Einfach mal eine Milonga für Tänzer?



Der Nachteil des Himmels besteht darin, dass man die gewohnte Gesellschaft vermissen wird.
(Mark Twain)

Hinweis: Dieser Artikel hat sicherlich auch aktuelle Bezüge, allerdings verfolgen mich die entsprechenden Eindrücke seit einiger Zeit. Die Frage, wer denn nun konkret gemeint sei, lenkt eher vom Verständnis des Textes ab!

Schon länger habe ich das Gefühl, als ob die „großen Tango-Events“ nicht mehr so viel Zulauf haben wie früher – und Gäste berichten mir von nachlassender Zufriedenheit. Für ein Indiz halte ich es auch, dass Einladungen zu einer solchen Veranstaltung immer öfter bei mir eingehen – oft verbunden mit der Information, bei den begleitenden „Workshops“ seien (sogar kurz vorher) noch Plätze frei. Die sozialen Netzwerke quellen über von gleichförmigen Anpreisungen. 

Die höheren Eintrittspreise für eine solche Sause mit Livemusik, Showtanz, Schuh- und Fummelverkauf mögen zur Abschreckung beitragen – nur gab es die früher auch schon. Der tiefere Grund scheint mir eher zu sein, dass dieses Format ohne Ende abgekupfert wird: Hatte man früher vielleicht einmal jährlich Gelegenheit, sich bei einer Milonga mit Tangozubehör auszustatten, gibt es derzeit solche Bälle und Festivals im Wochen(end)takt – fast stets mit dem neuesten, ultimativ-argentinischen (oder schlimmstenfalls saarländischen) Lehrerpaar.

Ich besuche solche Veranstaltungen kaum noch. Abgesehen davon, dass mich „Workshops“ nicht interessieren, ich die meisten uniformen Vortanzereien langweilig finde, keine speziellen Tanzklamotten brauche und meine Sneakers bei „Amazon“ kaufe: Das Publikum solcher Events scheint mir nicht vorrangig am Tanzen interessiert,  sondern an einem „Ballbesuch“ inklusive Sehen und Gesehenwerden, Shopping, Prosecco, Häppchen und oberflächlichem Smalltalk. Das Tanzen beschränkt sich alibimäßig auf einen fast ruhenden Kreisverkehr.

Am ehestens könnte mich noch die Livemusik reizen, wenn man den Interpreten nicht schon längst aufgetragen hätte, „hundertprozentig tanzbar“ zu spielen – also auf eine individuelle Interpretation zu verzichten zugunsten des Nachahmens der Orchesteraufnahmen von anno dunnemals. Im Schwinden begriffen ist auch das Konzept, die Musiker ihr Können in einem anfänglichen Konzert zeigen zu lassen, bevor sie nachher wieder brave Tanzmusik spielen müssen. Musikliebhaber gehören in der heutigen Tangoszene zu einer aussterbenden Spezies…

Mein Gegenvorschlag: Wie wäre es stattdessen einmal mit einer „Milonga für Tänzer“? Ein edlerer Rahmen muss ja kein Nachteil sein – insbesondere, wenn es genügend Sitzgelegenheiten, Abstellmöglichkeiten für Getränke, ja sogar Garderoben gäbe, in denen man nicht wegen vollgestopfter Kleiderständer seinen guten Mantel zusammengeknüllt auf dem staubigen Fensterbrett deponieren muss. Und wenn man dann noch eine verständliche Anfahrtsbeschreibung nebst Tipps zum Parken bekäme… aber lassen wir diese Fantasy-Themen!

Aber was ist wirklich essenziell für jemand, dessen Leidenschaft dem Tanzen gehört? Vier Dinge: eine gut zusammengestellte und technisch hochwertig abgespielte Musik, ein gut geeigneter Boden, problemlose Aufforderungs-Möglichkeiten und vor allem Platz!

Nach meiner Erfahrung fehlt es daran auch bei teuren Events oft hinten und vorne. Ich behaupte: Wenn die Musikqualität nicht stimmt, kann man höchstens bei den Gästen gewinnen, die eher zum Essen, Trinken oder Plaudern gekommen sind. Dabei geht es mir nicht einmal um die Entscheidung für traditionelle oder moderne Tangos – aber in beiden Sparten habe ich schon viele konzept- und fantasiefreie, hingeschlampte Aneinanderreihungen von Titeln gehört. Vorherige Soundchecks sowie Abgleich der Setlisten von Musikern und DJ scheinen zum hohen Luxus zu gehören. Professionell agierende Künstler kosten zwar etwas, bei einem höheren Eintrittspreis sollte das jedoch zu finanzieren sein – der Veranstalter muss sich allerdings darum kümmern, dass die ihre Hausaufgaben machen, anstatt es dem Verlauf des Schicksals zu überlassen!

Ebenfalls verzichtbar sind für mich Tänze auf Fliesenböden, pappigen Wirtshausdielen oder Gummimatten mit Babypuder bzw. gar Kaffeemehl als Gleitmittel sowie mit dergestalt versauten Schuhen und Hosenbeinen. Die Bretter, welche Tänzern die Welt bedeuten, nennt man Parkett (welches es übrigens mühelos verträgt, gelegentlich mit Seifenlauge und Schrubber gereinigt zu werden).

Und wieso muss es eigentlich beim Tango oft so eng zugehen? Für nix ist Platz, weder für Klamotten, Schuhbeutel und Getränke noch gar auf der Tanzfläche! Selbst meine langen Beine darf ich immer wieder in artistischer Verrenkung unter Plastiktischchen vom Sperrmüll parken, damit auf der Tanzfläche keiner drüberfällt. Wenn eine Milonga oder ein Supermarkt sich regen Zulaufs erfreut, ist das doch schön! Geschäftsleute reagieren darauf meist mit einer Vergrößerung ihrer Ladenfläche oder der Gründung neuer Filialen. Tangoveranstalter dagegen bieten dann Kurse an wie „Tanzen auf engstem Raum“.

Wäre Frau Anna Albrecht im Tango statt im Backwaren-Verkauf tätig gewesen, hätte sie wohl für ihren stark frequentierten Tante Emma-Laden genaue Laufrichtungen und Schrittbeschränkungen für ihre Kunden verordnet. Stattdessen bauten ihre Söhne Theo und Karl das Geschäft mit großzügig gestalteten Supermärkten (inklusive riesigen Parkplätzen) zu dem aus, was wir heute als „Aldi“ kennen.

Übrigens hat es dieses Geschäftsimperium auch geschafft, den Ruf des Billig-Discounters loszuwerden: Wöchentlich werden die Kunden mit interessanten, teilweise hochwertigen Sonderangeboten gelockt anstatt ihnen jahraus, jahrein den gleichen Ramsch anzudrehen. Im Tango steht diese Entwicklung noch weitgehend aus…

Weiterhin bin ich davon überzeugt, dass der Tango hierzulande jährlich eine vierstellige Zahl von Frauen verliert, die mit dem männlich dominierten Aufforderungsgetue nicht klarkommen. Lasst die Leute endlich wieder ihre Tanzpartner so suchen, wie sie es möchten! Ich kenne bundesweit einen einzigen Veranstalter, der dies laut und deutlich propagiert: „Tango Luna“ in Kaufbeuren. In den Einladungen des Vereins heißt es: „Wie immer fordern bei uns Frauen und Männer gleichermaßen auf, mit oder ohne Cabeceo.“


Klar ist es hilfreich, Tänzerinnen zu animieren, selber führen zu lernen (und es gibt viel zu wenig einschlägige Kursangebote) – noch besser aber wäre es, gleichberechtigtes Auffordern zum Normalfall zu erklären! Und die paar Männer, welche dann beleidigt wegblieben, braucht im Tango kein Mensch, da sie auch sonst das Sozialverhalten nicht wirklich fördern. Und nein, bevor ich wieder belehrt werde: Mirada und Cabeceo erleichtern die Partnerwahl nicht – und schon gar nicht, wenn dabei Tänzerinnen aktiv werden wollen!

Stattdessen bietet der Tango als beinahe letztes Refugium des offen deklarierten Machismo Zugangsbeschränkungen für Frauen bei Encuentros, Marathons und ähnlichen Events. Und dies in Zeiten eines Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)! Man muss hierzulande lange suchen, um Vergleichbares zu finden: Lediglich vereinzelte Friseursalons, etliche schräge Clubs sowie die Herbertstraße auf der Reeperbahn arbeiten noch mit solchen Anachronismen. (Juristisch ist diese allerdings öffentlicher Raum und daher für alle zugänglich.) Im Ausland böte sich noch die Mönchsrepublik auf dem Berg Athos an!

„Der Kongress tanzt“ hieß es einst im Wien der Metternich-Ära. Beim Tango, so fürchte ich, wird der Tanz inzwischen zum Kongress…

Ich bin auch nicht traurig darüber, dass die große Tangowelt meine Anregungen als wirklichkeitsfremd abtun wird – mit dem Argument, ich hätte keine Ahnung, wie beliebt die einschlägigen Nobelevents sind. Wir konzentrieren uns lieber auf unsere Bonsai-Milonga in Pörnbach: Vergrößern können wir unsere Tanzfläche zwar nicht – daher muss man sich rechtzeitig anmelden. Die Garderobe ist geräumig, zum Musikprogramm gibt es ausführliche Beschreibungen, und da einige weibliche Stammgäste auch führen können, ist für uns die „Gender-Balance“ kein Thema. Auffordern und tanzen darf jeder, wie er mag und kann. Unser Kaffee, Tee und Kuchen sind hoffentlich genießbar, halten aber kaum jemand vom Tanzen ab. Und es gibt bei uns nur eine einzige „Clique“, nämlich die Gemeinschaft aller Gäste. „Gesichtskontrollen“ brauchen wir nicht.

Anfangs dachte ich schon gelegentlich darüber nach, wie mit Gästen umzugehen sei, welche ein derartig unterirdisches Sozialverhalten mitbrächten, wie ich dies auf anderen Milongas immer wieder mal erlebe. Doch, oh Wunder: Solche Zeitgenossen kommen gar nicht erst zu uns – oder melden sich ganz schnell wieder ab.

Mark Twain, obwohl kein Tangotänzer, hat recht: Wenn man gewissen Menschen im Himmel nicht begegnen möchte, sollte man sie schon auf Erden meiden – und damit auch Veranstaltungsformate, welche diese anlocken!

Grafik: www.tangofish.de
 

Kommentare

  1. Da nun von Lesern in Zweifel gezogen wurde, ob mit dem Wort "Tänzer" in der Überschrift auch Frauen gemeint sind, hier meine Stellungnahme:

    Die Überschrift „Einfach mal eine Milonga für Tänzerinnen und Tänzer?“ ist nicht knackig genug, und das Binnen-I hasse ich wie die Pest. Na gut, ich hätte „Tanzende“ schreiben können. Ich meinte aber eine Einstellung und keine Tätigkeit.

    Daher ein Gender-Disclaimer von berufener Stelle:

    „Sexusneutrale Bezeichnungen für Menschen wie Professor durch das Movierungssuffix -in sexuszumarkieren, ist im Prinzip immer möglich, aber nicht zwingend, denn sexusneutrale Bezeichnungen gelten selbstverständlich für beide Geschlechter: Mit Professor bezeichnen wir sowohl einen Mann als auch eine Frau. (…)
    Man kann sich darauf berufen, dass früher in der Sprachgemeinschaft niemals irgendein Zweifel daran aufgekommen ist, dass der Bürgersteig auch für Frauen da ist, dass ein Führerschein auch für Frauen gilt, dass in einem Nichtraucherabteil auch Frauen nicht rauchen sollen. Es galt nämlich seit alters die Regel: Für Sammelbezeichnungen einzelner Gruppen, bei denen die Geschlechtszugehörigkeit so wenig interessiert wie andere Merkmale (Beruf, Alter, Größe, Haarfarbe und so weiter), wird die kürzere Grundform verwendet. Aus sprachhistorischen Gründen ist diese Form meist von maskulinem grammatischen Geschlecht, aber nicht immer: Geiseln, Seelen, Personen, Persönlichkeiten, Fach- und Führungskräfte sind Feminina, von denen sich gleichwohl nie ein Mann ausgegrenzt gefühlt hat.“

    http://hypermedia.ids-mannheim.de/call/public/fragen.ansicht?v_id=3050

    Und übrigens hat sich noch nie jemand beschwert, dass man „Lügner“ oder „Verbrecher“ schreibt und nicht „Lügnerinnen und Lügner“ bzw. „VerbrecherInnen“. Da hat sich wohl bislang keine Frau ausgegrenzt gefühlt…

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  2. Hi Gerhard,

    du schreibst: "Stattdessen bietet der Tango als beinahe letztes Refugium des offen deklarierten Machismo Zugangsbeschränkungen für Frauen bei Encuentros, Marathons und ähnlichen Events. Und dies in Zeiten eines Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)!"

    Mit "Machismo" hat das nun aber nix zu tun (welcher Macho würde es denn nicht bevorzugen, wenn viele Frauen, die alle nur auf ihn warten, da sind? ;-) ).
    Allerdings ist es halt doch ein gewisses Armutszeugnis, dass es die Veranstalter nicht schaffen, genügend Männer anzulocken, so dass ein wenigstens einigermassen ausgeglichenes Geschlechterverhältnis vorhanden ist. Das ist dann der (alten, aber auch im aktuellen Feminismus vorherrschenden!) Denkweise geschuldet, dass man Frauen so weit wie möglich von jeglicher Unbill schützen müsse, und es keiner Frau zumuten darf, für sich selber Verantwortung zu übernehmen (beim Tango z.B. selber führen lernen, aktiv selber Männer oder Frauen aufzufordern, anstatt "brav" rumzusitzen und mit zunehmendem Frust auf den "Traumprinzen" zu warten, der sie endlich mal auffordert ...)


    Ciao, Robert

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    1. Der Bezug meines Zitats ist ein anderer:

      Mir ging es darum, dass die Veranstalter offen ein gleichberechtigtes Auffordern von Frauen propagieren sollten (mit oder ohne Cabeceo).

      Und wenn man für gewisse Milongas wegen der "Gender-Balance" überzählige Tänzerinnen abweist, können die Damen halt auch bei größter Eigenständigkeit nix machen. (Ein Verklagen der Organisatoren wegen Verstoßes gegen das AGG wäre zwar lustig, würde aber wohl juristisch nichts bringen).

      Inwiefern aus meinem Text hervorgeht, man müsse Frauen "von jeglicher Unbill schützen" oder man dürfe keiner zumuten, "für sich selber Verantwortung zu übernehmen", erschließt sich mir nicht.

      Eher schützt man mit den von mir beschriebenen Verhaltensweisen Männer vor jeglicher Unbill.

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