Tango – eine unethische Industrie?

 

Über die Berliner Tangolehrerin und Neotänzerin Vio TangoForge habe ich schon berichtet:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/09/der-tango-der-neu-viktorianer.html

Auf ihrem Blog veröffentlicht sie eine Reihe von Artikeln (leider meist in Englisch), in denen sie den Tango aus einer modernen, nonkonformistischen Sicht beleuchtet. Dabei formuliert sie sehr klar und wenig diplomatisch. 

In meinem letzten Text habe ich unter anderem die Frage aufgeworfen, wie sinnvoll und effektiv der Tangounterricht hierzulande ist. Im Mai letzten Jahres veröffentlichte Vio einen Beitrag mit dem Titel „An unethical industry?“ Darin packt die Autorin zu diesem Thema Thesen aus, die sich mehr als kritisch ausnehmen. (Nebenbei frage ich mich, wieso stets bei mir die Empörung einschlägt – wo ich mich doch im Vergleich damit eher zurückhaltend äußere…) 

Solle sie nach den Zeiten der Distanz überhaupt zum Tango zurückkehren? Es gebe mehr Dinge bei diesem Tanz, welche sie nicht vermisse, so Vios ziemlich skeptischer Blick. Die Idee, sich den Wechselfällen einer Milonga auszusetzen, stehe nicht an der Spitze ihrer To-Do-Liste. 

Vor dem Tango sei sie Teil demokratischer und feministischer Gemeinschaften gewesen, die sich für Solidarität, Selbstreflexion und Dialog einsetzten. Beim Tango sehe sie – neben den das Ego schützenden Códigos – keinerlei moralische Struktur. 

Was meint sie mit ihrer Aussage, die Tango-Industrie sei unethisch?

Als professionelle Pädagogin erkenne sie die ungeheuerlichsten Verstöße gegen die Bildungsethik“:  

·         den Lernenden Informationen vorzuenthalten, um ihnen den Zugang zu verwehren

·         Informationen nur stückweise weiterzugeben, damit sie länger bezahlen, als es für das Lernen erforderlich wäre

·         Weigerung, für die Lernergebnisse Verantwortung zu übernehmen

·         mangelnde Bewertung und Überarbeitung der Unterrichtspraktiken

Mir fällt dazu mein letzter Artikel ein: Einige für mich essentielle Grundlagen des Tangotanzens habe ich erst nach Jahren und eher zufällig erhalten.

Vio sieht noch weitere, vielfältige Verstöße:

Auf Schüler werde Druck ausgeübt, die Lehrenden nicht zu wechseln. Dazu würden Machtbereiche geschaffen (Vio spricht von „Lehenswirtschaft“). Man spiele sich gegenüber den Teilnehmern auf und prahle mit seinen Fähigkeiten. Dazu setze man auch „Echtheitsansprüche“ ein und manipuliere historische Tatsachen zum Zweck der Verkaufsstrategie. Dabei verwende man „nicht überprüfbare Unsinnswörter“. Man mache sich über Schüler lustig und verunglimpfe Paare, die Showelemente tanzten. Freundschaften würden je nach den aktuellen Umständen unterschiedlich bewertet.    

Sie zögere zunehmend, in einer solchen Branche zu arbeiten. Ihre Gründe:

Erstens höre ich viele beunruhigende Informationen darüber, was die Leute unterrichten, und ich sehe viele Studenten, die so schlecht bedient werden, dass sie eine Gebühren-Rückzahlung verdienen.“

Weiterhin seien solche Schüler eher resistent gegen andere Sichtweisen im Tango:

„Stattdessen werden hauptsächlich Armeen von taub gewordenen Zombies produziert, welche die wenigen Sequenzen, an die sie sich erinnern können, mit starker Abwehr gegen das Wahrnehmen dessen, was ihnen fehlt, abliefern.“

Selber gelte sie halt als „Außenseiterin“, obwohl sie besser ausgebildet sei als die meisten, welche über sie sprächen. „Die Konkurrenz, der Feudalismus, die Feindseligkeit und die Unehrlichkeit“ machten ihre Berufslaufbahn sehr einsam. Sie müsse jedes Mal lachen, wenn sie in einem Business-Coaching lese, wie man Empfehlungen von etablierteren Branchenkollegen erhalte. Das passiere aber im Tango nicht.

Vio wolle „Teil einer Branche mit Kollegen sein, die sich für Selbstbewusstsein, Selbstreflexion und Solidarität einsetzen.“

Die Autorin zählt noch weitere Erscheinungen auf, welche in der Branche nicht gerade für Entzücken sorgen dürften: „Unehrlichkeit, Manipulation, Betrug, Fassade ohne Substanz, Missbrauch“. Die Bewahrung des Ego vor Ablehnung durch die Codigos schütze niemand anderen vor diesen möglicherweise schädlicheren Dingen:

„Betrachten wir die Tatsache, dass wir Zeit, Geld und Energie aufwenden und unser Herz und unseren Verstand für eine Kultur öffnen, die grundsätzlich asozial ist.“

Vio stellt auch einige Vorschläge für den Aufbau einer neuen Tangokultur“ dar:

Die Schüler müssten auf einen Lehrplan bestehen, anstatt nur von Sequenz zu Sequenz zu folgen.

Sie müssten lernen, Unterrichtsformen abzulehnen, die keinen effektiven Nutzen hätten. Es gehe nicht darum, die Lehrenden zu verlassen, sondern sie zur einer besseren Informationsvermittlung herauszufordern.

Vio fordert einen „Ethikkodex“ für die Tango-Gemeinschaften.

Die extremen Geschlechterrollen im Tango seien zu diskutieren: Vom Druck, der auf den Männern laste bis zum Schweigen, das den Frauen auferlegt werde. Die Autorin spricht von einem „Retro-Rollenspiel“.

Soweit Vio TangoForge. Mir gefällt nicht alles, was sie in diesem und anderen Beiträgen äußert. Manches ist schon ziemlich aggressiv – so ihre Bemerkung über die Argentinier, welche ich lieber nicht wiedergegeben habe. Und sie präsentiert auch ziemlich viel Werbung – klar, auch sie muss ihr Schulungsmaterial, ihren Unterricht verkaufen.

Dennoch meine ich, man sollte in der Corona-Pause über ihre schonungslosen Einschätzungen einmal nachdenken. Zu viele Probleme in der Szene werden ignoriert respektive schöngeredet. 

Erst gestern musste ich mich von einem anderen Tangolehrer wieder einmal belehren lassen, es stehe mir nicht zu, kritisch über Tango-Berühmtheiten zu schreiben. Dieses hierarchische Getue ist einer offenen, liberalen Gesellschaft unwürdig. Selbst im männlich geprägten Fußball darf man die Leistungen von Bundestrainern negativ beurteilen. Nur in unserem Tanz grenzt es an Gotteslästerung, die Ansichten bewunderter Stars auch einmal in Frage zu stellen.

Letztlich müssen es aber die Kunden richten. Ich rate jedenfalls dazu, im Tango Lehrpersonal zu meiden, das seine eigenen Kompetenzen hemmungslos herausstellt. Lange Listen von argentinischen Star-Lehrern, bei denen man mal ein paar Privatstunden gebucht hat, sagen genau nichts über die Befähigung zum Unterrichten aus. Einem Pädagogik-Studium oder einer Ausbildung an einer anerkannten Tanzakademie würde ich da mehr vertrauen, aber einen solchen Hintergrund hat hierzulande kaum ein Tangolehrer.

Misstrauisch würde ich ebenfalls, wenn der gelehrte Tanzstil als alternativlos hingestellt wird – und Fragen sowie Kritik damit beantwortet werden, dass man ja den „authentischen“, also widerspruchslos hinzunehmenden Tango lehre. Vio warnt zur Recht davor, dass da sehr viel Geschichtsklitterung betrieben werde. 

Erst recht in die Flucht schlagen würde mich ein Massenunterricht, bei dem jedem die exakt gleiche Tanzweise abverlangt wird, statt auf die Lernenden individuell einzugehen. Wer diesen Unterschied missachtet, hat von der Unterweisung in einem künstlerischen Fach wenig Ahnung. 

Insgesamt finde ich, dass in unserer Szene Probleme zu sehr unter den Teppich gekehrt werden. Kritik wird nicht als Anregung zu einer sachlichen, offenen Diskussion verstanden, sondern mit beleidigtem Schweigen oder persönlichen Beschimpfungen quittiert. Und „Außenseiter“ beachtet man eh nicht.

Stellt also die Tangobranche heute eine „unethische Industrie“ dar? Ich würde es anders ausdrücken: Sie muss mit der Zeit gehen oder – mit der Zeit gehen…

Ich sehe aber einen Hoffnungsschimmer: Wenn dann „nach Corona“ wieder Kurse und Workshops möglich sind, wird man dringend nach Schülern suchen, denn ein Teil der Tanzenden hat sich inzwischen andere Hobbys gesucht. Vielleicht fördert das selbst in einer solch erstarrten Szene die Aufgeschlossenheit. 

Vio beklagt zu Recht, dass man in der Branche von Kollegen kaum Empfehlungen erhalte. Daher gebe ich ihr Gelegenheit, zum Schluss noch ein wenig vorzutanzen:

https://www.youtube.com/watch?v=UtAbp4-yc4U   

Hier der gesamte Artikel von Vio TangoForge: 

https://tangoforge.com/unethical/

 P.S. Natürlich, liebe Leser, gibt es auch tolle Tangolehrer - Ihren zum Beispiel!

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