Bitte nennt es nicht Tango!

 

Auf einem Tangoblog habe ich jetzt eine Argumentation gelesen, die ich aus einem anderen Zusammenhang gut kenne.

Der Kollege meint zunächst:

„Es gibt unter den Tango Tänzern etliche Vorbehalte gegenüber dem Neotango / Nontango Bereich. Der Hauptvorwurf dabei ist, dass die Musik zu eintönig ist. Keine Kreativität, immer derselbe Beat. Laaangweilig!“

Na ja, so streng würde ich es nicht sehen. Ich habe in 25 Jahren Tango diverse Möglichkeiten kennengelernt, mich zu langweilen. Man kann dies auf traditionellen Veranstaltungen ebenso haben wie bei der Avantgarde. Aber es stimmt schon: Überwiegend hängt das mit der Musik zusammen.

Der Blogger lehnt sich nun noch „ein bisschen aus dem Fenster“ und meint, wer dieser Ansicht sei, könne offensichtlich eine bestimmte DJane noch nie gehört oder gesehen haben.

https://helgestangoblog.blogspot.com/2024/07/kurznotiz-16-anna-neum.html

Behauptungen dieser Art kenne ich aus meinem anderen Hobby, der Zauberei, zur Genüge. In meinen Anfangsjahren wurde ich von Kollegen oft genug belehrt, wer den berühmten Magier XY nicht kenne, könne schlicht nicht mitreden. Selber habe man zu diesem Star natürlich persönliche Kontakte auf diversen Kongressen und Festivals. Wow!

Natürlich ist man dann erstmal schwerstens beeindruckt, fühlt sich gar als Paria, dem das Wichtigste in dieser Welt mal wieder entgangen ist.

Glücklicherweise ging mir irgendwann auf, dass viele halt auf der Suche nach einem Guru waren, der ihnen die Verehrung gestattete. Ich beschloss, mich von solchen Wallfahrten fernzuhalten und das zu machen, was mir selber richtig erschien – und dem Publikum gefiel.

Natürlich bin ich den Neotango-Verheißungen gefolgt: Na ja, das Rad hat man da weder musikalisch noch tänzerisch neu erfunden. Vielleicht tanzt das Publikum etwas raumgreifender. Wegen des geringeren Zulaufs ist ja mehr Platz. Fantasievoller und kreativer nicht, weil es die Musik nicht anbietet. Ebenso wenig wie viele historische Aufnahmen.

An Stelle des Kollegen hätte ich das Fenster zugelassen.

https://www.youtube.com/watch?v=PDy-pi3H7mM

https://www.youtube.com/watch?v=d8Zj6WDoRpo

Nun könnte ich es mir einfach machen und bekennen, dass mir das monotone Gequietsche und Gewummer tierisch auf die Nerven geht. Aber gut, ich bin 73. Warum sollte man der  Jugend keine Chancen geben – auch wenn sie in den Videos kaum auftaucht… Zusätzlich wird man mit Farbexplosionen zugeballert. Auch dafür bin ich zu alt!

Es gibt ja anscheinend eine unübersehbare Fülle von Tangostilen. Wer Interesse hat, kann sich in einem Artikel von Vio TangoForge bedienen:  

https://tangoforge.com/was-ist-neotango/

Unter anderem schreibt sie zum Neotango:

„‚Neo‘ ist keine Kurzversion von ‚Nuevo‘. Es ist eine eigene Sache… Es spiegelt keine Entwicklungen in der Tanztechnik oder Bewegungen wider. Es bezieht sich nur auf Aspekte einer Milonga: die Atmosphäre, die für geselliges Tanzen geschaffen wurde. Neotango beinhaltet zwei spezielle atmosphärische Innovationen in der Tanzumgebung:

  • Der Verzicht auf eine Tanda-Struktur für eine kontinuierliche musikalische „Welle“, die zwischen 30 Minuten und 2 Stunden dauern kann und es den Tänzern ermöglicht, sich mit ihren Partnern in einer langen Trance zu verlieren, anstatt sich auf eine bestimmte soziale Routine einzulassen.
  • Die Verwendung von eindringlichen visuellen Projektionen, die von einem VJ (Visual Jockey) und einem Netzwerk leistungsstarker Projektoren zusammen mit weißen Wänden und Bildschirmen erstellt wurden, schützt das Tanzpaar zusätzlich vor äußerem Beobachtungsdruck und sozialen Ablenkungen.

Der deutsche VJ Andreas Lange betonte Vielfalt, Freiheit und Freude, unter Berufung auf Antonio Negri und Michael Hardt: ‚Wir stellen dem Elend der Macht die Freude am Sein entgegen.‘ Lange erklärte, dass die Menschen im Neotango „Vielfalt leben und genießen“ auf der gemeinsamen Basis der Freude. ‚Freude ist keine Banalität, sondern die notwendige Kraft, um eine freie Gesellschaft zu bilden.'”

Schön, dass man auch in diesem Metier eine typische Form des Tango-Marketings einsetzt: die Überhöhung.

Tatsächlich schreibt Vio:

Obwohl ich zustimme, dass Neotango mehr Raum für körperlichen Ausdruck bietet, ist die überwiegende Mehrheit von dem, was ich bei Neotango-Ereignissen beobachtet habe, von keiner anderen Milonga zu unterscheiden und wird in enger Umarmung getanzt. Maximal zwanzig Prozent der Tänzer machen etwas anderes als das übliche Tango-Repertoire.“

Ich hätt‘s mir denken können…

Ich fürchte, wie auf den Encuentros sucht man – wenn auch mit anderen Mitteln – eine Art Trance oder Entrückung. Das fasziniert viele. Mich eher nicht.

Natürlich bin ich auch in diesen Fragen urliberal: Soll doch jeder tanzen, wie er will!

Und ich mag mich auch nicht mit den branchenüblichen „Tangotraditionen“ oder gar der „Tangokultur“ aufplustern.

Daher stelle ich lediglich nüchtern fest: Die im Neotango eingesetzte Musik hat mit Tango nicht im Entferntesten zu tun. Schon deshalb halte ich diesen Namensklau für ziemlich verwegen. Und die Schritte?

Na ja, wer Tango, Vals und Milonga einigermaßen kann, vermag natürlich den Vierviertel-, Dreiviertel- und Zweivierteltakt notfalls auch auf das Pausenzeichen von Radio Luxemburg zu quälen. Rechtfertigt das den Namenszusatz „Tango“? Doch, dieser Tanz hat eine Geschichte, die Stücke haben oft sogar Texte, die von Zerrissenheit, Schmerz und Nostalgie künden, Widersprüche im menschlichen Leben aufzeigen sowie soziales Elend beklagen. In einem Disco-Gehuppse finde ich davon nichts.

„Tango“ ist ein Begriff, der Exotik, Hingabe und Leidenschaft transportiert. Eine Art „Bacardi-Feeling“ gibt es noch obendrauf. Nicht verwunderlich, dass man jeden Schnack damit zu vermarkten sucht: Ob nun „Neurotango“, tantrisches Lebensgefühl, Führungsqualitäten für Manager oder Glück in der Partnerschaft. Fallweise auch den richtigen Umgang mit Pferden (keine Anspielung – ich meine richtige Unpaarhufer):

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/03/zossen-tango.html

Daher nur meine herzliche Bitte: Bewegt euch gerne zu mystischen Klängen durch die Lichtprojektionen – aber bitte nennt es nicht „Tango“!

Das ist ungefähr so absurd wie der Begriff „Non Tango“. Eine Steigerung wäre „Non Music“. Vielleicht kommt das noch…

Gut, über „Tangogefühl“ kann man lange streiten. Mich ereilte es neulich, als der Akkordeonist Andres Grandoni zu Beginn seines Konzerts leise und unaufdringlich Piazzolla-Harmonien intonierte. Ganz ohne Gewummer und Lichtreflexe. Ein magischer Moment.

Ich behaupte nun aber nicht, wer diesen Künstler nicht kenne, könne sich kein Urteil über den Schöpfer des Tango nuevo erlauben.

Vielleicht bin ich ganz froh, dass er vielen nicht bekannt ist. Schließlich ist das mein ganz persönlicher Tango!

P.S. Natürlich weiß ich, dass sich die Beliebtheit meiner Artikel durch solche Texte halbiert. Sorry, aber ich werde mich nie völlig auf eine Seite schlagen. Mir geht es um den Inhalt und nicht den Jubel von Fans!

Kommentare

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