Doppelblindstudie
« Tango es Una Manera de Ser »
(„Tango
ist eine Daseinsform“)
Horacio
Ferrer
Jüngst
sind auf meinem Blog mehrere Beiträge zu den Problemen von Anfängern erschienen. Dies hat zu etlichen
Kommentaren und E-Mails an mich geführt. Dafür bin ich – dies sei vorausgeschickt
– sehr dankbar! Und wer es noch nicht weiß: Auf Facebook haben wir vor einem
halben Jahr eine (geschlossene) Gruppe gegründet, welche genau diese Klientel
anspricht und für die man sich anmelden kann: „Was Sie schon immer über Tango
wissen wollten…“
Eine
persönliche Nachricht an mich trägt
den obigen Titel. Der Schreiber, offenbar eher noch am Beginn, meint „Doppelblindstudie" so: Er
tue sich beim Auffordern sehr schwer, wenn es sich um eine unbekannte Tänzerin
und zudem noch eine für ihn neue bzw. schwierige Musik handle. Mit den Folgen: „die Aufzufordernde bereits vergeben, schöne
Tanda verpasst...“ Vor allem mit
Piazzolla-Titeln habe er hinsichtlich der „Tanzbarkeit“
Probleme. Andererseits: „zu häufiges
Nichtauffordern aufgrund der Musikauswahl (z. B. zu Piazzolla oder Pugliese )“ komme
dann eventuell auch nicht gut an.
Ob
ich zu diesem speziellen Thema schon etwas geschrieben hätte? Nun, es gibt
meinem Blog eine Suchfunktion (siehe
Sidebar links), mittels der man hoffentlich mit entsprechenden Begriffen fündig
wird.
Ich
habe dem Fragesteller natürlich auch persönlich geantwortet. Aber vielleicht
ist das Thema ja für etliche Leser interessant genug, um auch eine öffentliche,
etwas allgemeinere Bearbeitung zu
vertragen.
Zu
den Zügen unserer Zeit gehört offenbar die Mär, dass jeder alles lernen könne, und
zwar durch Belegung von Kursen, welche ein „Rundum
Sorglos-Paket“ enthalten – Instant-Piazzolla in vier Wochen (so wie
Gehirnoperationen nach einem Semester Medizin), geliefert natürlich von
begnadeten Lehrern aus Buenos Aires mit absoluter Erfolgsgarantie. Wenn dies in
der Praxis nicht funktioniert, hat man ein „Problem“…
Heilsversprechen dieser Art gibt es nicht nur beim Standardtango (übrigens wurde dieses Video über 200000 Mal aufgerufen!):
Heilsversprechen dieser Art gibt es nicht nur beim Standardtango (übrigens wurde dieses Video über 200000 Mal aufgerufen!):
Ich
habe mich umfassend mit der Frage beschäftigt, ab wann eigentlich diese Verschulung des Tango mit Kursen,
Workshops und Trainerstunden für jedermann begann. Offenbar erst ab etwa 1983,
als nach der Militärdiktatur in Argentinien die neue Regierung ein großes
„Volksbildungsprogramm“ auflegte. Wie bereits beschrieben nutzten dies Tänzer/innen
wie Olga Besio und Gustavo Naveira (http://milongafuehrer.blogspot.de/2017/05/gustavo-naveira-und-olga-besio-wenn-die.html).
Die ersten Tangolehrer hierzulande (ab zirka 1985) waren häufig Schüler dieser
„Pioniere“.
Fest
steht jedenfalls: Die hoch gepriesenen Milongueros aus goldenen Tangozeiten
(und erst recht davor) lernten diesen Tanz nicht
in Kursen, sondern zumeist durch Abschauen
auf vielen Milongas, durch das Üben
unter Freunden bzw. das Tanzen auf
den entsprechenden Veranstaltungen. Wollte man mehr, fragte man irgendwann
klopfenden Herzens einen „Maestro“, ob der einen als Schüler akzeptieren wolle. Oft führte
dieser Weg dann über den Bühnentanz zu eigener Bekanntheit, sodass man selber
als „Meister“ angesehen wurde und Privatschüler erhielt.
Das
in der deutschen Tangoszene offenbar weitgehend vergessene Tangopaar Ulrike
und Eckart Haerter, welches ab 1988 in Göttingen unterrichtete, beschreibt
den von ihnen verehrten Lehrer Antonio Todaro (1929-1994) so: „Antonio gehörte noch zu einer Spezies, die heute
buchstäblich ausgestorben ist. Er war ein einfacher Mensch aus dem Volk, mit
einer eher dürftigen Schulbildung, selbstverständlich ohne Ballettausbildung
und ähnlichen ‚Firlefanz‘. Er hatte das Tangotanzen auch nicht bei einem
Tanzlehrer gelernt, das hätte er gar nicht bezahlen können, sondern vom
Abgucken und Üben mit anderen tangobegeisterten Burschen. (…) Antonio Todaro
war einer der letzten lebenden Beweise dafür, dass der Tango tatsächlich eine
künstlerische Schöpfung aus dem einfachen Volke ist. (…) Der Tango vom Rio de
La Plata ist eine Volkskultur, die sich aus der Mitte des Volkes heraus zur
Kunst entwickelt hat. Er ist keine Erfindung von Ballettmeistern und blutarmen
Akademikern.“
„Und bei Tango Tanzenden ist die
sinnlose Jagd nach Figuren, ohne wirkliches tänzerisches Können sehr weit
verbreitet. Es ist immer ein Lichtblick, einmal ein Paar zu sehen, das einen
Tango vollständig und im Einklang mit der Musik vom Anfang bis zum Ende
durchtanzt, beziehungsweise dazu überhaupt in der Lage ist. Bei den Tangotanzpaaren der jüngeren Generationen, die heutzutage unterrichtend
und auftretend durch die Welt tingeln, sieht man in der Regel sehr flüssiges und gekonntes Tanzen, das mir persönlich aber
manchmal eher langweilig vorkommt. Mir
fehlt häufig die Differenziertheit im Ausdruck. Ich habe sogar schon
gesehen, dass sich bei sehr guten
Tanzpaaren nicht einmal Milonga und Vals deutlich vom Tango unterschieden.“
(http://haerter-tango.de/goettinger-tango-info-57-2011.pdf)
Vielleicht zur Ergänzung: Ich sehe solche „Showpaare" kaum einmal auf der betreffenden Milonga tanzen – und schon gar nicht mit anderen. Selber könnte ich es nicht aushalten, schöne Musik zu hören und dazu nur rumzusitzen...
Vielleicht zur Ergänzung: Ich sehe solche „Showpaare" kaum einmal auf der betreffenden Milonga tanzen – und schon gar nicht mit anderen. Selber könnte ich es nicht aushalten, schöne Musik zu hören und dazu nur rumzusitzen...
Was Eckart Haerter zum Erlernen des Tango
sagt, unterscheidet sich sowohl heftig als auch wohltuend von heutigen
Marketing:
„In der Tat haben Ulrike und ich nie
zu denen gehört, die finden, dass jeder Mensch Tangotänzer sein muss, oder dass allein unser Unterricht zum Heil führt.
Zum Tango muss man aus eigenem Antrieb
kommen, nicht durch Überredung. Wer nicht schon bei den Namen Buenos Aires und
Montevideo ein magisches Kribbeln verspürt, wem nicht bei der Musik des Libertango
oder beim Klang eines einzelnen Bandoneons, vielleicht mit der Musik zu ‚Fueye‘,
irgendetwas im Innern in Bewegung gerät, sollte nicht mit irgendwelchem
Geschwafel gedrängt werden, etwas zu empfinden, was derjenige nicht von sich
aus zu empfinden im Stande ist. Das war immer unsere Tangopolitik.“
Haerter schreibt auch, Schüler hätten ihn
gebeten, „Tangogefühl“ zu unterrichten, andere Lehrer täten das doch auch.
Ja, was denn
noch? Wann kommt die „Schnupperstunde
Küssen – aber richtig“? Zudem, und da bin ich gleichfalls seiner Ansicht,
gebe es für jedes Paar nur einen „richtigen Tangostil“, nämlich den
eigenen, den man durch heftiges Üben anzustreben habe. Es ist beruhigend zu
lesen, dass es immerhin in der Vergangenheit Tangolehrer gab, denen das noch
klar war! Eine Figur erlernt man in einer halben Stunde – mit der Art, so zu
tanzen, dass es nach Tango aussieht (die Argentinier nennen das „sentido“), beschäftigt man sich das ganze
Leben (und dies auch nur, weil man mehr nicht hat).
Also, lieber
Fragesteller, wird es nix mit dem „Vollkasko-Versicherungsschutz“!
Man sollte schon den Arsch in der gestreiften Hose haben, sich auf das
Abenteuer mit einer fremden Tanguera einzulassen – im Gegensatz zu den
Gründervätern des Tango drohen weder Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Ächtung,
Krankheit noch gar Messerkämpfe! Schlimmstenfalls gerät man an eine arrogante
Kuh, welche verdrängt hat, wie sie selber früher in Mehlsack-Manier übers
Parkett getaumelt ist…
Noch mehr amüsiert
hat mich allerdings das Bekenntnis des Schreibers, er kenne „die
Tangomusik“ nicht, welche ihn eventuell erwarte. Nun, das könnte man noch
leichter ändern als das andere „Problem“: Auf traditionellen Milongas kommt man
mit 200 Titeln locker aus – und bei Pugliese
reichen erstmal „La Yumba“ und „Gallo ciego“, vielleicht noch „Negracha“. Und sollte – was vielerorts
fast ausgeschlossen ist – doch mal was von Piazzolla aufgelegt werden, kommt
man mit „Libertango“, „Verano porteño“ und „Oblivion“ sehr weit. Und wenn eine Runde
Neotango kommt: Wer da den
runtergehackten Viervierteltakt nicht hinkriegt, sollte sich vielleicht doch
eine von der Musik Lichtjahre entfernte Freizeitbeschäftigung suchen…
Mit den
heutigen, kostenlosen oder sehr preiswerten Musikportalen im Internet müsste das locker zu schaffen sein! Und wer
hindert einen daran, dazu regelmäßig im Wohnzimmer allein an der tänzerischen
Einstimmung zu arbeiten? So ganz „blind“ sollte man anschließend auf den
Milongas nicht mehr rüberkommen. Aber nein – offenbar muss auch die Musik erstmal im
Kurs geliefert werden! Doch Hunde, die man zur Jagd tragen muss...
Merke: Tango kann einem so viel schenken, dass es vom Schicksal ungerecht wäre, wenn man ihn leicht erlernen könnte!
Abschließend
erwähnt der Fragesteller, dass ich als Raucher hier privilegiert sei, da ich
bekanntlich vor „nicht zusagender Musik“
zu einer Zigarettenpause vor die Tür
flüchte. Er sei jedoch Nichtraucher. Daher habe ich für ihn einen noch gesünderen
Vorschlag: Bei aufkommender Furchtsamkeit einfach nach draußen gehen,
einige Züge frischer Luft tief einatmen und sich klar zu machen, dass man bei
Frauen als Schisser noch schlechter wegkommt denn als Stümper. Anschließend
reingehen und die erste beste (?) auffordern! Und mit etwas Augenzwinkern wird
der folgende Tanz dann hoffentlich höchstens eine „Halbblind-Studie“…
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