Immer langsam voran!

 

Wahrscheinlich haben Kritiker recht, die mir immer wieder bescheinigen, ich hätte von Musik keine Ahnung – und von Tangomusik sowieso.

Immerhin ist aber mein Eindruck wohl richtig, dass bei Showtänzen inzwischen oft tranige Klänge dominieren, zu denen edle Tanzpaare in Zeitlupe über den Geigenteppich schleichen. Die Rhythmik erkennt man an gelegentlichen ekstatischen Zuckungen der Tänzerin, während der Partner selten die stramme Heldenpose aufgibt. Meist sind die beiden hinterher dennoch zu ermattet, um noch einen schwungvollen Vals oder gar eine fetzige Milonga darzubieten.

Ähnliches Futter kriegt natürlich der Plebs auf dem Parkett: Wenn dann überhaupt mal eine Milonga oder ein Walzer erklingt, stammen speziell diese beiden meist aus der lahmen Fraktion. Und die Tangos hören sich häufig an wie die Abschiedsbriefe depressiver Tenöre. Nur nichts übereilen! Schließlich muss man eine Kundschaft bedienen, der Gehudel immer weniger liegt. Und schließlich sollte man auf die Taktschläge Schritte hinkriegen – eine generelle Tragik jeden Tanzes.

Immerhin ist mir bekannt, dass der heutige traditionelle DJ über ein riesiges Instrumentarium verfügt, seine digitalisierten Aufnahmen zu bearbeiten – mit einer Fülle von Programmen, deren Namen ich nicht mal richtig aussprechen kann. Lange Zeit dachte ich, dies diene der Optimierung der Wiedergabe des Originals. Soweit ich das Aufleger-Latein verstehe, kann man dabei aber wesentlich mehr anstellen, also beispielsweise Frequenzen oder Geknister herausfiltern. Wobei etwas Retro-Rauschen – wie Experimente ergaben – die Beliebtheit von Titeln in der heutigen Szene fördert.

Von Alledem habe ich wirklich null Ahnung, da mir meine Bose-Anlage nach dem Einschieben des Silberlings nur erlaubt, den Titel anzuwählen und die Lautstärke zu bestimmen. Ansonsten habe ich mich herauszuhalten – mein CD-Player wird schon wissen, warum.

Nun haben mich aber meine Begleiterinnen, welche über empfindlichere Lauscher verfügen als ich, auf Milongas mehrfach darauf hingewiesen, der DJ spiele die alten Aufnahmen langsamer als im Original. Genaueres Hinhören scheint mir diesen Effekt zu bestätigen.

Wenn das so wäre, frage ich mich schon, ob solche Aufleger noch alle Tassen im Mischpult haben. Rauf und runter habe ich in vielen Jahren die Weihegesänge auf die alten Orchester erlebt, welche in der „Goldenen Epoche“ die Titel angeblich in nicht mehr steigerbarer Qualität in die Rille gedrückt hätten. Nur dadurch sei es zu der unvergleichlichen „Symbiose“ zwischen Musizierenden und Tanzenden gekommen.

Ich muss zugeben: Bei manchen Valses und Milongas von Anno Tobak spüre ich schon, mit welcher Energie die Jungs damals musizierten, weil die Fans wollten, dass auf der Piste der Punk abgeht!

Davon kann heute keine Rede mehr sein – also dreht man es anscheinend nun langsamer. Ist ja auch gemütlicher!

Ich will aber hier kein Fachwissen vortäuschen und wäre daher froh, wenn mir erfahrene DJs mal erklären könnten, ob und wie man hier an den Reglern fummelt. Schließlich bin ich ja kein Experte, der bekanntlich vor allem erklären kann, wieso etwas nicht funktioniert.

Irgendwie erinnert mich diese Frage an den von Curt Goetz beschriebenen sächsischen Kurkapellmeister, der vor der ersten Probe der Tannhäuser-Ouvertüre zu seinen Mannen sprach:

„Ich gloobe, meine Herrn, wir spielen’s erst eemol ohne Vorzeichn!“

Bis zur Klärung des Problems empfehle ich als retardierte Milonga das schöne Marschlied der Krähwinkler Landwehr aus den Befreiungskriegen (1808-1815):

Immer langsam voran, immer langsam voran,

det der olle Landsturm mitkommen kann!“

Ist ja auch lustiger als Canaros Milonga sentimental" - und man kapiert sogar den Text! 

https://www.youtube.com/watch?v=9Do7ZfW4OWA

Kommentare

  1. Der DJ Olli Eyding hat zu meinem Artikel nun auf Facebook geschrieben:

    „Als man die Schellacks zunächst auf LP, später auf CD presste, wurde zum einen teilweise Hall hinzugefügt, das Kinstern brutal weggefiltert, zum anderen aus Absicht/Unwissen die Schellack zu schnell abgespielt, das Ergebnis sind gehetzte, etwas quakig klingende, aber manchmal recht treibende Tangos/Valses/Milongas.
    Vor allem in den Dreißigern und Anfang der Vierziger Jahre waren weder der Grundstimmungs-Ton der Orchester noch die sogenannte De-Equalizing-Kurve, die man braucht, um Musik sinnvoll in Schallack/LP reinzupacken und wieder rauszuholen, normiert.
    Daher wurden Schellacks oft falsch aufgenommen.
    Moderne Tangorestauratoren wie tangotunes oder tangotimetravel versuchen mit sehr viel Mühe, Wissen und technischem Aufwand, all das Faszinierende, was in den Schellacks steckt, möglichst original digital zu archivieren und Interessierten zur Verfügung zu stellen.
    Ein Problem dabei ist, festzulegen, in welcher Tonart, und damit wie schnell das Orchester, und im Rückschluss, die Schellack, abgespielt werden soll.
    Ein anderes ist die De-Equalizing-Kurve.
    Das nur sehr knapp zu deiner Frage.
    Viele Edo-Begeisterte stecken seit vielen Jahren ihr Herzblut, und auch viel Geld, in den Erhalt dieser wunderbaren Musik. Die zum Download bereitstehenden, Schellack-gleichen Transfers sind so viel musikalischer als vieles, was man auf CD findet.
    Infos dazu gibt es bei www.tangotunes.com, www.tangotimetravel.be oder, nicht mehr ganz frisch, hier:
    http://www.tango-dj.eu/E_Tangotunes.html
    Höre deine Lieblings-Tangos mal im Vergleich ...
    Und zu deiner Eingangsfrage: Langsamer ist manches Mal die originale Aufnahme, die dann erst später künstlich beschleunigt wurde. Vor allem auf viele D'Arienzos trifft das zu.“

    Meine Antwort:
    „Ich fürchte, meine Lieblingstangos werde ich dort nicht finden.
    Mir ist halt aufgefallen, dass dieselben Aufnahmen, die ich vor einiger Zeit noch schneller gehört habe, jetzt langsamer klingen.
    Aber ich nehme zur Kenntnis, dass viele Titel im Original ein niedrigeres Tempo hatten. Attraktiver macht sie das für mich nicht.“

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  2. Man muss kein "erfahrener DJ" sein, um das Tempo der Musik zu verändern: https://www.heise.de/ratgeber/Musik-zum-Ueben-verlangsamen-7267824.html

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    1. Das glaube ich gerne!
      Mich hätte halt interessiert, warum erfahrene DJs es machen. Zum Üben?

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    2. Weil fast niemand mehr flott tanzen kann bzw. will. Das auf Encuentros übliche Am-Ort-Kreiseln dominiert immer häufiger auch normale Milongas. DJs passen sich entsprechend an. Wenn bei einer flotten Milonga die meisten fluchtartig die Tanzfläche verlassen, spielt er so was in Zukunft nicht mehr. Und falls er doch mal diese Version von "Paciencia" spielen sollte (https://www.youtube.com/watch?v=gjIFqaN2F0A) und er die selbe Erfahrung macht, wird er das auch nicht mehr machen und seine anderen Versionen ggf. verlangsamen.

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    3. Lieber Jochen,
      Deine Vermutungen sind natürlich auch meine.
      Es hätte mich aber interessiert, was Tango-DJs dazu sagen.
      Aber die werden sich natürlich zurückhalten, weil sie auf den Milongas wieder gebucht werden wollen.
      Na ja. schauen wir mal, ob noch was kommt...
      Beste Grüße
      Gerhard

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  3. Na ganz so einfach bzw. in das belieben des DJs gestellt ist es nun auch nicht. Es gab in der Vergangenheit einige argentische Tonträger, die deutlich zu schnell waren. Der Fehler wurde in den letzten Jahren korrigiert und die original Geschwindigkeit wurde wieder hergestellt. Etwas kompliziert wird es durch den Umstand, dass die verschiedenen Orchester zu unterschiedlichsten Zeitpunkten umgestellt haben (so hat Fresedo nach einer USA-Tournee 1934 die internationale Stimmmung vom Kammerton A auf 440 Hz übernommen, andere Orchester - z.B. de Angelis – haben bis in die 40er-Jahre an der 434 z bzw. 435 Hz Stimmung festgehalten). Zusätzlich kommt der bereits erwähntee Transfer mit überhöhter Geschwindigkeit des Plattenspielers in den 80er Jahren.
    Sollte das Thema jemanden nachhaltig interessieren, gibt es hier weitere Informationen:
    https://www.tangomusicsecrets.co.uk/transfers/whats-all-the-fuss-about-pitch/
    Gute DJs bemühen sich, die Musik originalgetreu wiederzugeben - nur Vertreter einer überhöhten Eigenwahrnehmung schrauben an der Abspielgeschwindigkeit (z.B. in der DJ-Software Traktor).

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    1. Vielen Dank!
      Ich finde auch, die möglichst originalgetreue Wiedergabe würde von Respekt für jede Art von Musik zeugen.

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  4. Es dreht sich nach dem Link oben (tangosecrets.com) um ein Verhältnis von 440/435 bzw Das ist in Differenz betrachtet etwa 1.1 Prozent Geschwindigkeitsunterschied. Viele können sicherlich im direkten Vergleich die 20 cent (1/5 Halbton) Tonhöhenunterschied im direkten Vergleich hören also z.B. einen Ton mit 435 Hz und umittelbar darauf einen mit 440 Hz.
    Natürlich wirkt sich das auch auf die Abspieldauer aus, aber ob ich wirklich dann noch merke das ich bei 2 1/2 Minuten (Stücklänge ist mir nicht genau bekannt) vielleicht wirklich 1-2 Sekunden schneller fertig war und ich mich dann dafür "so viel" dynamischer bewegen musste, ich würde es bezweifeln. Das Remastering einer Aufnahme ist ja immer mit Entscheidungen behaftet, ob und wieviel Effekte wie Hall eingestellt sind und sicherlich auch vielleicht etwas der Ästhetik einer jeweiligen Zeit geschuldet. Das ist aber auch Teil einer Produktion. Eine Aufnahme wird in einem bestimmten Raum gemacht. Der Produzent möchte in der Regel erreichen, dass sie auch ausgewogen in vielen anderen Situationen (Räumen) mit dem jeweilgen Equipment der Zeit aufgeführt wird. Auch die Aufnahmegeräte selbst filtern, sind mit Charakteristiken behaftet die nachträglich in der Produktion ausgeglichen werden. Wenn jetzt die Originalaufnahme nicht mehr vorhanden ist, ist es sicher schwieriger zu urteilen, was schon in der ersten Produktion gemacht wurde oder auch nicht.

    Es wird heutzutage sehr viel remastered, weil es man es dann auch wieder als neu verkaufen kann. Es gibt sicherlich auch Fälle, wo es sinnvoll ist. Oder ohnehin vergriffene Datenträger wieder zugänglich (in modifizierter Form) gemacht werden. Es hilft sicher auch weiter sich Rechte (GEMA und vergleichlichen Organisationen weltweit) zu sichern. Oder auch gemafrei zu produzieren aber dann vielleicht zu höheren Preisen als üblich zu verkaufen oder auch Aufführrechte direkt zu vermarkten. Das Remastering kann vielleicht (oder wird ) ja als neues künstlerisches Ergebnis angesehen werden.

    Insofern sind natürlich so kleine mit realen Argumenten unterfütterte Verbesserungen auch ein willkommenes Argument im Marketing.

    Es spricht nichts dagegen das Business zu machen und zu Vermarkten, das möchte ich gar nicht Abrede stellen. Das ist Teil der Kultur. Wenn es niemand macht, gibt es auch keine Wiederveröffentlichungen.

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    1. Mein Artikel beschäftigt sich nicht mit Fragen der Tontechnik. Davon verstehe ich nichts. Wir hatten lediglich den Eindruck, dass bekannte Aufnahmen (und die kennen wir durch die vielen Wiederholungen ziemlich gut) seit geraumer Zeit langsamer laufen. Dazu passt ja auch, dass man nicht nur bei Milongas immer mehr die Versionen mit weniger Energie wählt. Unsere Vermutung ist halt, dass man Rücksicht aufs übliche Publikum nimmt, das es halt gemütlicher will.

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    2. > Viele können sicherlich [...] einen mit 440 Hz.

      Mir tun ja all die DJs leid, die einen unglaublichen Aufwand betreiben, um möglichst "schöne" bzw. "authentische" Aufnahmen in bester Qualität zu spielen und dann interessiert sich kein Schwein für "ihre" Musik und die Leute quatschen lieber (oft mehr als 30 Sekunden lang), so wie hier: https://www.youtube.com/watch?v=Ahx8-KiJLUs

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    3. Mir tun die DJs nicht leid. Sie sollten die Szene kennen und wissen, was sie erwartet. Und die wenigsten haben den Mut, ambitionierter aufzulegen. Hauptsache, der nächste Gig ist gesichert.

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