der Bedrohung durch den Bolschewismus. Und damit diese Befreiung funktioniert, müssen natürlich die „kleinlichen“ persönlichen Bedürfnisse und Freiheitsgrade der Bürger beschnitten werden. Kurz gesagt: von der Freiheit befreit.

Auch derzeit versucht eine gewisse Bewegung ja wieder, uns von einer „Diktatur“ zu befreien, die allerdings nur in der Einbildung dieser Leute besteht. Dazu müsse das Volk mal wieder geeint zusammenstehen und geschlossen den neuen Heilslehrern folgen. Zu diesem Zweck wird polarisiert und polemisiert ohne Ende. Wurde früher Dachau als Drohung eingesetzt, ist es nun das künftige Kriegsgericht", das verräterische Politiker aburteilen werde.

Es gibt Parallelen, vor denen es mich gruselt.

Natur und Tradition, das angeblich Ursprüngliche und Reine, wird mit einer derartigen Ladung Kitsch verherrlicht, dass mir beim Lesen schwindlig wird. So schreibt das „Pfaffenhofener Volksblatt“ im März 1935:

„Einem neuen Frühling geht die Nation entgegen. Und so erleben wir in diesem Jahre diese schönste aller Jahreszeiten doppelt: In uns und außer uns, gleichsam, als wolle die Natur ihrer Sonne und ihrem sprießenden Grün ihr Jawort zu dem neuen Geschehen geben. (…) Pfaffenhofen muss leben! Und leben und gedeihen wird schließlich nur derjenige Ort, der die Zeichen der Zeit verstanden!“  

Vor allem aber: Es gab nur Superlative – in Lobpreisung ebenso wie in Verdammung. Differenzieren und Relativieren war nicht angesagt. Niemals wurde in der Mitte nach der Wahrheit gesucht, Nachdenklichkeit demonstriert. Zweifel waren verboten. Wenn ich mir heute  viele soziale Medien ansehe, sind die Parallelen erschreckend.

Haiplik dagegen hält sich mit vollmundigen Sprüchen zurück. Immer wieder betont er, dass er nur Hypothesen liefere, welche der Leser bewerten solle.

Was ich in diesem Buch vor allem gelernt habe: wie kurz doch der Schritt in eine Diktatur sein kann. Und deren Agitatoren kündigen ja nie an, die Bürger unterdrücken zu wollen. Im Gegenteil: Stets ist „Befreiung“ das angebliche Ziel. Daher sollte man sensibel für solche Tendenzen sein.

Haiplik beschreibt in einer Buchlesung „die Atmosphäre, die Stimmung, den Boden, auf dem die Saat der NSDAP in Pfaffenhofen so reichlich aufging“. Er sieht drei Kennzeichen:

·         „Eine streng bürgerlich-konservative Grundstimmung, die gegen alle vorging, die sich nicht einordnen wollten“

·         Antisemitische und auch antisozialistische Tendenzen

·         Das „Beschwören einer Idylle, die es so nie gab und hinter der sich oft eine hässliche Fratze verbarg“

Der Autor weist auf den Roman „Der Zwischenfall“ des in Pfaffenhofen geborenen Schriftstellers Joseph Maria Lutz hin, der diese Welt anschaulich schildert: „eine Doppelmoral, der jedes Anderssein tief zuwider ist“. Um von eigenen Verfehlungen abzulenken, werde das nicht Genehme „mit Häme, Spott und oft auch mit Hass verfolgt“. Ein Spießertum, das gegen alles zu Felde ziehe, was es als „Linke, Sozis, Faulenzer und Tagediebe“ zu erkennen glaube.  

https://www.youtube.com/watch?v=-wDWGWMWkQU

Haiplik hat Mitte der 1990er-Jahre mit der Arbeit an dem Buch begonnen – interessanterweise auf Anregung des damaligen CSU-Bürgermeisters. Herausgegeben hat es 2003 die Stadt Pfaffenhofen. Wegen der großen Nachfrage erschienen weitere Auflagen 2005 und 2015.

Der Autor hat sich mit der Veröffentlichung nicht nur Freunde gemacht. Bei seinen Recherchen stieß er auf viel Schweigen – nach dem Motto: Man solle doch die alten Sachen ruhen lassen. Es gab aber auch Zeitzeugen, welche ihm viele Informationen lieferten – und die Mär widerlegten, man habe nun wirklich alles mitmachen müssen.

Den damaligen „Aktivisten“ ist nach dem Krieg nicht viel passiert. Einer der schlimmsten Hetzer, der Pfaffenhofener Kreisleiter, verlangte vor der Spruchkammer gar, als „Widerstandskämpfer“ anerkannt zu werden. Immerhin erhält er zunächst drei Jahre Arbeitslager, wird aber bereits im Mai 1948 vorzeitig entlassen und in der Berufung als „minderbelastet“ eingestuft. Das Standardargument dieser Leute: Hätten sie es nicht gemacht, wären andere an ihre Stelle getreten, welche noch weit schlimmer agiert hätten. Selber habe man sich oft schützend vor Dissidenten gestellt. Zu diesem Zweck sammelte man eifrig „Persilscheine“.

Einem bekannten Pfaffenhofener Kommunisten aber, der während dieser Zeit immer wieder in Haft war, versagte man die Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes, da er politische Freunde verraten habe. Selbst wenn das stimme, so Haiplik: Unter welchen Bedingungen seien wohl solche „Geständnisse“ zustande gekommen?  

Als ich auf YouTube nach einem Video suchte, entdeckte ich: Seit 2014 gibt es ein Pfaffenhofen ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus im Landkreis! Hier die Einweihung mit Reden vom Pfaffenhofener Bürgermeister Thomas Herker (SPD), von Reinhard Haiplik und dem gestaltenden Künstler Thomas Neumaier. Haiplik hatte sich jahrelang hartnäckig für die Errichtung eines solchen Mahnmals eingesetzt.


https://www.youtube.com/watch?v=oo3PZT94fZ4

Gestern habe ich meine „Bildungslücke“ geschlossen und den Ort besucht, der sich ziemlich unauffällig am Rande des Hauptplatzes erstreckt. Auf Bildtafeln werden Beispiele von Verfolgern und Verfolgten dargestellt. Ein gigantischer roter Blitzstrahl durchbricht die scheinbare Idylle des Platzes.

Fast 70 Jahre hat es also gedauert, bis in Pfaffenhofen die Erinnerung einen Raum fand…

Quelle: Reinhard Haiplik: Pfaffenhofen unterm Hakenkreuz (3. Auflage 2015, ISBN 3-9805521-6-0)

Kommentare

  1. „eine Doppelmoral, der jedes Anderssein tief zuwider ist“
    Das kann man heutzutage auch wieder beobachten. Scheint eine menschliche "Grundeigenschaft" zu sein.

    Heute gehts allerdings nicht mehr gegen Linke, sondern gegen "Nazis", "Klimaleugner", "Antifeministen", "Rassisten", "weisse alte Männer" usw.
    Wichtig ist der "Kampf gegen Rechts".
    Methode heute ist z.B. "Cancel Culture" (wo teilweise immer noch behauptet wird, die gäbe es gar nicht, auch wenn man sie tatsächlich beobachten kann ... Z.B. der aktuelle Skandal am Berliner Staatsballet), und "fürs Grobe" gibts (analog zur SA damals) heute die "Antifa" (um die "Nazis von der AfD" zu verprügeln, Autos anzuzünden usw.) ...

    Die Symbole haben sich geändert, die Methoden sind die gleichen wie damals.

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    1. Ich sehe Intoleranz und Neigung zur Gewalt auf beiden Seiten. Aber das Thema haben wir ja schon durch.

      Ansonsten bin ich mit Nazi-Vergleichen vorsichtig. Ich wüsste beispielsweise nicht, dass es die Antifa auf 4,5 Millionen uniformierter Schläger bringt - so wie die SA 1934.

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    2. Mir gehts beim Vergleich nur um die Methoden, nicht um Quantität (auch wenns insgesamt nur ein einziger Antifa-Schläger wäre, das wäre dann auch einer zuviel!) und auch nicht um die konkreten Symboliken (Muss ich auf "Die Welle" hinweisen, auch wenn ich weder das Buch geleson, noch den Film gesehen hab?)

      Also z.B. auch darum, anderen durch entsprechende Diffamierungen das "Menschsein abzusprechen". Und da sehe ich nicht viel Unterschiede darin, ob man nun wie "damals" die "Andersdenkenden" als Linke, Sozis, Faulenzer und Tagediebe beschmipfte, oder wie heute als Nazis, Klimaleugner oder alte weisse Männer.

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    3. Die Methoden bestanden bei den Nazis darin, die Demokraten durch Straßenterror den politischen Einfluss zu nehmen. Und die industrielle Tötung von Millionen von Menschen zu rechtfertigen. Das ist keine reine Frage der Quantität.

      Übrigens hab ich die "Welle" gelesen und auch die Verfimungen gesehen.

      Aber ich glaube, unsere unterschiedlichen Auffassungen sind deutlich genug geworden und wir können die Wiederholung altbekannter Argumente jetzt einstellen.

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