Millisekunden neben dem Taktschlag

Ein Blogger-Kollege hat nun ein wahrhaft akademisches Thema aufgetan: „Wer geht auf den Taktschlag?“ In einem Beitrag argumentiert er ungefähr so: Führende und Folgende setzten ihre Schritte zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Erst wenn die Folgende in Bewegung gekommen sei, mache der Führende seinen eigenen Schritt. Er „begleite“ sozusagen ihre Aktionen. Wer tanze aber auf den Taktschlag der Musik? Doch eher die Folgende, welche ja die meisten tänzerischen Figuren ausführe. Daher beende der Führende erst nach dem Taktschlag seinen Schritt. Der Mann komme also stets etwas „hinterher“.

So habe ich es jedenfalls verstanden. Wer möchte, kann es selber versuchen und hier nachlesen:   

https://helgestangoblog.blogspot.com/2024/07/wer-geht-auf-den-taktschlag.html

Solche Gehirnkribbeleien im Tango sind im Netz recht beliebt, da sich meist ein Experte findet, der es völlig anders sieht.

So fiel einem namhaften DJ ein, es handle sich um „regelrechten Unsinn“. Das hat mich etwas verwirrt: Ist Unsinn denn nicht dadurch gekennzeichnet, dass er sich an keine Regeln hält? Aber für traditionelle Aufleger gibt es wohl generell irgendwelche Códigos

Der Blogger konnte mit dem wuchtigsten aller Tangoargumente kontern: Diese Idee stamme von einem Tangolehrer und Profitänzer aus Buenos Aires (aha!), der das knallhart so formuliert habe: Ich kann auf einen Blick erkennen, ob jemand Tango tanzen kann oder nicht. Wenn der Führende seinen Fuß vor der Folgenden setzt, dann kann er nicht tanzen."

Ja, was wären wir ohne die Experten vom Rio de la Plata, deren Urteile mit der Präzision eines Guillotine-Messers herabsausen! Auch wenn diese Herrschaften meist nur merken, ob ihre Opfer genauso tanzen wie sie oder sich einen anderen Stil herausnehmen. Das darf man natürlich gar nicht!

Nebenbei: Es geht nicht darum, ob jemand „Tango tanzen kann oder nicht“, sondern höchstens um die graduelle Einschätzung, wie gut es dann klappt. Aber wahrscheinlich kriegen Tangolehrkräfte durch solch markige Sprüche neue Kunden…

Freilich, so wird konzediert, betrage der zeitliche Unterschied „höchstens ein paar Millisekunden“. Auf einem YouTube-Video könne man ihn wahrscheinlich gar nicht erkennen. Na, das lässt sich doch in Zeitlupe abspielen – wie hätten wir sonst Tango gelernt?

Solche Debatten bringen mich stets in Grübeln: Wenn ich beim Tango auf Tausendstelsekunden-Differenzen zwischen meinen Füßen und den Taktschlägen geachtet hätte, könnte ich heute noch nicht tanzen! (Oder haben da meine Kritiker recht, die mir diese Fähigkeit eh absprechen? Rätsel über Rätsel…).

Immerhin bin ich schon vor langer Zeit zu der Erkenntnis gelangt, Führen bedeute, dass der Mann das mittanze, was er nach Ansicht der Frau geführt hat. Daher scheint mir die Idee, die Schritte der Partnerin zu begleiten, nicht ganz unvernünftig. Zudem „verkauft" ja die Tänzerin mit ihren Bewegungen die Musik, während der Tänzer die Sache eher stabilisiert.

Außerdem funktioniert die Verständigung der Partner nicht in Nullzeit. Absolut synchrones Tanzen geht also nur mit auswendig gelernten Schrittfolgen. Etwas verstört bin ich aber, wenn der Blogger-Kollege schreibt: „Im Tango Unterricht muss jede Figur von Anfang an im Paar eingeübt werden.“ Ich fürchte, das passt nicht ganz zu unserem „großartigen Improvisationstanz“. Klar kann man Bewegungsmuster üben, aber bei „Figuren“ werde ich skeptisch.

Weiterhin stellt sich für mich die Frage: Bedeutet musikalisches Tanzen nicht mehr, als „auf den Taktschlag“ zu gehen? Gute Musik hat doch viele Facetten! Nur den Takt herunterzutraben erscheint mir etwas langweilig.

Wenn der Fuß meiner Partnerin nicht landet, wo ich mir das dachte, muss ich Plan ändern“  so der bereits oben zitierte DJ.

Insbesondere bei männlichen Kommentatoren schimmert bei solchen Themen immer noch eine linear-kausale Vorstellung durch: Der Führende hat einen Plan, den die Folgende umzusetzen habe. Die Idee, dass beide zunächst mal selber tanzen und sich dabei bemühen, eine Verständigung hinzubekommen, gerät immer wieder außer Sicht (wenn sie denn überhaupt vorhanden war).

Im Tango dominieren immer noch ziemlich technokratische Vorstellungen: Wie viele Millisekunden vor oder nach einem Taktschlag setzt man die Füße? Das erinnert mich an die bekannte Geschichte vom Tausendfüßer, der nicht mehr laufen kann, als er sich überlegt, wie er das eigentlich macht.

Ich glaube, ein guter Tango funktioniert eher über Körpergefühl und unwillkürliche Reaktionen (beim Tausendfüßer sind es Reflexketten). Man spürt, ob man in der Musik tanzt und sich mit dem Partner versteht. Dann kann alles Mögliche passieren, das dem Verstand eher unzugänglich ist. Meine Partnerin und ich merken selber, ob es läuft. Dazu brauchen wir keine Expertisen von der Seitenlinie.

Als Fußballfan habe ich mich die letzten Tage sehr darüber amüsiert, von Experten, die wohl schon mal eine Paella gegessen haben, erklärt zu bekommen, wie man die Spanier schlagen könne. Und dann wird ein komischer Elfmeter nicht gegeben – und kurz vor dem Ende der Verlängerung kriegt der Gegner den Ball irgendwie ins Tor.

Fußball ist deshalb so attraktiv, weil man nix wirklich vorhersagen kann.

Wie der Tango.

Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich!   

Quelle: https://www.facebook.com/groups/1820221924868470 (Post vom 5.7.24)


 

 

 

Kommentare

  1. Lieber Gerhard, Deine Erkenntnis, "Führen bedeute, dass der Mann das mittanze, was er nach Ansicht der Frau geführt hat" - ist mir noch zu einseitig. Ich glaube, der Führende sollte versuchen, das mitzutanzen, von dem er annimmt, dass die Folgende ihn so verstanden hat.

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    1. Lieber Martin,
      so ganz ernst gemeint ist dieser Spruch nicht – auch insgesamt verkünde ich auf meinem Blog keine „letzten Wahrheiten“ oder erfinde im Tango das Rad neu. Eher will ich meine Leserinnen und Leser unterhalten.
      Der Satz ist auch nicht von mir. Vor langer Zeit habe ich ihn mal gelesen oder gehört und dann in die erste Ausgabe meines Tangobuches übernommen.
      Vor gut 20 Jahren hatten wir einen (in der Szene völlig unbekannten) Tangolehrer, der mit jeder Partnerin einen passablen Tanz hinbekam, was uns zunächst ein völliges Rätsel war. Irgendwann kamen wir dann drauf, dass er oft einfach das mittanzte, was die Frau machte.
      Vor einigen Jahren tanzte ich auf der Geburtstagsfeier einer Tangofreundin mit ihr für die Gäste ein paar Tangos vor. Auf dem Video, das ich von dem Auftritt bekam, war die Stimme einer Besucherin zu hören: „Woher weiß die jetzt, was sie tanzen soll?“ In Wahrheit hatte ich mich eher ihren Bewegungen angepasst.
      Tatsächlich glaube ich, dass uns das Konzept vom „Führen und Folgen“ nicht weit bringt. Weiter kommt man damit, sich mit den Aktionen des anderen abzustimmen. Und zwar wechselseitig.
      Danke und herzliche Grüße
      Gerhard

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    2. Ich hab das immer so ausgedrückt: Meine Aufgabe als Mann ist es, einen Impuls zu geben, was die Frau tanzen soll (oder anders ausgedrückt: einen Vorschlag zu machen, was die tanzen kann), und dann damit zurechtzukommen, was sie tatsächlich tanzt ;-)

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    3. Irgendwie ist mir das Ausgangsthema zu sehr auf die Schritte fixiert.
      Musik fühlt und erlebt man doch eigentlich mit dem ganzen Körper. "im Takt" tanzt man, wenn die Bewegungen zur Musik tatsächlich passen. Und da ist es doch egal, wo und wann genau man seinen Fuß setzt. Man kann doch auch herrlich "im Takt" tanzen, obwohl man seine Schritte zwischen die Taktschläge setzt ;-)
      Man kann sehr genau sehen, ob jemand musikalisch tanzt, auch wenn man überhaupt nicht auf dessen Füße achtet. Man kann sogar einfach stehen und trotzdem musikalisch "im Takt" tanzen ;-)

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    4. Ich finde auch, dass man mit dem ganzen Körper tanzt. Aber gerade im Tangounterricht wird man halt sehr auf die "Schritte" fixiert.

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  2. Die Diskussion über zeiltl. Abfolgen machen nur Sinn, wenn man Kommunikation und Musikaltiät als linearen Ablauf betrachtet. Dann kann man aber eh unmöglich auf den Takt tanzen, da es beim Hören des Taktschlages ja schon zu spät ist, um dann noch eine Bewegung auszuführen, die den Takt noch trifft. Also kann es beim Tanzen nur darum gehen, schon vorher zu wissen (ahnen), was gleich kommt und das gilt natürlich genauso auch für Führungsimpulse, die Bewegung des Folgenden und wiederum die Bewegung des Führenden. Im Idealfall passiert das gleichzeitig. Wenn nciht kann es trotzdem Spass machen.
    Übertheoretisierung, Millisekunden zählen und das Streben nach Perfektion und ist m.M. meist ein Killer für das Tanzvergnügen.

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    1. Lieber Carsten,
      improvisiertes Tanzen (auf das wir beim Tango ja alle so stolz sind) ist stets eine Reaktion auf das Gehörte, d.h. theoretisch kommt die Bewegung immer hinterher. Bei einer Schallgeschwindigkeit von ca. 330 m/s und schnellen Muskelreflexen kommt dabei aber nicht viel rum – der Zuschauer wird es als halbwegs „gleichzeitig“ erleben. Und wenn: Ich finde es spannend zu sehen, wie Tanzende auf die Musik reagieren.
      Wirklich synchron wird es nur, wenn man eingelernte Choreografien auf eine vorbereitete Aufnahme zeigt. Und selbst dann möchte man „zur Bestätigung“ die Musik hören. Daher sind im Tango stets ähnliche Arrangements beliebt, bei denen man schon ahnt, wie es weitergeht. Oder noch besser Aufnahmen, welche der DJ schon hundertmal aufgelegt hat. Komplexere oder unbekannte Stücke werden eher abgelehnt – sie würden tatsächlich viel Improvisation erfordern. Vorteilhaft wäre es halt, wenn die Folgende selber die Musik tanzt statt nur auf „Führungsimpulse“ zu warten.
      Gute Tangomusik zeigt viel Zerrissenheit und jede Menge Widersprüche. Perfektion schwächt diese Eigenschaften ab.
      Danke und schöne Grüße
      Gerhard

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    2. Lieber Gerhard,
      Ich glaube, dass es zwischen dem minimalen hinterhertanzen der reinen Improvisation (die ich liebe) und dem wir tanzen Bekanntes und wissen schon was kommt ein weites Feld von musikalischem Ahnen gibt, das aus unserer Musikzivilisation (Tango-unabhängig) entspringt und das uns einen Vorsprung verschafft (und manchmal irren läßt). Größerer Spass is es sogar, wenn Komponisten und Arrangeure mit unseren Erwartung spielen und uns bewußt aufs Glatteis führen. Und ja, wenn der/die Folgende auch die Musik tanzt, und beide das gleiche (falsch) ahnen, ist der Spass nochmal größer.
      Deinen Satz "Gute Tangomusik zeigt viel Zerrissenheit und jede Menge Widersprüche. Perfektion schwächt diese Eigenschaften ab." kann ich nur 100% zustimmen.

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    3. Lieber Carsten,
      gutes Tanzen erfordert viel musikalische Erfahrung. Ich fürchte, viele in der Szene hören außerhalb der Milongas kaum Tangomusik. Das sieht man an der Tanzweise.
      Ich habe früher einmal vom „Spaßfaktor“ beim Tango geschrieben und bin dafür heftig kritisiert worden. Bekanntlich handelt es sich bei unserem Tanz um eine ernste Sache…
      Der Reiz am improvisierten Tanzen ist für mich das Spielerische. Parallele: Auch Fußball ist ein Spiel. Es tut ihm nicht gut, wenn sich dann bierernste Experten die Köpfe wegen eines Handelfmeters heißreden. Leider gibt es das nicht nur in der Fußballszene.
      Dabei sollte ein Spiel doch Spaß machen. Doch nicht nur hier hat das Kommerzielle vieles verdorben.
      Schöne Grüße
      Gerhard

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