Berliner Tango-Globuli

 

Doch endlich ward dem Diebe

Die Zeit zu lang. Er macht

Das Bächlein tückisch trübe,

Und eh’ ich es gedacht,

So zuckte seine Rute,

Das Fischlein zappelt dran,

Und ich mit regem Blute

Sah die Betrogene an.

(Christian Friedrich Daniel Schubart: „Die Forelle“, 1783)

Es gibt Videos, an denen der Tango-Aficionado unmöglich vorbeigehen kann. Im Gegenteil: Man sollte reintreten.

Jörg Buntenbach, Vorsitzender des Vereins zur Rettung von Weltkulturerbe und Tango-Einnahmen (ProTango e.V.), ist natürlich zeitlich stark durch diese Tätigkeit beansprucht (zwei Einträge auf der Website im 2. Halbjahr 2021). 

https://protango.de/blog-news/

Dennoch findet er die Zeit, für sein Tango Argentino-Online-Magazin führende Experten unseres Tanzes zu einem Interview einzuladen.

Am 2.1.22 war Raimund Schlie dran, der wie folgt angekündigt wurde:

„Raimund Schlie ist Tänzer, Lehrer, Tango-DJ und hat sich ausgiebig mit der musikalischen Entwicklung des Tangos auseinandergesetzt. Tango tanzen ist für ihn wie eine ‚bewegte Umarmung‘. Schon in den 1990er Jahren initiierte er in der Berliner Location Podewil den ‚Tangosommer‘ und andere Formate. Heute organisiert er zusammen mit seiner Partnerin Daniela Feilcke-Wolff Tango-Events und Konzerte. Im Berliner Tangostudio Mala Junta hat er die Seminarreihe ‚Die lange Nacht der Tangoorchester‘ durchgeführt. Während der Corona-Zeit produzierte er gemeinsam mit Daniela die Podcast-Reihe ‚In 80 Tangos um die Welt‘. Eine Buchveröffentlichung ist in Vorbereitung.“

Auf Facebook erfahren wir dazu noch:

„In unserer Sendung TANGO ON AIR vom 02. Januar 2022 haben wir mit Raimund Schlie über die musikalische Entwicklung und die verschiedenen Stile im Tango gesprochen. Von der Guardia Vieja (Alte Garde), der Guardia Nueva (Neue Garde) über die Epoca De Oro (goldene Zeitalter) bis hin zum Tango Nuevo.“

https://www.facebook.com/tangoberlin.de/ (Post vom 3.1.22)

Das Video ist auf YouTube zu sehen. Auch hier bezieht sich der Begleittext eindeutig auf dieses Thema:

„Von der ‚Alten Garde‘ bis zum ‚Tango Nuevo‘: In unserer Sendung TANGO ON AIR vom 02. Januar 2022 haben wir mit Raimund Schlie über die verschiedenen Tangoepochen- und stile gesprochen.“

Da sollte man doch in der Pörnbacher Tangoprovinz die Ohren spitzen, wenn uns in der europäischen Tangohauptstadt ein solch wuchtiges Thema in 10 Minuten und 12 Sekunden dargeboten wird! Na dann:

Der Talkmaster stellt uns seinen Gesprächspartner erstmal ausführlich vor – wobei eine alte Journalisten-Weisheit besagt: Je mehr man dazu erklärt, desto unbekannter ist das Gegenüber. Wenn man’s dann noch vom Zettel ablesen muss, würde ich es als feindlichen Akt auffassen.

Aber gut, Buntenbach liest eh viel ab. Freies Sprechen kennt er vom Verein wohl weniger.

Nun soll Schlie einen „kurzen Überblick“ zu den Epochen im Tango geben: Der beginnt mit der Erwähnung der „Guardia vieja“, in der Folge die „neuen Leute“ wie D’Arienzo, Anfang der Vierziger dann Troilo, Pugliese usw. Lieber würde Schlie aber in „grobe Richtungen“ unterteilen wie den „rhythmischen, sehr populären Stil“, den „Wohlklang“ (Fresedo, Di Sarli) und die „Evolutionisten“ um Julio de Caro. „Und später auch Astor Piazzolla natürlich“. Ah ja…

Bereits nach zweieinhalb Minuten verlässt Buntenbach dieses doch sehr bildungslastige Sujet und geht nun zur Frage über, inwiefern das jeweilige Gesellschaftsbild auch die Tangomusik beeinflusst habe. Von Schlie erfahren wir: Doch, ja, schon. Besonders in den Texten. (Die bei uns eh kaum einer kapiert.)

Nun geht es um die Entwicklung der Instrumentalisierung. Ja klar, früher transportable Musikgeräte wie Geige, Gitarre, Querflöte, ortsfest dann Klavier, Kontrabass. Und ohne Bandoneón hätte es den Tango eh nicht gegeben. Gut, dass uns das endlich mal einer sagt!

Weil es ja alles ein wenig zusammenhängend erscheinen soll, geht es nun um den sozialen Aspekt im Tango. Raimund Schlie benötigt hierfür den Kick der „öffentlichen Intimität“. Daher verspüre er kein großes Bedürfnis, „zu Hause im Wohnzimmer zu tanzen“. Da fehlt ihm das Publikum und damit die Spannung. Nun gut, es soll auch andere erotische Spielarten geben, wo Zugucken erwünscht ist…

Aber die monströsen Bücherwände im Hintergrund lassen uns in Ehrfurcht konstatieren: Hier wütet der Intellekt.

Und was beachtet der Gesprächspartner beim Auflegen? Das sei für ihn „zweckorientiert“: Bei Anfängern kürzere Tandas, für die Erfahrenen dann eher Musik der Vierziger – Buntenbach hilft nach: „Also das Goldene Zeitalter“. Na sicher doch…

An der Stelle darf nochmal Piazzolla ran, der ja zum Ende dieser Zeit seinen Tango nuevo etablierte. Und kleinere Ensembles, die eher zum Zuhören spielten. Das sei das Ende des Tango als Tanzmusik gewesen. Merke also: Seit zirka 1960 hat sich wohl nichts mehr getan, was des Tanzens wert gewesen wäre!

Dann wenden wir uns doch besser wieder der Stummfilmzeit zu, wo viele Tangomusiker in den Kinos spielten. Wie gesagt: Soll ja alles ein bisschen zusammenhängen!

Gegen Schluss darf Schlie noch ein wenig Eigenwerbung machen: Unterricht, Tangoreise, Podcast. Und ein Buch schreibt er grade auch.

Hier das Video:

https://www.youtube.com/watch?v=nalo_8nZgok

Fazit

Es mag dem Berliner Bildungssystem geschuldet sein, dass die Fähigkeit zur Themaerfassung stark dekompensiert ist: Höchstens zwanzig Prozent des Videos befassen sich mit dem ausgelobten Inhalt. Doch dafür kann Raimund Schlie nichts. Außer, dass er sich auf ein solches Larifari-Geplauder einlässt.

Doch auch wenn es sich stellenweise mal ums Thema handelt, bewundere ich Buntenbachs Talent, wirklich alles in Grund und Boden zu trivialisieren. Immer, wenn es droht, ein wenig in die Tiefe zu gehen, macht er’s Wasser tückisch trübe – und der Gesprächspartner zappelt an der nächsten Frage. Zudem hat man das Video an einigen Stellen geschnitten – nicht, dass es zu ausführlich wird…

Nein, sorry, das waren die Tangoepochen als Globuli in D 10. Aber wie ich immer wieder festgestellt habe: Die große Mehrzahl der Tangotanzenden hat von der Musik dieses Genres so gut wie keine Ahnung. Da mag eine homöopathische Therapie durchaus nützlich sein. Dieses Video sehe ich aber als „Erstverschlimmerung“ an.

Die klare Aussage lautet nämlich wieder einmal: Ab Piazzolla hat es nichts mehr gegeben, was auf dem Parkett interessieren könnte. Weder die Phase der 1970-er bis 90-er Jahre mit großartigen Ensembles wie dem Sexteto Mayor, mit Sängerinnen wie Susana Rinaldi. Und von den modernen Tangoorchestern, die seit mindestens 15 Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen, ist keine Rede.

In Schlies Podcasts „In 80 Tangos um die Welt“ dreht sich, wenn ich richtig gezählt habe, genau ein Beitrag um Piazzolla, ein weiterer um Elektrotango. Dafür haufenweise die sattsam bekannten vier bis fünf „großen Orchester“ der EdO:

https://www.youtube.com/channel/UCcfmSxiBVa6sbbgHLxR8kuw

Das alles wird uns in sanftem, freundlichen Ton sowie sicherlich mit großer Fachkenntnis erklärt. Der Placebo-Effekt ist gesichert. Doch oft sind die netten Reaktionäre gefährlicher als die holzig auftretenden.

Und weil wir doch alle mit unseren Büchern (ob geplant oder herausgegeben) ein wenig Reklame machen dürfen: In meinem „Milonga-Führer“ befasst sich ein Kapitel auf fast 50 Seiten mit der gesamten Tangomusik (in der aktuellen Auflage S. 195-247). Könnte man direkt mal nachschauen...

Bei manchem, was uns als Expertise zum Tango verkauft wird, gilt halt, gerade für Neulinge, die Warnung aus der „Forelle“:

„Die ihr am goldenen Quelle
Der sicheren Jugend weilt,
Denkt doch an die Forelle,
Seht ihr Gefahr, so eilt!

Kommentare

  1. Auf der FB-Seite von Thomas Kröter hat sich nun der bekannte Verbal-Rambo Arthur Dent zu meinem dort verlinkten Blogartikel (na ja, eigentlich zu meiner Person) gemeldet:

    „Thomas, Du hast oft gute Beiträge. Aber Deine Haßliebe zu dem Blogtyp: hast Du es nötig #DasRiedl zu promoten?! Den dreisten Abschreiber kompletter Beiträge (‚Wiederkäuer‘) der es sich anmaßt über Jörg's Interviewstil zu richten. Wenn man sich die Videos im Web anguckt auf denen #DasRiedl tanzt (das Wort Tango will ich dafür nicht verwenden), dann wird sein Beitrag im Angesicht von Jörg & Raimund zur billigsten Blasphemie. Thomas, Du beherrschst wertvollere Postings!“

    Ich habe darauf geantwortet:

    „Ich sehe grade, dass ich für meinen Blogtext der ‚Blasphemie‘ geziehen werde. Hab ich's doch schon immer vermutet: Der Tango wird von Göttern regiert... Und ich schreibe eh alles nur ab – und tanzen kann ich auch nicht. Tja, wer ihn kennt, den Arthur Dent... Lieber Thomas Kröter, gut, dass du ihm ein warmes Plätzchen auf deiner Seite bietest – bei all den Accounts, aus denen er schon rausgeflogen ist!“

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