Multifaktorielle Vermittlungshemmnisse
Dieser
wunderbare Begriff – so erfuhr ich jüngst aus gut unterrichtenden Kreisen –
wird gerne im Umfeld der Bundesagentur für Arbeit und diverser
Qualifizierungsmaßnahmen gebraucht. So eingefärbt vermeidet man die politisch unkorrekte
Beschreibung als „dumm, arbeitsscheu und
versoffen“ einer Klientel, welche man zu meiner Jugendzeit noch „asozial“ genannt hätte.
Auch
beim Tango, so fürchte ich, wäre das schöne Wort fallweise durchaus angebracht,
allerdings eher auf der Anbieterseite.
Schon öfters hat mir das Netz auf der Suche nach Informationen für Anfänger gar
Schröckliches aufgetan – nun wollte ich es einmal systematisch probieren:
(Edit: Das Video ist nun nicht mehr öffentlich zugänglich - ein Rest von Schamgefühl war wohl vorhanden...)
Ich möchte es bei einem Kommentar belassen, welchen ich
unter dem Video fand: „Au weia. Hoffen wir mal alle, dass nicht versehentlich
nen Argentinier reinzappt ;)“
Ja
wieso denn? Er unterrichtet die 8-er
Basse, quasselt die ganze Zeit – und Musik kommt erst ganz am Schluss. Authentisch
argentinisch! (Allerdings hätte ich hier lieber mit der Stechpalme getanzt...)
Auch die zweite Fundstelle beschreibt diesen Schritt, jedoch nur verbal und aus der Sicht des Tänzers. Anschließend wird das
Grundschritt-Dingens variiert:
„Diese (Basis-)Figur wird nicht immer mit dem hier
beschriebenen 1. Tangoschritt begonnen, sondern kennt unterschiedliche mögliche
Ein- und Ausstiegspunkte. Auch Verkürzungen sind tanzbar. Beispiel: Der Mann
kann die Frau aus der Cruzada (s. 5. Tangoschritt) direkt zurück zum 2.
Tangoschritt führen oder auf den 7. Tangoschritt seinen linken Fuß ohne Gewicht
an den rechten schließen und mit Seitschritt links direkt zum 2. Tangoschritt
gelangen.“
Macht
ein Anfänger doch mit links, oder? Und überhaupt:
„Man darf nicht
vergessen, dass die Base – hier wurde die Version "paso basico
cruzado" beschrieben – nur ein Hilfskonstrukt für ein besseres Vermitteln
des Tanzes im Tango-Unterricht ist. Fortgeschrittene Tänzern tanzen sie äußerst
selten.
Deshalb wird die Base oftmals nicht
als Grundschritt gelehrt, sondern als eine interessante fortgeschrittene
Kombination. Besonders der erste Schritt wird normalerweise weggelassen oder
durch einen anderen Schritt ersetzt, da bei einem Rückwärtsschritt die
Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit nachfolgenden Tanzpaaren gegeben ist. In
den klassischen Salons der argentinisches Hauptstadt Buenos Aires wird ein
solcher Rückwärtsschritt grundsätzlich nicht getanzt.“
Prima, und
in der nächsten Stunde lernen wir, dass den ganzen Schmarrn kein Mensch braucht!
Die nächste Quelle rät von solcherlei Einstiegen dringend
ab:
„Ein guter Tanzlehrer sollte den Argentinischen Tango ‚bühnenreif‘
präsentieren können und nicht direkt mit der Vermittlung von Schrittfolgen wie
der ‚Basse‘ beginnen, sondern eher die elementaren Prinzipien des Tanzes wie
Körperhaltung, richtiges Gehen, Führen und Folgen an den Anfang des Unterrichts
setzen.“
Na
gut – „bühnenreif“ lassen wir mal stehen. Warum er mit den „Grundregeln“ in weniger als zehn Zeilen fertig wird, in der Folge
allerdings fast vierzig „Figuren“ beschreibt, bleibt das Geheimnis des
Verfassers. Höchst fantasiereich wirken vor allem deren Namen:
gelaufener Ocho
(vorw)
Luna Media (=
Halbmond re)
360° Linksdrehung mit
Lapis (= "Bleistift", Rondé)
Die
nächste Seite verspricht zwar allerlei Schritte und sonstige Informationen,
jedoch nur per Abo für schlappe 9,95 € monatlich. Da auf der Seite „Tango
argentino“ das Foto eines angejahrten Standard-Turnierpaars prangt, habe ich
das lieber gelassen…
Bei
manchen Webseiten fragt man sich, ob der Verfasser selber bislang auch nur einen
einzigen Tango selber vollführt oder sich den ganzen Quatsch restlos aus dem
Internet zusammengegoogelt hat. Zu den „Tango-Stilen“
erfahren wir beispielsweise:
„Daneben gibt es noch
die beiden ausgefallenen Richtungen Tango Milonga und Vals (…) Vals ist eine
mit dem Walzer gekreuzte Form des Tangos, ebenfalls mit sehr langer Tradition.
Noch heute wird sie auf Tanzpartys in Argentinien sehr gerne getanzt.“
Tango
lernen könne man in verschiedenen Städten:
„In München können
Sie Tango Argentino in der Schule von Jörg Velletti lernen.“
Weiterhin
gibt es – auch für Bayern – eine ellenlange Liste mit Orten, wobei meist lediglich
das Angebot eines einzigen, mir völlig unbekannten Tangopaars verlinkt ist,
welches einen 90 Minuten-Einführungskurs anbietet:
„Tango ist Stolz,
Anmut und Leidenschaft. Sieht es nicht traumhaft aus, wenn die feurigen
Tango-Pärchen übers Parkett wirbeln? Das können Sie auch lernen – Sie müssen nur
den ersten Schritt wagen. In diesem Tangokurs haben Sie die Gelegenheit dazu
und können einfach mal probieren, ob der Tango Sie mitreißt. Lassen Sie sich
vom Rhythmus treiben und spüren Sie die Sehnsucht dieses Tanzes. Tango
Argentino entsteht aus Empfindung für die Musik, die alles verbindet.
Entzünden Sie das Feuer, das in Ihnen steckt!“
Entzünden Sie das Feuer, das in Ihnen steckt!“
Motto:
„Legen Sie eine kesse Sohle aufs Parkett!“
Der folgende Text stammt von einer Person, welche sich
nach eigenen Angaben „viele Jahre von
deutschen wie auch von argentinischen Tanzlehrern ausbilden“ ließ:
„Die milonguera (die
Tango-Tänzerin) mustert die anwesenden Tänzer, ihr Blick streift über mehrere
Tische, sie wartet auf das richtige Zeichen. Aber zuerst muss sie einen Fremden
direkt und intensiv anschauen. Sein Signal ist ein cabezazo, eine rasches
Nicken. Nickt die milonguera mit einem leichten Lächeln zurück, so hat sie das
Angebot angenommen. Der milonguero steht auf, lächelt intensiver und kommt zum
Platz der Tänzerin. Sie erhebt sich ebenfalls und beide gehen zusammen auf die
Tanzfläche. Tut die Frau hingegen so, als habe sie das cabezazo nicht gesehen,
dann wird es nichts mit der Umsetzung der Tanzabsicht des Mannes.“
Tja,
Wegschauen kann wirklich manchmal helfen…
Heilsversprechen finden sich auf den
meisten Seiten von Tangoanbietern. Nicht immer aber ist der Zuckerguss derartig
dick:
„Alexandras &
Alexanders einfühlsame Schulungsmethode ermöglicht Dir schnelle Fortschritte
und ein angenehmes Lernen: Sie vermitteln speziell ‚la sensación del Tango‘ das Tango-Gefühl und
damit die Grundlage für das Tanzen auf Tango, Vals und Milonga: Tangotanzen wie in Buenos Aires und
Montevideo. Stell Dir vor wie Du schon nach einigen Übungen mit
Sinnlichkeit und Achtsamkeit Tango tanzt. Du wirst Dich und Deinen Partner
völlig neu erleben. Versprochen.“
Immerhin
muss man dem Autor eines lassen: Er ist schon ein süßes Kerlchen…
(https://www.tangoschokolade.de/tangokurse/tango-einsteiger
https://www.tangoschokolade.de/tangokurse/tango-privat-stunden)
https://www.tangoschokolade.de/tangokurse/tango-privat-stunden)
Eher
poesievoll (und gar nicht
unsympathisch) versucht es ein anderer Tangolehrer, welcher dann allerdings
beinahe in den Fluten seiner Metaphorik absäuft:
„Das
Führen und Folgen ist unser Fundament, das nicht gleich einem gegossenen
Zement, der getrocknet ist, in uns Gedanken abruft, sondern ein feingestricktes
Mittel, das uns nicht gleich an ein Weichmittel erinnert, sondern an eine
Mischung aus flexiblen Materialen, die sich umformen und Aufschwingen lassen,
wenn wir sie anrühren. Nur so können wir eine feingestrickte Kunst bilden, um
diese später grazil zu schleifen und fein abzustimmen. (…) Die Folgenden
kopieren die Bewegungen der Führenden und setzen diese mit ihren Körper (nicht
voreilig und auch nicht ganz später, etwas später als früher) um.“
Fast
stets wird sofortiger Erfolg
garantiert:
„Wie lange dauert es, Tango zu lernen?
Die Lernzeit variiert von Person zu Person. Aber bereits nach der ersten
Tangostunde kannst du an unserer Milonga teilnehmen und tanzen.“
Irrtum: teilnehmen ja, tanzen nein!
Auch in der Heimatstadt
des Bandoneons finden wir noch die authentische Tangoatmosphäre:
„Tango Argentino in Krefeld: Es knistert in der
Luft, rotes Licht auf dem Parkett, gesenkte Blicke, doch der Puls steigt, die
Schritte werden schneller, halten inne, ein kurzes Verweilen, ein Gefühl für
die Ewigkeit: Tango Argentino - Emotion pur. Erleben Sie verspielte Grundschritte,
eine starke Führung, jede Menge Leidenschaft und ein Stück Argentinien.“
Meine Bloggerkollegin Manuela Bößel (die fast stets zu den Erstlesern meiner
Manuskripte gehört) kommentierte diesen Text wie folgt:
„Das ist so, als würde man einer Katze die
konfektionierten Schlachtabfälle der Fertignahrung als ‚Frischmaus‘ verkaufen.“
Man muss starke Nerven haben, um
sich durch den gequirlten Quark der ersten fünf Google-Seiten mit „Tango-Informationen“
zu arbeiten: Ein Laie trifft hier wahrlich auf „multifaktorielle Vermittlungshemmnisse“.
Ein halbwegs realistisches Bild entwirft immerhin ein
Artikel der „Zeit“:
„Es gibt einen guten
Grund, warum nur wenige Tango tanzen: Tango ist schwer. Er setzt sich nicht aus
längeren Schrittfolgen zusammen wie die Standardtänze oder der Salsa, sondern
aus kleinsten Schrittkombinationen. Diese Variantenfülle hält den immerfort
führenden Mann auf Trab. Unablässig überlegt er, welche Schritte angesichts
einer sich öffnenden Lücke zwischen anderen Paaren, des noch unbekannten
tänzerischen Könnens seiner Partnerin oder einer näherkommenden Wand möglich,
sinnvoll oder gar elegant sind. Er kalkuliert, welche Konsequenzen dies für die
folgenden Schritte von ihm und ihr hat und wie er seine Absichten durch eine
kurze Gewichtsverlagerung oder sanften Druck auf ihre Schulter vermitteln wird.
Sich ansehen ist nicht: die Körper sprechen miteinander.
Diese ständige
Konzentration (Er: Was tanz' ich jetzt? Sie: Was will er jetzt?) hat Folgen.
Tangotänzer sind mit einem Ernst bei der Sache, der Nichttänzer abschreckt.
Während beim Discofox erst nach drei Gläschen der rechte Schwung aufkommt, kann
ich Tango nur nüchtern tanzen. Tangotänzer sind daher bei Gastwirten wenig
beliebt. Mit 1,5 Litern Apfelschorle haben sie einen ganzen Abend lang prima
Stimmung.“
P.S.
Der einzige Text, welcher Anfängern vernünftige
Informationen liefert, ist schon einige Jahre alt – und: Die Quelle liegt
inzwischen still. Ist der Verfasser vor den heutigen Tangoverhältnissen geflohen?
Ich könnte es mir gut vorstellen…
http://archiv.alessandrohaas.de/tango-argentino-anfaenger-crashkurs/
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