Damenwahl


Kürzlich erhielt ich die Mail einer treuen Leserin meines Blog aus Berlin. Seit einiger Zeit erlernt sie die führende Rolle, was sie als sehr vorteilhaft empfindet.

Ich solle doch mal einen Artikel zum Thema „Auf der anderen Seite tanzen" schreiben. Nach meiner Ansicht aber, so meine Antwort, sollte dies eine Frau unternehmen. Daher schlug ich der Tänzerin einen Gastbeitrag vor.

Zu meiner Freude ging sie darauf ein. Da führende Frauen speziell in der traditionellen Tangoszene teilweise kritisch betrachtet werden, bat sie mich, das Pseudonym „Quotenfrau“ verwenden zu dürfen. Mir ist ihre Identität bekannt, und ich übernehme selbstredend die redaktionelle Verantwortung für den Beitrag.

Hier also ihr Bericht mit dem Titel Damenwahl":


Nach zwei Jahren des Folgens in Berlin fing ich kürzlich zusätzlich das Führen
an – ein wahrlich hartes Brot: Zusätzlich zur Technik noch auf Lücke navigieren,
sich ein spannendes Programm ausdenken, die Dame aber auch nicht überfordern.

Ich weiß jetzt, was die Herren da allabendlich leisten, und warum es zwei Jahre
braucht, bis sie milongagängig sind! Viele wechseln nach ein paar Monaten
allerdings lieber zum Fußball oder Bowlen, da stellt sich der Fortschritt wohl
schneller ein, während Damen schon nach ein paar Monaten durchaus auf Milongas
mitmischen können, mir ging es weiland als Folgende nicht anders.

Grund fürs Führen bei mir war die hohe Belastung der Fußgelenke durch Ochos und
das viele Sitzen... Mit meinen 1,82 m (wirklich!) kamen die Herren eh nie in
Scharen, und die 20 Lenze sind nun auch schon 20 Jahre her.

Es tut sich aber jetzt schon nach 2 Monaten eine ganz neue Welt auf. In den Kursen ist immer eine Folgende für mich übrig (oder drei), die Kursdamen schätzen mein gutes Anfängerniveau (Vorteil der anderen Seite), versichern sich meines nächsten Kursbesuches, und auf Milongas muss ich nicht mehr passiv rumsitzen. Gar nicht. Nie niemals nicht! Wenn kein Herr rüberblinzelt, klemm ich mir halt die gelangweilte Sitznachbarin unter den Arm, und los geht ́s. Es ist wahrlich eine Offenbarung!

Folgende Herren hatte ich bisher nicht, aber an Damen ist ja kein Mangel. Sie sind oft überrascht über mein Ansinnen, machen aber gerne mit. Mein Stil ist natürlich nicht auf erotisch-knisternd ausgelegt, vielmehr auf spaßig-ungewöhnlich. Gern mal die Basse rechtsrum tanzen, das Kreuz auf der dunklen Seite und Ähnliches, damit kann man auch mit kleinem Repertoire die Dame angemessen unterhalten.

Am gestrigen Samstag traute ich mich zum ersten Mal ohne das Etikett „Anfänger" auf eine normale Milonga, diese bekannt als kreuztraditionell. Als Folgende verbrachte ich dort schon einmal drei Stunden hauptamtlich mit Nichtstun, bis auf einen einzigen Einsatz. Gerade deswegen wollte ich es als Führende dort
versuchen.

Ich war natürlich die einzige Führende, bei Neo-/ oder Gemischtveranstaltungen
ist das üblicher. Die erste Dame drückte sich mit einer Ausrede, die zweite ließ
mich nach dem ersten Tanz stehen. Die dritte und vierte waren nett und nachsichtig. Die fünfte war aus dem fernen Hamburg angereist und selber Anfängerin, das harmonierte gut. Danach wurde es zu voll für mich zum Navigieren, und ich bin noch ein paarmal gefolgt.

Dass die Szene generell nicht sehr anfängerfreundlich ist, ist ja kein Geheimnis.
Da muss man sich halt ein dickes Fell zulegen. Ich kann gelangweilten Damen nur
raten zu führen. Gerade wenn Frau die andere Seite schon solide kann, lernt man
es schneller, und Frau kommt aus dieser Passivität heraus.

Fürderhin bleib ich erst einmal bei (den wenigen) Anfängerveranstaltungen oder
Neoabenden, da ist das Publikum nachsichtiger und offener für Ungewöhnliches.
Seien es gespiegelte Figuren oder ungewohnte Rollenbesetzungen. In Berlin gibt
es eine Weibermilonga, das ist mein nächstes Ziel mit bestimmt mehr Einsätzen.


Herzlichen Dank für den Text – ich hoffe auf eine Fortsetzung, das könnte spannend werden. Übrigens bedeutet der Begriff „Damenwahl“ für mich nicht nur, dass Tänzerinnen andere Frauen auffordern dürfen, sondern auch Männer – und zwar generell und mit oder ohne Cabeceo!

Vielleicht können wir dann eines Tages beim Begriff „Quotenfrau“ die Quote streichen – sogar im Tango…

Kommentare

  1. Lieber Gerhard!

    Schöner Beitrag! Respekt an die Quotenfrau für ihr Durchhaltevermögen.

    Selber schuld, wenn Frauen lieber herum sitzen, anstatt mit einer anderen Frau zu tanzen. Aber es stimmt, es ist offensichtlich mind. genauso schwierig, eine Frau aufzufordern als aktiv einen Mann. Erst kürzlich kam ich diesbzgl. mit der Tanzpartnerin einer Führenden in's Gespräch. Als ich kundtat, dass ich auch mit Frauen tanze meinte sie, das werde sie gleich ihrer Partnerin weitergeben, denn diese traue sich eigentlich keine (fremden) Frauen auffordern; zu oft gäbe es Körbe.

    Klar ist es anders, mit einer Frau zu tanzen. Aber ist es deswegen weniger schön? Da ist die Musik, die man gemeinsam hört und da ist die gemeinsame Bewegung dazu. Fehlt dann den Frauen, die Tänze mit Frauen ablehnen, der "Knisterfaktor"? Oder befürchtet frau, dann von Männern noch weniger aufgefordert zu werden?

    Interessanterweise hatte ich unlängst ein Gespräch mit einem folgenden Mann. Was ja schon eher ungewöhnlich ist. Es ging dann auch um's Auffordern und ich überlegte, ob denn ein folgender Mann auf einer "normalen" Milonga außer mit seinem Partner überhaupt zum Tanzen käme (außer evtl. mit führenden Frauen) und wie er aufgefordert würde. Leider konnte mir der Mann noch keine Erfahrungswerte mitteilen, er tanzte erst ein halbes Jahr...

    Herzliche Grüße
    Sandra


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    1. Liebe Sandra,

      ich habe mich sehr gefreut, dass die Tänzerin aus Berlin mir die Veröffentlichung gestattet hat. Bekanntlich bin ich stets auf der Suche nach „O-Tönen“: Wenn ich selber was schreibe, kann man das leichter als „Minderheiten-Position“ abtun. Meinungsäußerungen Dritter erzeugen schon größere Nervosität in gewissen Kreisen…

      Klar kriegen auch auffordernde Frauen Körbe – übrigens mehr von Tänzern als von Tänzerinnen, da muss man halt durch.

      Tatsächlich werden führende Damen von einer bestimmten Männerspezies nicht aufgefordert – das kann aber durchaus eine Gnade sein!

      Folgende Männer sind heute eine Rarität – in der Tango-Frühzeit war das eine Grundkompetenz: Männer erlernten normalerweise zunächst die folgende Rolle. Aber es gibt gewisse Traditionen, mit denen sich „Traditionalisten“ lieber nicht beschäftigen…

      Wenn man einmal von der Konzentration auf das „Geschlechterthema“ wegkäme, könnte der Tango weit mehr Spaß machen.

      Vielen Dank für Deinen Beitrag und liebe Grüße!
      Gerhard

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