Auflegen für Anfänger


„Im Mittel sind Tango-DJs logischerweise mittelmäßig.“
(aus einer Internet-Diskussion)

Manche Entwicklungen drängen sich mir glasklar auf: Wer jahrelang viele Tangoforen ständig mit vermutlich (soweit ich es kapiere) gescheiten Kommentaren beglückt, möchte irgendwann in den Tango-Funktionärsstand übertreten.

So jüngst einmal wieder geschehen: Auf einer Internet-Seite (ich sag jetzt nicht wo – um Gottes Willen…) alarmierte er seine zukünftigen Kollegen mit der Erwartung, der Einstieg ins Auflegen könne doch nicht so schwierig sein – angesichts des riesigen Angebots von Musikaufnahmen im Internet, oft schon bequem zu Tandas gebündelt.  

Neben etlichen durchaus ermutigenden Reaktionen (einfach mal anfangen und sich weiterentwickeln) traten natürlich „wahre Experten“ auf, welche die sich anbahnende Konkurrenz schon ein wenig entmutigen wollten:

Irgendwie gebe es beim Tango gleichzeitig zu viele und zu wenige DJs. Mit der Mehrzahl waren natürlich diejenigen gemeint, welche sich in scheinbarer Unbekümmertheit mal schnell viele Titel aus dubiosen Quellen zusammenkopierten – so wie sich manche mit fünf Kursen zum Tangolehrer beziehungsweise mit einer Kamera zum Eventfotografen machten. Alle im Tango (zumal die Kohorten von Beratungsresistenten) könnten mit wenig Aufwand DJ werden (und entwickelten sich oft nicht weiter): Richtig gute dieses Fachs gebe es im Encuentro- und Marathon-Bereich eh nur zirka ein Prozent.

Bin ich froh, dass diese Feststellungen nicht von mir stammen – man hätte mich mal wieder gesteinigt!

Natürlich wird von denen, die schon auflegen, der hohe Aufwand fürs Rippen, Taggen, Konvertieren (und andere für mich unverständliche Tätigkeiten) betont. Zumindest das Taggen habe ich mir nun erklären lassen: Man fügt einer Aufnahme entsprechende Kennbegriffe hinzu, also zum Beispiel: Canaro, 1937, Vals, langsam, ultrakonservativ, 60+ (oder so ähnlich). Und wenn man dann ein langsames, ultrakonservatives Rentnerpublikum mit dem durchschnittlichem Geburtsjahr 1937 hat, gibt man das ein, und das Programm bietet einem die entsprechende Vals-Tanda an.

Und überhaupt brauche man schon zur Verinnerlichung der Basics zwei Jahre.

Das übliche tontechnische Gefitze darf natürlich nicht fehlen – doch da mir Begriffe wie „Soundkarte“ unbekannt und auch wurscht sind, mische ich mich da nicht ins Detail ein. Es gibt jedoch offenbar die eine optimale und sauteure technische Lösung – pro DJ…

Auf jeden Fall aber sei die Audio-Qualität der gespielten Aufnahmen das Wichtigste überhaupt. Wer kurzerhand YouTube-Videos herunterlade und die Tonspur extrahiere, sei für und für zu verdammen. Ansonsten besteht jedoch über die Legalität kostenloser Downloads kaum Einigkeit.

Nur selten klingt in den vielen Kommentaren an, es gehe beim Auflegen eher um Themen wie Gruppendynamik und Lenkung einer Veranstaltung. Immerhin äußert eine bekannte Tangolehrerin und DJane, sie glaube nicht, dass die Leute nun lieber zu ihrer Musik tanzten als früher, wo sie mit ihrer Heimanlage und popeligen mp3s einen ganzen Saal beschallt habe. Das glaube ich auch nicht…

Und natürlich muss die Musik stimmen, schließlich gebe es objektiv „gute“ und „weniger gute“ Titel und Zusammenstellungen. Bei der Frage aber, ob man mit oft gehörten „Gassenhauern“ die Tänzer eher langweile oder begeistere, gehen die Meinungen bereits wieder auseinander.

Um nun meine Sichtweise intellektuell anspruchsvoll zusammenzufassen:
O mei‘!

Vor 15 und mehr Jahren hat sich im Tango – im Gegensatz zu heute – kein DJ nach diesem Job gedrängt. Einer musste es halt machen – und wenn er ein paar Tango-CDs mehr hatte als die anderen und so blöd war, seine heimische Anlage in irgendeinen versifften Keller zu schleppen, war er halt dran. Im Gegenzug stellte keiner größere Ansprüche an die Beschallung – schon gar nicht nach irgendwelchen tangoideologischen Gesetzlein.

Desto gespannter waren wir freilich, welches „Programm“ uns ein bestimmter DJ bieten würde – die Auswahl war ja frei. In unserer Region gab es jahrelang einen monatlichen „Pflichttermin“ für die gesamte Szene: Im Saal eines abbruchreifen Gasthauses legte der Eigentümer der denkmalsgeschützten Ruine persönlich auf – eine abgefahrene Mischung, die von Brahms „Ungarischen Tänzen“ bis zu „El tango de Roxane“ reichte. Klassische EdO-Aufnahmen waren meiner Erinnerung nach auch dabei – für uns aber nichts Besonderes, halt „Tango“.

Irgendein festes Konzept war bei diesem DJ nicht festzustellen – er spielte halt, was ihm gefiel. Und nachdem für fast jeden etwas dabei war, regte sich auch niemand auf, im Gegenteil: Es war die letzte Milonga in unserer Gegend, bei der sich wirklich die gesamte örtliche Szene traf. Irgendwann wurde die Veranstaltung dann von jemand übernommen, der ersichtlich auf solche Gigs scharf war – und „EdO pur“ spielte. Binnen Kurzem gab es diese Milonga dann nicht mehr.

Meines Wissens ist der DJ der damaligen „Kult-Milonga“ weitestgehend aus der Tangoszene verschwunden – wie so viele seines Zuschnitts. Er hätte heute, jedenfalls auf der überwältigenden Mehrheit der Veranstaltungen, keine Chance mehr, auflegen zu dürfen: Sein „Programm“ war ja keines – er spielte nicht mal Tandas und Cortinas – und ist so inzwischen völlig unvereinbar mit den strengen Reglements betreffend „erlaubter“ und „wertloser“ Musik. Dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) habe ich von ihm unzählige Anregungen zum Beschallen einer Milonga erhalten. Vor allem auch, wie man die Stimmung aufrechterhält, indem man überraschend statt erwartbar agiert.

Als ich ab 2007 bei unserer eigenen öffentlichen Milonga auflegte, hätte ich mir nirgends vorgefertigte Tandas besorgen können – selbst wenn es die schon im Internet gegeben hätte, da mir dieser digitale Bereich noch völlig fremd war. Meine Quelle bestand sintemalen aus vielleicht hundert CDs, die ich mir in den ersten Tangojahren allmählich zugelegt hatte. Man musste damals schon froh sein, wenn man in der Musikabteilung eines Elektronik- oder Drogeriegroßmarktes mehr als fünf Tango-Tonträger zur Auswahl hatte. Die hörte ich halt immer wieder, bot auf der monatlichen Veranstaltung das, was mir besonders gefiel – und war gespannt, wie es angenommen wurde. Und da ich oft bequemerweise mehrere Titel von einer CD spielte, ergaben sich Folgen, die irgendwie „Tanda-Charakter“ hatten, also halbwegs zusammenpassten. Und vor allem verfügte ich damals schon über zirka 8 Jahre tänzerische Tangoerfahrung, wusste also zumindest, was mich persönlich aufs Parkett lockte – und warum.

Was ich sehr schnell lernte: Du kannst es nicht jedem recht machen. Was ich mir heute vorwerfe: Ich hätte noch mehr meinem eigenen Geschmack vertrauen und mich nicht von der einen oder anderen sauren Miene oder dummen Frage beirren lassen sollen.

Zudem begann sich in dieser Zeit die Szene zu spalten: Die Konkurrenz der „traditionellen“ Milongas kam auf – und auch deren örtliche Vertreter wurden nicht müde, gerade Anfänger vor unserer „problematischen Musik“ zu warnen. Was ich daran besonders lustig finde: Ich spielte damals gut zur Hälfte die „klassischen“ EdO-Orchester – heute gerade noch fünf Prozent…

Übrigens – auch das ein Gegensatz zur heutigen Tendenz: Niemals habe ich mich bei einem Veranstalter beworben. Dennoch wurde ich öfters eingeladen, wobei ich immer mehr merkte: Du musst heute für eine bestimmte „Fraktion“ auflegen – Vielfalt ist nicht gefragt. Daher beschloss ich vor etwa drei Jahren, nur noch privat für unsere „Wohnzimmer-Milonga“ Musik zu machen – und für die „Freaks“, welche das immer noch (oder erst wieder) schätzen. Nebenbei: Geld habe ich nie verlangt, und die paar Mal, wo es mir aufgedrängt wurde, wie meine Zaubergagen an die Deutsche Welthungerhilfe gespendet.

Die heutige Situation ist völlig widersprüchlich: Einerseits sei der DJ die wichtigste Person einer Milonga, andererseits engt man seinen Gestaltungsspielraum ein: Er dürfe ja nicht auflegen, was ihm persönlich gefalle, sondern sei ein reiner Dienstleister, welcher den Geschmack einer weitgehend gleichgeschalteten Tango-Community zu erfüllen hat.

Sollte sich daher jemand mit dem Gedanken tragen, selber aufzulegen, kann ich ihm aus meiner Erfahrung nur sagen:

·         Man sollte sich schon mehr als ein paar Jahre intensiv mit Tangomusik beschäftigt haben – und vor allem, was kaum ein DJ anspricht – diese auch tänzerisch gut umsetzen können. Anstatt Titel zu taggen muss man sie kennen (und braucht daher keine Kopfhörer)!
·         Man benötigt ein feines Gespür für die „Stimmung“ auf einer Veranstaltung. Das kann man zwar durch viele Milongabesuche (sagen wir mal: mindestens 500) verfeinern, aber nicht wirklich erlernen. Manche haben diese Begabung einfach nicht (was sie dann nicht hindert, dennoch aufzulegen).
·         Das Abnudeln vorgefertigter, schon bestehender Tandas und Playlisten kann jeder, der einen Computer zu bedienen vermag. Sind Sie ein Original oder ein Kopist? Die Fähigkeit, ein vorbereitetes Programm zu variieren (und zwar in eine erfolgreiche Richtung) ist eine absolute Grundvoraussetzung!
·         Wer sich feststehenden Erwartungen und Regeln unterwirft, bleibt unpersönlich und austauschbar. Spielen Sie niemals Musik, die Sie selber anödet! Ich kenne in der Szene einige wenige Persönlichkeiten, die völlig authentisch und unverwechselbar auflegen. In Jahren haben sie sich so einen Ruf und viele Anhänger erarbeitet – auch wenn ihr Programm fern des Mainstreams liegt.
·         Lassen Sie sich nicht vom technischen Beeindruckungs-Gehubere Ihrer Kollegen ins Bockshorn jagen! Viele Tango-DJs sind eher Computer-Nerds denn Musikbegabte. Man hört dies viel deutlicher als irgendwelche tontechnischen Mängel beim Abspielen. Für mich beispielsweise haben gekaufte CDs immer noch einen sehr hohen Wiedergabelevel (was manche DJs zwischen den Zeilen sogar zugeben). Aber es muss ja unbedingt Computer-Musik sein – warum, habe ich nie verstanden!
·         Bezahlen Sie die Aufnahmen, die Sie verwenden! Gerade bei zeitgenössischen Tangos ist das die mindeste Form des Anstands, welche Sie den Künstlern schulden!

Und schließlich: Wenn keiner Ihre Musik hören und dazu tanzen möchte – na und? Es gibt so schöne andere Beschäftigungen – und manche davon werden sogar vernünftig entlohnt!

Zum Schluss no a weng DJ-Eigenwerbung! Finde ich nicht schlecht – nur hätte ich in dem Fall Tandas und Cortinas vertauscht:


P.S. Wie wichtig den durchschnittlichen Milongabesuchern die Musik ist, habe ich kürzlich wieder einmal erlebt: Auf einer Veranstaltung mit einer Live-Gruppe hatte gerade der DJ die Künstler abgelöst und spielte den ersten Tango von der Konserve (ein hier mehr als zutreffender Begriff). Dennoch spendeten die Tanzenden am Ende des Stücks Applaus – sie hatten wohl mehrheitlich gar nicht gemerkt, dass die Musik gewechselt hatte!

Kommentare

  1. Nun hat der im Artikel angesprochene zukünftige DJ meinen Artikel verlinkt und kommentiert:

    „Der Pensionär Gerhard Riedl bereichert die Diskussion noch um seine Erinnerungen an die mühsame CD-Suche in der Gründerzeit der Tangoszene ... und dass man damals noch Kraut und Rüben auflegen konnte.
    Nutzt mir allerdings beides nicht - aus mir wird wohl kein Tangoplattensammler mehr, ich habe kein Jahrzehnt Zeit um ‚produktiv‘ zu werden ... und die Ansprüche der Tangotänzer steigen natürlich mit den technischen Möglichkeiten.“

    Herzlichen Dank dafür - jedoch heißt Verlinken nicht unbedingt Verstehen.

    Daher von Pensionär zu Grünschnabel:

    „Kraut und Rüben“ hat der von mir beschriebene DJ nicht aufgelegt. Es ist halt eine Kunst, Aufnahmen zwar musikalisch passend zu sortieren, jedoch die Spannung durch überraschende und originelle Kombinationen nicht abflauen zu lassen. Es gibt auch einen Unterschied zwischen einem Picasso und dem Gekleckse eines Kleinkinds, auch wenn der sich manchem nicht erschließen mag.

    Das verstehe ich unter wahrer Produktivität.

    Und nein, die Ansprüche des Publikums steigen nicht mit den technischen Möglichkeiten! Die Sonntagvormittagsshows eines Stefan Mross mögen technisch perfekt und in HD-Qualität ausgestrahlt werden – die Schwarzweißsendungen eines Hans-Joachim Kulenkampff schlagen sie aber um Längen…

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