Die Musik kann gehen

 

Und wie immer hilft ein Blick ins Drama. In ein besonders schönes, tolles, aberwitziges. In Friedrich Schillers „Verschwörung des Fiesco zu Genua“, dritter Akt, vierter Auftritt. Muley Hassan („ein konfiszierter Mohrenkopf, die Physiognomie eine originelle Mischung von Spitzbüberei und Laune“) hat soeben dem Fiesco, Grafen von Lavagna („junger, schlanker, blühend-schöner Mann, stolz mit Anstand“), etliche Intrigen enthüllt und Spitzel- und Spitzbubendienste geleistet und hofft jetzt auf Belohnung.

Doch Fiesco meint nur: „Kerl, du verdientest einen eigenen Galgen, wo noch kein Sohn Adams gezappelt hat. Geh ins Vorzimmer, bis ich läute.“ Darauf grummelt Muley Hassan: „Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen.“

Allso klärt uns die FAZ über den kulturellen Hintergrund des bekannten Zitats auf:

So steht’s im Drama. Nichts da von „Schuldigkeit“. Gurgeln abschneiden und Giftpülverchen abfangen und Verleumdungsbriefchen austragen und Dolche im Gewande führen – das hat nichts mit „Schuldigkeit“ zu tun. Sondern mit Arbeit! Schillers Mohr ist niemandem etwas schuldig (es sei denn der Hölle). Schillers Mohr schafft was. Und zwar mit Freude und Lust! Wobei die Moral keine Rolle spielt.

Wie ich auf dies Drama komme? Auch im Tango gibt es Faktoren, die ihre Schuldigkeit zu tun haben, die man für ihre Arbeit jedoch nicht wertschätzt.

Meine Musikerinnen und ich veranstalten ja gelegentlich Konzerte – manchmal sogar mit Tangomusik. Was mich immer wieder verblüfft: Wir können uns zwar über mangelnden Publikums-Zulauf nicht beklagen – aber obwohl wir die Einladungen auch ans Tangoumfeld schicken, bleibt da die Resonanz ziemlich gering. Stattdessen erscheinen haufenweise Leute, die sicher noch keinen Schritt dieses Tanzes versucht haben.

Diese Erfahrung erschütterte mein tänzerisches Weltbild erheblich. Wenn man sich auf dem Parkett bewegt, muss man doch die Musik mögen, sich mit ihr beschäftigen? Offenbar nicht.  

Ich habe einmal auf der FB-Seite „Tango München“ die Annoncen (Diskussionsbeiträge wäre zu hoch gegriffen) der letzten zehn Tage durchgesehen. Was wird da über die Musik der Practicas und Milongas gesagt? Ergebnis: fast nichts. Stattdessen sind „Tango-Gutscheine“ derzeit schwer angesagt. Meist wird auf die gebotenen Klänge überhaupt nicht eingegangen, manchmal wenigstens der DJ genannt. Als Ausnahmen habe ich entdeckt:

„Wir spielen klassische Tangos in Tandas mit Cortinas.“

„nur der pure Tango mit feinster traditioneller Musik“

Einmal immerhin werden wir sogar musikhistorisch belehrt:

„Durch Gardel hielt der gesungene Tango Einzug in die Tango Musik; de Caro gilt als Pate des instrumentellen Tangos, aus welchem sich später die Tangos der goldenen Tango Jahre (also die Tangos, die wir heute hören) entwickelten.“

Da frage ich mich doch: Wer ist dieser komische Sänger, den wir auf den Milongas so gut wie nie kennenlernen? Und wir hören die Tangos der goldenen Jahre… wir alle? Interessant!

Die Werbeanzeige für eine Silvester-Sause veranschaulicht sehr schön die aktuelle Gewichtung. Zur Musik gibt es eine Zeile:  

„Beste Laune Tango Musik mit DJ …

Und nun die Gründe, wieso wir wirklich hingehen:

„Leckere Schnitten (damit die Zeit nicht zu lange wird bis 00.00)
* Frische Früchte (zur Erfrischung)
* Sweets (einfach so)
* Tischfeuerwerk (zum Krachen lassen)
* Mitternachts Prosecco (zum Anstoßen)
Und nach 24.00 Uhr Chilli sin carne, hot and spicy!“

Frische Früchte zur Erfrischung – wer hätte das gedacht? Und vegetarisches Chili sogar mit Doppel-L – das fetzt natürlich besonders! Oder kommt der Begriff vom Chillen?

Quelle: https://www.facebook.com/groups/tangomuenchen

Vielleicht gibt es als Nachspeise sogar noch einen Kubikmeter durchgeatmetes Omikron-Aerosol… Doch womit sich der Durchschnittstänzer auch anstecken mag – Musik kann es nicht sein.

Vor längerer Zeit schon hat mir ein Gespräch mit einer sehr guten und vielseitigen Tanguera zu denken gegeben: Tangomusik selber, so gestand sie mir, reize sie überhaupt nicht – es sei denn, sie könne dazu tanzen.

Damit löst sich für mich ein Rätsel, das mich viele Jahre beschäftigt hat: Wie kann es sein, dass viele Besucher sich jahrein, jahraus dem weitgehend gleichen, langweiligen historischen Gedudel aussetzen? Wenn man keinen Sprung in der Schüssel oder im Trommelfell hat, müsste man das doch hören!

Die verblüffend einfache Antwort: Schon, aber es interessiert keinen. Musik ist der Anlass, den man erst benötigt, wenn man auf dem Parkett steht. Vor- und nachher spielt sie keine Rolle. Und daher darf auch nichts Überraschendes kommen, sonst droht Überforderung.  So konnte man über Jahre drastisch reduzierte Musikprogramme etablieren.

Doch wie wir an obiger Annonce sehen: Der Tango bietet ja auch für musikalisch völlig Uninteressierte eine Menge: Essen, Trinken, Verkleidung, gesellschaftliches Flair, Sehen und Gesehen werden. Weiterhin Unterricht, welcher die Illusion verkauft, etwas gelernt zu haben, was einen vom unausgebildeten Plebs unterscheidet. Besonders wichtig: Das, was der mitteleuropäische Kleinbürger für Erotik hält. Im Premium-Segment zusätzlich Ferienreisen – je nach Geldbeutel von Campingatmosphäre bis zu Kreuzfahrt-Flair, Kontakt mit fremden Welten, wo man den Tango im Blut hat. Doch muss man sich fürs Jodeln interessieren, wenn man sein Geld in der Schweiz anlegt? Na eben!    

Die arme Musik, weithin als Taktgeber missbraucht, verrichtet klaglos-knisternd ihre Arbeit. Danach kann sie gehen. Tun ja die Tanzenden auch – streng hintereinander und gegen den Uhrzeiger. Vorwärts in die Vergangenheit!

Wer seine Schuldigkeit tut, kann nicht schuld sein. So wie halt Schillers Mohr. Den es heute noch gibt, wenngleich man ihn nicht mehr so nennen darf.

Es gibt von diesem Autor aber noch einen Moor, nämlich den Karl in den „Räubern“. Der rebelliert ein wenig gegen das Establishment. Könnte der Tango auch brauchen. Wie man aber aus dem Drama weiß, nimmt das kein gutes Ende.

Tja, wohin soll ich mich wenden? Um es mit Schillern zu sagen:

„Geht ihr linkswärts, lasst mich rechtswärts gehn:“  

P.S. Und weil ein wenig klassische Bildung nicht schaden kann:

https://www.youtube.com/watch?v=LVpzFTF1QVM

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