Es kann morgen vorbei sein

 

Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.

Gestern erreichte mich die Mail eines Lesers. Leider will er, wie so viele im Tango, von mir nicht namentlich zitiert werden. Ob es damit zusammenhängt, dass er meine Arbeit weitgehend lobt, weiß ich nicht. Fest steht aber: Komplimente erreichen mich meist unter dem Siegel der VerschwiegenheitKritik hingegen wird in der Regel öffentlich geäußert.   

In der mir eigenen Bescheidenheit will ich nicht ausführen, was der Leser an meinen Artikeln gut findet – und erst recht nicht einige nicht ganz nette Anmerkungen zu meinen werten Gegnern. 

Der Schreiber hat aber auch ein Problem, das wohl derzeit viele im Tango bewegt. Mit seiner freundlichen Genehmigung zitiere ich es in voller Länge:

„Was mich aber wirklich umtreibt, ist die Frage, wie es eigentlich weitergehen kann mit unserem Lieblingshobby, wenn der normale Milongabetrieb bis auf weiteres gar nicht oder nur eingeschränkt passieren darf. Denn die Spendenaufrufe der Tangolehrer im Internet werden diese Herrschaften nicht auf Dauer über Wasser halten. Sind die dann nach Corona noch da, oder machen die was anderes?

Die halb-professionellen Veranstalter sind da sicher im Vorteil, weil sie wirtschaftlich nicht auf die Veranstaltungen angewiesen sind. Die wird es nach Corona vermutlich noch geben. Aber was, wenn die Beschränkungen nur halbvolle Milongas zulassen? 

Ein Münchener Tanzlehrer hat mir mal erzählt, dass der Durchschnitts-Milonga-Besucher für ca. 4,50 € Getränke konsumiert und seinen Durst mit mitgebrachtem Mineralwasser stillt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man auf teurem Pflaster wie in München oder Regensburg noch irgendeine schöne Location findet, die man mit 7 € Eintritt und einem Konsum von 4,50 € finanzieren kann, noch dazu, wenn man den Laden nicht mal vollpacken darf. Also entweder müssten dann die Tangofreunde sich damit abfinden, dass der Milonga-Abend mehr als 12 € kosten wird, oder wir müssen noch warten, bis alle geimpft sind.

Ich habe die unbestimmte Sorge, dass das Tangoleben, so wie wir es kennen, nach Corona nicht einfach wieder auflebt, sondern dass da einige fehlen werden. Normalerweise würde ich denken, okay, dann wird was Neues entstehen, aber vielleicht ist das Feld hinterher so karg, dass da gar nichts mehr wächst.

Würde mich interessieren, wie Du drüber denkst, aber wenn Du keine Zeit zum Antworten findest, verstehe ich das auch. 

Schönen Gruß, …“

Na, die Zeit nehme ich mir doch gerne (obwohl ich dazu schon einiges geschrieben habe)! 

Ich meine vor allem, solche Fragen beruhen auf einigen Missverständnissen.

Soweit ich das überblicke, gibt es hierzulande kaum Veranstalter oder Tangolehrer, die vor Corona wirklich hauptberuflich, also ganz überwiegend vom Tango leben konnten. Bestenfalls waren die „halb-professionell“ tätig, viele davon jedoch betrieben eher ein Hobby, das ihnen gelegentlich auch ein paar Einkünfte bescherte. Ansonsten haben die einen Hauptberuf, reich geerbt oder sind finanziell durch den Lebenspartner oder die Familie abgesichert.

Schlimm getroffen hat es vor allem diejenigen, welche hohe Fixkosten hatten, beispielsweise durch feste Anmietung einer Location. Die wenigsten dürften diese halten können – und ob sie sich nach Corona diesen Schritt noch einmal wagen werden, ist fraglich.

Die Mehrzahl aber agierte in nur stundenweise benutzten Studios, Gaststätten oder gemeinnützigen Räumen und wird diese Aktivität nach der Corona-Krise sicherlich wieder aufnehmen können. Vor allem, wenn man sich als „gemeinnütziger Verein“ etabliert hat.

Zu den Preisen für Eintritt und Getränke auf Milongas habe ich vor vier Jahren schon zwei Dinge festgestellt: Erstens sind sie – verglichen mit Kinos, Clubs und Konzerten viel zu niedrig. Unter den heutigen Verhältnissen sähe ich 15 Euro für die Teilnahme als das Minimum. Und man komme mir nicht mit sozialen Bedenken (für die es ja individuelle Lösungen gäbe)! Meinem Eindruck nach stellt die Mehrzahl der Besucher keinen „Sozialfall“ dar (jedenfalls nicht finanziell).

Zweitens sind die Gebühren allerdings zu hoch, wenn man das oft dilettantische Herumgewurstel von Tangoveranstalten bedenkt. Näheres ist hier nachzulesen.

http://milongafuehrer.blogspot.com/2017/05/die-scheine-trugen.html

Vor allem aber stellt für mich die Pandemie eine gute Gelegenheit dar, einmal über den „normalen Milongabetrieb“ nachzudenken: Ist es wirklich so attraktiv, wenn sich fünfzig und mehr Besucher nicht nur auf einer vollgestopften Tanzfläche mit Minischrittchen bewegen müssen, sondern schon in der Garderobe kaum wissen, wo sie ihre Klamotten lassen sollen, und nachher froh sind, wenn sie sich wenigstens hin und wieder auf ein freies Sperrmüll-Plastikstühlchen setzen können und ihr Getränk auf dem nicht weit entfernten, aber staubigen Fensterbrett deponieren dürfen? Und das Ganze zu einer oft wiederholten YouTube-Playlist aus der goldenen Tango-Steinzeit? Oder gar durch halb Europa reisen, um dann eben diese Verhältnisse auch in der Fremde zu erleben?

Der Grund ist natürlich klar und wird „Sozialattraktion“ genannt: Für Milongas wie für Autobahn-Unfälle gilt: Wenn erstmal ein paar Leute stehen bleiben, wächst die Menge im Minutentakt. Und hier wie dort gibt es keine Rettungsgasse. Ich frage mich inzwischen wirklich, warum die Massen auf gewisse Tangoveranstaltungen strömten: Wegen der Musik und des Tanzes? Beides könnte man auch in viel kleinerem Rahmen und bequemer haben. Ich fürchte, es geht vorwiegend um Sehen und Gesehen werden und Kontakte möglichst promiskuitiver Art.

Mich erinnert das Ganze stark an die alten Theater und Opernhäuser: Von den teuren Plätzen aus konnte man vor allem ausmachen, wer sonst noch da war (und mit wem). Welches Werk auf der kleinen Guckkastenbühne aufgeführt wurde, war eher uninteressant. 

Wann also der „normale Milongabetrieb“ wieder möglich sein wird? Ganz zum Schluss der Lockerungen, wenn auch die Puffs wieder aufmachen dürfen (welche schöne Parallele)!

Ich habe mich schon vor Jahren aus dem Gedöns der „Tango-Großkampf-Veranstaltungen“ verabschiedet, besuchte seither fast nur noch kleine Milongas und freute mich jeden Monat, wenn wir mit einem Dutzend Gästen im heimischen Wohnzimmer tanzen konnten. Das kann ich auch heute noch mit meiner Frau und einzelnen Besuchern. Und dies zu Musik, die uns gefällt! Klar freuen wir uns darauf, wieder einige Leute mehr einladen zu können. Ich schätze, das wird im Sommer möglich sein.

Meine Hoffnung ist, dass sich der Tango zumindest anfangs eher im privaten Rahmen wieder etablieren wird. Dann blieben ihm zumindest die erhalten, denen es wirklich um Musik und Tanz geht. Insgesamt sehe ich schon eine Abwanderung voraus, die zwischen einem und zwei Dritteln der früheren Population liegen dürfte.

Nachdem ich viele Jahre daran litt, dass im Tango die Falschen kamen und die Richtigen gingen, könnte ich eine nun gegenteilige Entwicklung ehrlicherweise nicht bedauern! 

Bereits in der Zeit vor Corona beobachtete ich in unserem Tanz ein zunehmendes Überangebot aller möglichen Leistungen. Klar, viele wollten den jahrelangen Tango-Hype halt ausnützen. Inzwischen gibt es zu viele Häuptlinge und zu wenig Indianer. Dieser Effekt wird sich nach Corona noch verstärken.

Bei diesen Fragen geht mir eine Melodie nicht aus dem Kopf, die 1961 durch Heidi Brühl populär wurde: „Das kann morgen vorbei sein“.

Das Schicksal kann ironischer als jeder Satiriker agieren: Da hat man sich im Tango viele Jahre lang daran abgearbeitet, musikalische und verhaltensmäßige Ideologien zu etablieren, sich per Fernstudium an der „YouTube-Akademie“ zum Musik- und Tanzexperten ausbilden zu lassen, seine Rangordnung mittels Funktionärsrolle aufzubrezeln oder zu hochwichtigen Exklusivveranstaltungen eingeladen zu werden – und dann? Kommt so ziemlich das Primitivste, was man gerade noch dem Leben zuordnen kann: ein simples Virus. Und das schöne Kartenhaus bricht geräuschlos in sich zusammen… 

Vielleicht hätte man die Zeit doch lieber tanzend auf dem Parkett verbringen sollen? Na gut, habe ich ja gemacht. Daher darf ich durchaus sagen: Ich habe nichts versäumt!

Den erwähnten Nahkampfdielen-Lamourhatscher komponierte Werner Scharfenberger für die Teenager-Schmonzette „Eine hübscher als die andere“.

https://de.wikipedia.org/wiki/Eine_h%C3%BCbscher_als_die_andere

Die folgende Szene zeigt neben der Sängerin den heute kaum noch bekannten Peter Nestler, dem deutlich anzumerken ist: Er kann mit dem Romantik-Schmus, der Holzpferd-Ronda und der Brühl nicht das Geringste anfangen. So ging es mir auf gewissen Milongas auch. Daher wurde Nestler auch später ein zeitkritischer Dokumentarfilmer, dessen Produktionen es wegen seiner linken Einstellung im Fernsehen schwer hatten. Deshalb emigrierte er nach Schweden. Heute würde er vielleicht Blogger

https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Nestler_(Regisseur)

https://www.youtube.com/watch?v=I_t1oj4juBQ

P.S. Meinem unbekannt bleiben wollenden Leser herzlichen Dank für die Anregung!

Kommentare

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