Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt... 9
Weiter
geht es in meiner Serie – und diesmal nimmt Gastautorin Manuela
Bößel sich ein zentrales Problem des Tanzens vor: die untere Hälfte
unseres Gestells.
Oft
denke ich mir beim Anblick gewisser Parkettaktivitäten: „Augsburger
Puppenkiste“... Wenn die Marionetten eine Treppe hinaufsteigen,
werden sie ja in Wirklichkeit von den Spielern hochgehoben.
Verschleiert wird dies durch ein Fake-Getrappel der Beine und Füße.
Oder,
im anderen Extrem, bekommt man den Eindruck, die Tänzer/innen
müssten bei ihren Schritten eine Kompanie Mistkäfer tottreten!
Daher
nun Tipps für ein entspanntes und dennoch stabiles Geläuf von
unserer „gelernten Augsburgerin“:
Manuela Bößel: Life hacks für eine gute Haltung
Im ersten Teil von „Pimp dein Gestell ganz schnell“ hast du gelernt, deine Haltung vom Beckengürtel - von deiner Mitte ausgehend - entspannt aufzurichten:
- Deine Achse trägt deinen Rumpf ideal - dein Damm liegt unter deinem Herzen.
- Dein werter Popo entkrampft vergnügt und widmet sich locker und differenziert seinen Aufgaben.
- Die queren und tiefen Bauchmuskeln arbeiten jetzt auch gerne
mit und entlasten so die geraden Bauchmuskeln an deiner Vorderseite.
Sie reduzieren ihre Anspannung und lassen dir Raum zum
Atmen.
Das ermöglicht dir, wie in Folge 2 beschrieben, Nacken und Schultern zu befreien:
- Deine Schultern wohnen dort, wo sie hingehören - verbrauchen für's unnötige Hochziehen keine Zusatzenergie mehr, was die Linie deiner Achse empfindlich stören würde.
- Deine Kiefergelenke freuen sich über die neuerlangte Freiheit, wissen, dass Klappern zum Handwerk gehört und kennen die anderweitige Lösung der Probleme, auf denen du so resolut rumgekaut hast.
- Deine Zunge schmiegt sich an's Gaumendach - zufrieden schnurrend wie ein Kätzchen. Das entlastet die Strukturen im und am Hals.
- ... und du lächelst!
Becken, Brustkorb, Schultern, Nacken und dein Kopf hast du mit Pimp Teil 1 und Teil 2 biomechanisch exakt übereinander ausgerichtet. Die Muskelzüge am Rumpf arbeiten nun zufrieden und mit geringstem Energieaufwand zusammen. Bewegungsbremsende, vielleicht sogar schmerzhafte Gegenspannungen sind nicht mehr nötig.
Einfach, entspannt und leicht!
Wie schweben...
Wenn da nur nicht diese langen Dinger unterhalb des Hinterns dranhängen würden, die manchmal einfach nicht so wollen wie du: deine Beine samt Füßen!
Mal stakselig-steif, mal im Schwammknie unkontrollierbar wie ein Zitteraal auf Speed und eben grad nicht so lang oder kurz, so schnell oder langsam, wie du sie für den letzten Schritt gebraucht hättest. Dann holpert‘s und ruckelt‘s im so schön entspannten Gestell.
Aus ist‘s mit dem Schweben.
Darum kümmern wir uns heute um deine Beine und Füße, die dich da droben mit dem Boden unter dir verbinden - denn dem Kontakt mit Mutter Erdes vielgestaltigen Hüllen kommen wir einfach nicht aus. (Außer, du hast deine Schwerkraftrechnung nicht bezahlt.) Und keine Sorge, dein Geläuf schafft das! Ganz geschmeidig und leicht. Dafür wurde es erfunden und seit Millionen von Jahren optimiert.
... wenn du es lässt!
Vorübung: Schlüpfe in deinen Körper hinein!
Schon auf der Fahrt zur Milonga (oder wohin auch immer) kannst du damit beginnen, deinen Körper auf's Tanzen (oder was auch immer) vorzubereiten:Für das Fahrgestell drängt sich das Bild der knackwursteng sitzenden Beinkleider auf. Die jüngeren Damen und Herren dürften sowieso mindestens ein solches Gewand ihr eigen nennen - ob Leggings, Jeggings oder das Röhrl mit hohem Elastikanteilanteil (und umso niedriger Hüfthöhe), ist egal. Ältere Semester dürfen sich gerne in die imaginäre Badewanne begeben, um die Jeans an den Körper zu schrumpfen.
Schlüpfe mit deiner Aufmerksamkeit ganz genüsslich in die Hose deiner Wahl hinein. Ein wenig anliegend bis speckdrückend sollt sie schon sein.
Erweitere das Hineinfühlen über die Knöchel, die Füße bis in die Zehenspitzen. Darfst auch mit den Zehen winken, und ich hoffe, dein Schuhwerk lässt das zu.
Oder verwöhne deine Füße mit einer kurzen Tango-(oder was auch immer)-Einstimmungsmassage.
Zweck der Übung: Du kannst nur gut bewegen, was du gut spürst.
1. Gewicht eindeutig verlagern
Die Meßstationen in den unteren Extremitäten melden dem Bewegungszentrum, welches Bein im Moment wieviel Gewicht trägt: Zum Beispiel: "Rechtes Bein übernimmt 80%, dem linken bleiben 20%". In diesem Fall wird die Steuerzentrale den linken Spieler NICHT für anderweitigen Schnickschnack freigeben, er trägt ja einen Teil deines Körpergewichts. Eine Restanspannung bleibt.Um aber einen weichen nächsten Schritt mit dem linken Fuß zu setzen, können wir diese Restspannung nicht brauchen. Auch, wenn du das linke als locker-entspanntes Spielbein benutzen möchtest.
Nur, wenn du ein Bein ganz klar als sicheres Standbein definierst mit 100 % Belastung, bekommst du dein zweites (0 %) komplett entspannt. Es ist dann schlicht von der vordringlichen Aufgabe "den Gestellbesitzer sicher in der Vertikalen halten" in diesem Zeitraum - und sei er noch so kurz - beurlaubt. Erst jetzt hat es seinen Freischein für verzierendes Geschnörkel, einen Kick und/oder wolleweiche Schrittanbahnung.
Beobachte dich im Alltag:
Wie händelst du die Gewichtsverteilung? Beim Kartoffelschälen? Beim Zähneputzen? Beim Tanzen? In welchen Situationen dürfen beide Beine zusammen stehen? Wie verteilst du das Gewicht? Wann übergibst du das Gewicht beim "normalen" Gehen, beim Rennen, beim Tangotanzen?
Wann wird es dringend nötig, ein Bein aus der Standverantwortung zu entlassen, um mit ihm zu spielen respektive es bespielen zu lassen? Oder um einen nächsten Schritt, sanft wie in federleicht-frischem Schnee, zu tanzen (oder was auch immer)?
Übe die eindeutige Belastung:
Gönne deinen Meßstationen auch im Alltag immer mal wieder bewusst eindeutige Werte (eine Seite 100 %, die andere 0 %). Stell dich öfter mit ganzem Herzen und Konzentration auf EIN Bein.
(Anmerkung für Tangomenschen: Wie Peter Ripota so schön sagte - das ist das Standbein der Dame - es darf nicht weggeschlagen werden!)
Zweck der Übung: So trainierst du deine Motorik und kannst die Entspannung im freien Bein wesentlich schneller abrufen. Das Gefühl, umzufallen, wird sich mit der Zeit (und Übung) in Wohlgefallen auflösen. Das mag der Tango (oder was auch immer)!
2. Aktion? Gewicht auf den Ballen!
Unsere Urahnen kamen immer mal wieder in die Verlegenheit, aus dem Stand vor großen Tieren mit langen Eckzähnen und üblem Mundgeruch fliehen zu müssen. Da den göttlichen Baumeistern das Überleben der haarigen Zweibeiner wohl am Herzen lag, haben sie in deren Körper Automatismen hineinkonstruiert, die noch heute in unseren Bauplänen lagern.Möchtest du deinem Gestell das Signal für "Jetzt kommt Bewegung, vielleicht sogar eine schnelle, und ja nicht umfallen!" vermitteln?
Verlagere dein Gewicht einfach auf den Ballen!
Dazu ist es nicht nötig, ballerinengleich auf Zehenspitzen abzuheben - lediglich das Empfinden einer eindeutigen Ballenbelastung.
So schenkst du über Reflexe den verantwortlichen Muskelketten bis zum Kinn hinauf den passenden Tonus und trainierst gleichzeitig auf natürliche Weise deinen Beckenboden.
Probier's aus:
- Stell dich zuerst ganz normal, am besten schuhbefreit, hin.
Dann lass dich in eine "Puh, bin ich schlapp"-Haltung
hineinfallen wie ein Schluck Wasser in der Kurve. (Immer noch im
Stehen! Nicht auf dem Sofa zusammensinken!)
- Fühle, was sich wo und wie an deiner Haltung verändert. Du
wirst merken, dass dein Gewicht eher auf den Fersen pennt und dein
Rumpf zusammensackt. Auf einem Bein stehen wird unangenehm schwierig
bis unmöglich.
- Verlagere dein Gewicht peu à peu auf deine Ballen und
fühle, wie du dich ganz automatisch bis zum Kinn hinauf
aufrichtest. Ganz leicht fließt Dynamik in Leib und Seele
zurück: Du wirst aufrecht, entspannt, stark und schön!
- Verstärke den Effekt, indem du dich noch ein wenig weiter
nach oben abstößt. Spreize zusätzlich deine Zehen
für wohlig-sicheren Stand.
Situationen, bei denen du Eindruck schinden willst - z.B. Betreten eines Restaurants oder Date mit deinem Banksachbearbeiter - eignen sich hervorragend.
Trainiere in Momenten, in denen es auf Schnelligkeit ankommt, egal ob du die Rolle des "Jägers" oder "Gejagten" übernimmst: das gute, alte "Fangus" (ggf. Kind und/oder Hund ausleihen), Erster an der neu geöffneten Kassenschlange im Discounter werden, die Wohnungstür zuschlagen, bevor die Katze ausbüxt, etc.
Versuche, die eindeutige Gewichtsverlagerung (siehe oben) mit dieser Übung zu kombinieren. Zusammen wirken die beiden Mechanismen als unschlagbare Hilfe gegen Umfallangst und für eine dynamisch-entspannte aufrechte Haltung!
Zweck der Übung: dein Gestell in den Modus für schnelle, sichere, aufrechte Aktionen bringen, den Körper in erhöhte Reaktionsbereitschaft versetzen
3. Beim Stehen die äußeren Anteile des Fußes benutzen
Immer nur im erhöhten "Obacht!"-Modus herumzuturnen ist natürlich auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Manchmal ist ruhig stehen angesagt. Dafür haben sich die göttlichen Baumeister einen feinen Kniff ausgedacht und der Konstruktion zwei Funktionsweisen geschenkt.Sprungfuß
Für geschwinde Aktionen, den Sprung hinein in's Vergnügen, nutzt du eher die innen gelegenen Anteile deiner Pfoten: die Großzehe, Zeige- und Mittelzeh, die zugehörigen Mittelfußknochen sowie den Richtung Innenknöchel liegenden Anteil der Fußwurzelknochen.
Stützfuß
Beim gemütlichen Herumstehen - auf beiden Beinen - stützen die außen am Fuß wohnenden Kameraden funktionell dein Gestell: dein Ring- und kleiner Zeh mit zugehörigen Mittelfußknochen, die Richtung Außenknöchel gelegenen Fußwurzelknochen und die Ferse.
Lädst du deiner Ferse dein ganzes Gewicht auf, wie in der Übung oben (schlappe "Schluck-Wasser-in-der-Kurve-Haltung"), steigen die Muskelketten, die dich aufrecht halten, aus. Du sackst zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden abgschnitten hat. Irgendwann wird deine Ferse beleidigt und berechtigt schmerzen.
Verteilst du dein Stehgewicht auf füßische Partien, die dafür biomechanisch gedacht sind (Stützfuß), wird entspannter, aufrechter Stand ganz leicht. Deine Knöchel kippen so automatisch in eine physiologische Achse, was sich die Beine hinauf fortsetzt und die Wirbelsäule aufrichtet. Du arbeitest mit der - statt gegen die - Schwerkraft. Vor allem deine Knie werden es dir danken.
Probier's aus!
Beobachte dich im Alltag: Wann benutzt du eher den Sprungfuß? In welchen Situationen ist der Stützfuß dran? Darf dieser Anteil überhaupt mitspielen?
Falls du das nicht gewohnt bist, kann sich die Belastung des kleinen und Ringzehs anfangs eigenartig anfühlen. Versuche immer wieder im Alltag, dieses Zehenduo auf den Boden zu bringen. Die Mittelfußknochen kommen freiwillig mit, und die Fußwurzelknochen samt Ferse positionieren sich automatisch folgend im richtigen Winkel.
Im zweiten Schritt unterscheide bewusst "Stehen" und "Gehen" (in welchem Tempo, welcher Form auch immer). Fühle aufmerksam den Kontrast zwischen den Funktionsgemeinschaften im Stütz- und Sprungfuß sowie weiter oben im Gestell. Gönne deinem Bewegungszentrum eindeutige Impulse und lass es artgerecht arbeiten!
Zweck der Übung: energiesparender "Wohlstand"
... Zusammenfassung:
aus Teil 1:- Damm unter's Herz
- Hintern lockern
- Sixpack lockern, atmen
- Schultern fallen lassen
- Zähne klappern
- Zunge an's Gaumendach schmiegen lassen
- Lächeln
- Gewicht eindeutig verlagern
- Aktion? Gewicht auf den Ballen
- Stehen? Gewicht auf die äußeren Anteile des Fußes
... Fortsetzung folgt!
- Was deine Waschmaschine für dich tun kann - außer waschen
- Was Ottfried Fischers "Parkinson-Pirouette" mit deinen Knien zu tun hat
- und ein "Ocho-Zuckerl" aus der * tangofish *
Schatzkiste
Der Text erscheint, wie die letzten Male, zeitgleich auch auf Manuelas Blog:
http://im-prinzip-tango.blogspot.de
Ansonsten bleibt mir nur, meinen Lesern fröhlichen Erkenntnisgewinn zu wünschen – und mich bei Manuela herzlich für diesen Text zu bedanken!
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