Mischen impossible
Liegt der Tango pandemiehalber fast völlig darnieder? Wen interessiert es noch, welche Musik auf Milongas aufgelegt wird, die stark reduziert oder gar nicht mehr stattfinden? Beherrschen stattdessen die Querdenker mit ihren spannenden Geschichten die öffentliche Diskussion?
Ich darf heute mit einem Trost aufwarten: Bei den Tango-DJs bleibt man hartnäckig beim diffizilen Wissenskatalog des Auflegens und tauscht sich munter darüber aus – beispielsweise in der Facebook-Gruppe „Tango DJ Forum (TDJF)“.
Vorgestern grub ein Vertreter dieser Spezies eine sensationell neue Frage aus: Bekanntlich sollte eine Tanda ja nur Aufnahmen eines Orchesters einer eng begrenzten Schaffensperiode beinhalten. Hardliner bestehen zusätzlich darauf, dass diese entweder nur instrumental oder ausschließlich gesungen zu sein hätten. Und wenn, dann nur mit einem Sänger? (Gendern muss man diesen Begriff ja wahrlich nicht!)
Hier die Originalfrage eines DJs:
„Bin nur vorbeikommen, um daran zu erinnern, dass das Mischen von Orchestern in derselben Tanda oder das Mischen von Sänger mit demselben Orchester in einer Tanda eine Ausnahme sein sollte, wenn man auflegt.
Wenn mehr als die Hälfte deiner Tandas während eines Abends so sind, besteht die Gefahr, dass die Musik nicht gut wird. Ich würde sogar sagen, maximal ein oder zwei Tandas.
Ich weiß, du weißt, wir alle wissen, dass es bei der großen Mehrheit der Orchester genug gute Stücke gibt, um Tandas zu bauen, in denen derselbe Sänger und dasselbe Orchester in einer Tanda vorkommen. (…)
Bitte versprechen Sie Ihren Tänzern mit den ersten beiden Liedern keine romantische und melodische Tanda, wenn Ihre letzten beiden schnell und rhythmisch sein werden. Das ist fast ein Verbrechen.“
Mischen also impossible? Eine große Zahl von Fachleuten lieferte bislang 82 Kommentare. Nachfolgend meine (oft leicht gekürzten) Übersetzungen aus dem Englischen oder Spanischen – viel Vergnügen!
Die Stahlhelm-Fraktion war an diesem Punkt unerbittlich:
„Ich stimme zu! Warum Sänger mischen, wenn es keinen Grund dazu gibt? Warum Orchester mischen, wenn es keinen Grund dazu gibt? Ich habe das kürzlich bei einer Milonga gehört, zu der ich gegangen bin, und wo es mir wirklich nicht gefallen hat. Ich tanze nicht oft, aber ich werde immer mit meinen Füßen abstimmen und mich mitten in der Tanda setzen, wenn ich glaube, dass die Musik nicht zu dem passt, was vom ersten Lied versprochen wurde!“
„Natürlich… die meisten Orchester haben mehr als genug, das man verwenden kann: mit dem gleichen Sänger, Stil, Jahren usw.“
„Zu viele DJs denken nicht darüber nach, was sie tun und welche Wirkung es auf die Tänzer haben wird. Es ist eine Schande...“
„Persönlich verlasse ich die Tanzfläche, wenn ein DJ gegen diese wesentlichen Regeln verstößt. Wenn alle dasselbe machen würden, würden sie für eine leere Fläche musizieren: Die DJs, die so auflegen, müssten lernen oder sich mit etwas anderem beschäftigen.“
Zum folgenden Kommentar entspann sich eine interessante Diskussion:
„Eine meiner ersten echten Enttäuschungen von einem DJ, während ich tanzte, war von einem gut angesehenen DJ, dessen erste 2 Tracks Pedro Laurenz mit Alberto Podesta waren – sehr besondere, schöne Stücke und eine sehr geliebte Tanda. Aber die letzten beiden Aufnahmen waren Casas und Farrell, die sich in jeder Hinsicht so komplett unterscheiden, einschließlich Tempo, Rhythmus und Gefühl. Warum sollte jemand diese mischen??? Die Stimmung war komplett zerbrochen und die Tänzer waren enttäuscht, die sich entschieden hatten zu tanzen, weil sie dachten, es sei eine Laurenz/Podesta-Tanda. Ich habe diesen DJ von diesem Moment an nicht mehr für einen guten DJ gehalten.“
„Und das verrückteste ist, dass die Leute bei Festivals/Marathons zu solchen Tandas klatschen.“
„Aber wenn die Leute klatschen - heißt es nicht, dass es ihnen gefiel?“
„Meine Erfahrung ist, dass die meisten Leute klatschen, weil sie das Lied mögen, das Sie im Moment spielen, und nicht so sehr diejenigen, mit denen Sie die Tanda angefangen haben. Das bedeutet im Gegenzug, dass ihnen Kohärenz und Tanda-Struktur egal sind. Ansonsten hätten sie wahrscheinlich erst gar nicht zu der Tanda getanzt. Das heißt wieder, sie sind ignorant genug, um einfach zu allem zu tanzen.“
„Ich habe früher selbst zu ‚allem‘ getanzt. Es ist ein Zeichen der Ignoranz. Es liegt nicht daran, dass du alles liebst, sondern weil für dich alles dasselbe ist.“
„Nur so ein Gedanke – es wurde erwähnt, dass es meistens bei Marathons und Festivals passiert. Vielleicht bin ich der Teufelsanwalt, aber vielleicht sind sie froh, nach Stunden korrekten, ordentlichen Tandas etwas anderes zu haben. Tänzer langweilen sich manchmal mit Musik. Ich bin mir nicht sicher, ob es die Tänzer sind, die ignorant sind.“
Ja, aber darf den Leuten sowas nicht Regelkonformes eigentlich gefallen? Oder wäre da Zwangserziehung geboten? Kein Zweifel: Selbst auf solchen Seiten tummeln sich immer mehr Freigeister – für mich eine neue Erfahrung! Beispielsweise hätte die folgende Äußerung vor Jahren noch zu Haberfeldtreiben nicht unter 100 Kommentaren geführt:
„Die erste Regel des Tango-DJs: Mach niemals eine Regel darüber, wie man Tandas kreiert.“
Was mich betrifft:
Ich halte das Gedöns um die Bedeutung der Tanda-Zusammenstellung für hochgradig überschätzt. Nach meinen Erfahrungen ist es viel mehr das einzelne Stück, das gefällt und zum Tanzen animiert. Und das Publikum entscheidet – und nicht irgendwelche verquasten Reglements. Tango ist keine ehrfurchtgebietende Hochkultur, sondern Unterhaltungs- und Tanzmusik.
Komisch – bei normalen Bällen wären die Tanzenden ziemlich irritiert, wenn die Kapelle drei Langsame Walzer hintereinander spielen würde. Da findet man es völlig normal, wenn nach einem Tango ein Foxtrott und hernach ein Wiener Walzer gespielt wird. Aber die Gäste solcher Veranstaltungen können halt auch verschiedene Tänze – oder kriegen es mit irgendwelchen Improvisationen hin. Noch seltsamer: Obwohl die Tangomenschen angeblich so zieselig auf Abwechslung innerhalb einer Tanda reagieren, sehe ich auf „traditionellen“ Milongas zu den verschiedenen Orchestern meist die gleichen Trippelschrittchen…
Aber ich gebe zu, als „Tango-Dino“
noch mit CDs aufzulegen. Um nicht
ständig die Scheibe wechseln zu müssen, spiele ich oft Stücke eines Ensembles hintereinander – und wenn
die auf der CD aufeinander folgen, ist es mir noch lieber – dann muss ich
zwischendurch nicht von der Tänzerin zum Apparat spurten. Wenn es ein Sampler
ist, dürfen es aber auch verschiedene Interpreten sein. Die Regeln der historischen Briefmarkensammler sind mir piepegal.
Man muss halt spüren, ob es passt. Diese Intuition lernt man nicht in Regelsammlungen. Und die Tanzenden beobachten – dadurch kriegt man viel mit. Ansonsten bleibt es eine Mission impossible.
Aber ich bin ja auch kein Experte. Lassen wir daher noch einen das Schlusswort sprechen:
„Que falta que me haches ist von 1963 (Percal von '41 und mit Echo), das klingt nicht gut.. El mismo finale '63 könnte dazu passen, ist aber schwierig.. vielleicht die Lieder aus Podestá aus 1954 (la Cantina etc).. Aber da ist seine Stimme rauer.. Pedro Laurenz mit Héctor Juncal '46 ist auch schwierig.. Aber mit Jorge Linares ist das manchmal möglich. Und noch ein Beispiel: Raúl Aldao (orq d'Agostino) (1943) er hatte nur 3 Lieder.. kann mit einem Instrumental gemischt werden (wie Gran Muñeca etc). Wichtig sind auch die Zeiträume.. Ach und natürlich Roberto Flores (sein eigenes Orquesta) mit Tristeza Marina.. das ist auch schwer zu benutzen.. usw.“
P.S. Ich habe diesen Text gerade unserer ambulanten Hauskatze vorgelesen:
Quelle: https://www.facebook.com/groups/483869958446877 (Post vom 29.11.21)
Was bin ich froh, dass ich keine DJane bin...da würde ich glatt verzweifeln an solchen Regeln.
AntwortenLöschenAber von dem per-Fuß-Abstimmungsrecht mache ich durchaus Gebrauch, auch mitten in einer Tanda...Manche Lieder höre ich durchaus gerne, muss aber nicht unbedingt darauf tanzen.
LG
Carmen
Das geht mir genauso. Und wenn man nicht alles in diese starre Tanda-Cortina-Struktur gepresst hätte, wäre es einfacher, mal für ein Stück auszusetzen.
LöschenDanke für den Beitrag und liebe Grüße!