Warum denn in die Ferne schweifen?
„Willst du immer
weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen,
denn das Glück ist immer da.“
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen,
denn das Glück ist immer da.“
(Goethe: Erinnerung)
Mit fortschreitendem Alter wächst bei mir das
Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein: „Wohin
fahrt ihr denn heuer in Urlaub?“ ist eine der Fragen, die ich
nicht wirklich bräuchte. Tja – „Urlaub“ haben wir als Pensionisten schon
mal ganzjährig, und „fahren“ möchte ich so wenig wie möglich: Wenn ich
im Wintergarten oder auf der Terrasse ein wunderbares Frühstück mit
Blick auf unseren Garten genieße, fehlt mir eigentlich gar nichts.
Aber du giltst heutzutage als sozial nicht mehr integrierbar, wenn es dir an Folgendem mangelt:
·
einer weiten Urlaubsreise
·
einer interessanten Allergie oder
Nahrungsmittelunverträglichkeit
·
einer möglichst ideologischen Einstellung zur
Ernährung
·
einer netten Verschwörungstheorie
·
dem spezifisch deutschen Jammer-Gen
Apropos (Weltuntergangs-Apologeten und Landwirte mal
kurz weghören): Das war doch heuer bisher ein geiler Sommer, oder? Meinen alten Knochen tut Wärme gut – und mit
einem kühlen Weißbier auf der Gartenliege fand ich die Hitze durchaus
erträglich. Und was das „Insektensterben“ betrifft: Ein paar weniger Wespen
hätten es nach meinem Gefühl auch getan…
Nun möchte ich als gelernter Biologe Klimawandel und ökologische Krisen keineswegs bestreiten. Ich kann nur diejenigen
nicht ernst nehmen, welche ansonsten zur Sommerzeit unter hoher Kohlendioxid-Emission in Länder mit mehr als 35
Grad im Schatten jetten, jedoch jammern, wenn sie solche Temperaturen mal
frei Haustür geliefert bekommen. Aber spätestens bei den ersten Schneeflocken Anfang November werden wir dann Überschriften lesen wie „Kommt eine neue Eiszeit?"
Speziell unsere Jugend ist ja zum Ferntourismus
geradezu verurteilt: Wer nicht spätestens mit 18 ein Praktikum in Neuseeland
macht, ist sozial unterprivilegiert und vom Lebensglück ausgeschlossen. Wie viel
die junge Generation – mit starrem Blick aufs Smartphone – von den
gepriesenen „fremden Kulturen“ jedoch mitbekommt, darf bezweifelt werden. Der
Satiriker Wilhelm Busch hat dies in „Plisch
und Plum“ schon 1882 karikiert, wobei er sich damals noch eines spleenigen
Briten bedienen musste:
„Warum soll ich nicht
beim Gehen“
– sprach er – „in die Ferne sehen?
Schön ist es auch anderswo,
Und hier bin ich sowieso.“
– sprach er – „in die Ferne sehen?
Schön ist es auch anderswo,
Und hier bin ich sowieso.“
Mich
haben schon als jungen Menschen Reisen – sofern ich sie mir überhaupt leisten
konnte – oft nicht überzeugt: Tagelang vorher bist du schon im Stress, damit die ganzen Requisiten
gepackt und transportbereit zur Verfügung stehen. Und hunderte Kilometer auf
Achse sind erst recht nicht erholsam. Ich brauchte oft mehrere Tage, um mich
von der Anfahrt zu erholen. Und dann kannst ja nicht einfach im Liegestuhl vor
der Ferienwohnung versacken – nein, es stellt sich jeden Morgen die Frage: „Was unternehmen wir denn heute?“ Des
Sehens würdige Besonderheiten gibt es ja zuhauf – „und wenn wir schon mal da sind“, kann darauf logischerweise nicht
verzichtet werden.
Und
mit der Bahn oder dem Auto zu verreisen, ist ja nicht wirklich angesagt – da muss
es schon der Flieger sein!
Neulich
goss nun auf Facebook das Tango-Urgestein Ralf
Sartori tatsächlich Wasser ins Flugbenzin:
„Darüber zu reden
scheint ein absolutes Tabuthema zu sein, gerade in Tangokreisen, wo man doch
keineswegs auf jährliche Fernreisen, vorzugsweise an den Rio de la Plata, oder
auf andere Tango-Urlaube mit dem Flieger, verzichten möchte.“
Ökologisch
nicht ganz unberechtigt: Mit nur einer Tankfüllung einer Boeing 747–800 (242000
Liter) könnte ein Auto gut 3,2 Millionen Kilometer fahren. Und nebenbei lässt
das Landfahrzeug vor dem Ziel nicht nochmal schnell unverbrauchtes Kerosin ab…
Damit
kam der esoterisch-verträumte Tangoguru bei einem meiner Lieblinge, dem
generell bescheidwissenden Andreas Lange
jedoch schlecht an. Flugs entfachte der eine Debatte zur Notwendigkeit,
das tänzerische Niveau durch Anreise zu
weit entfernten Milongas anzustreben – also solchen, die man „nicht
mit dem Fahrrad, ohne E-Antrieb, erreichen kann“:
„Auf
manchen Events gibt es so viele Tänzerinnen, mit denen ich sehr genussvoll
tanzen kann. Das finde ich zu Hause im Vergleich sehr selten.“
„Was würde passieren, wenn diese Suchtbefriedigung unterlassen werden würde und nur in den heimischen Milongas getanzt würde. Würde das dortige Niveau sich so verbessern, dass man dort ausreichend Genuss erleben könnte? Oder würden etliche, weil sie nicht mehr Genuss beim Tanzen haben, damit aufhören?“
„Was würde passieren, wenn diese Suchtbefriedigung unterlassen werden würde und nur in den heimischen Milongas getanzt würde. Würde das dortige Niveau sich so verbessern, dass man dort ausreichend Genuss erleben könnte? Oder würden etliche, weil sie nicht mehr Genuss beim Tanzen haben, damit aufhören?“
Letztlich exhumiert Lange da eine uralte Cassiel-Blog-Theorie: Aus Frust vor den
schlechten tänzerischen Leistungen flöhe die Elite zu gehobenen Zirkeln wie Festivals, Marathons und vor allem
Encuentros. Dadurch sinke bedauerlicherweise der Qualitätslevel „normaler“
Milongas noch mehr.
Ich finde das derart anmaßend, dass es schon
wieder lustig ist. Nun bin ich ja in fast 20 Jahren Tango auch ein wenig
herumgekommen und kann aus eigener Erfahrung sagen: Das ist so wie mit Fernreisen an irgendwelche exotischen
Strände, wo man dann überall dieselben
Strandbars mit Cola, billigem Rotwein, ranzigen Pommes und Urlaubern aus
dem Ruhrpott vorfindet – vergleichbar den Canaro-Vals-Tandas, die man auch schon
von daheim kennt.
Und was das Tanzen angeht: Sicher gibt es internationale Meetings, zu denen sich
keine Anfänger trauen (oder auch gar nicht akzeptiert würden). Gepflegt wird
dort vor allem der ronda-kompatible „Schrittchen-Schrittchen-Arschgewackel“-Stil
zu wenig überraschender Musik. Dafür gibt es jede Menge Menschen, die sich für wichtig
halten und deutlich zeigen, in welch illustren
Kreisen sie sich bewegen dürfen. Nach Konfrontation mit ein, zwei Dutzend solcher
Events müsste man mir inzwischen viel bezahlen, wenn ich dort teilnehmen sollte…
Und trifft man dann auf die Dauer nicht
wieder die altbekannten Leute aus der umherreisenden Tango-Lemmings-Population? Klar, wer’s braucht, darf sich gern auf Tour begeben – und zwar ohne jegliches schlechtes Gewissen, den „heimischen
Milongas“ dadurch Qualität zu entziehen!
Ralf
Sartori hat mit seiner Antwort an Andreas Lange bewiesen, dass man Gegner
auch mit der Pfauenfeder knockout schlagen kann:
„Falls
Du nun als Tänzer jedoch bereits so virtuos und fortgeschritten sein solltest,
dass Du nur noch auf der Ebene eines kleinen erlesenen internationalen
Tango-Jetsets ein passendes tänzerisches Gegenüber finden kannst, dann
gratuliere ich Dir! Somit gehörst Du vermutlich einer kleinen erlesenen
Minderheit an, deren Flüge daher wohl auch nicht besonders klima-relevant sein
dürften, einer kleinen globalen Minderheit, die es ohnehin schon schwer genug
hat, überhaupt noch ein wenig tänzerische Befriedigung zu erlangen.“
„Befriedigung“ scheint mir hier ein treffender Ausdruck. Aus eigener Anschauung ahne ich,
warum kleine, „unbedeutende“ Milongas von vielen gemieden werden: Da geht es
nicht so sehr ums nicht „genussvolle
Tanzen“, sondern um die zu geringe Auswahl an fortpflanzungsbereiten
Singles des meist anderen Geschlechts. Längere Anfahrten bedeuten mehr
Optionen. Insofern ist ja vielleicht „genus-volles
Tanzen“ gemeint…
Nein, ich will das alles ja nicht verteufeln:
Reisen bildet bekanntlich (auch wenn
man es hier nicht direkt ableiten kann). Persönlich finde ich in einem Radius
von maximal 120 Kilometern so viele
(meist eher kleine) Milongas, dass es für zwei- bis dreimal Tanzen pro Woche
reicht. Und als Partnerinnen genügen mir statt irgendwelcher „Festival-Zicken“
ganz normale Frauen. Die geben sich dann – ebenso wie ich – Mühe, dann wird es
schon was.
Zudem ökologisch obercool: Ich bin noch nie in meinem Leben geflogen!
Und zur Paarung habe ich das – im Gegensatz
zu Drohnen – nie gebraucht…
Aber wer fliegen möchte, dem sei das
unbenommen – ich rate nur, vor lauter Fernweh und Tangobegeisterung nicht die Orientierung zu verlieren:
„Hierbei
aber stolpert er
in den
Teich und sieht nichts mehr.“
P.S. Auf Tangourlaub bin ich diesmal nicht
eingegangen. Der Grund:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/03/tangoschmusen-am-jadebusen-die.html
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