Viejo Milonguero in der Tangokrise?
Mein
Berliner Blogger-Kollege Thomas Kröter
hat vor zwei Tagen einen bemerkenswerten Artikel verfasst: „Viejo Milonguero in der Tangokrise“.
Ein „alter
Milonguero“ im Sinne des nichtsnutzigen Herumtreibers früherer Zeiten
will Kröter nicht sein – schließlich
sei seine Rente (halbwegs) sicher. Als er noch berufstätig war, habe der Tango
die Rolle des Freizeitausgleichs gespielt, welche nun nicht mehr nötig wäre.
Sein Status des „aus der
Arbeitsgesellschaft Ausgespuckten“ macht ihm lesbar zu schaffen.
Natürlich hat das auch mit der Musik zu tun. In der „angeblichen Tangohaupstadt Europas“ sinke der Anteil
der Aufnahmen, die ihn wirklich packten und aufs Parkett schleiften, „in Richtung der 50-Prozent-Marke“ – und
das „weichgespülte Weltmusikgedudel oder
das technoinfizierte Gewummer so mancher Non- und Neolongas“ mache es nicht
besser. Und dies trotz der „für mich
unbekannten Tänzerinnen aus aller Welt (…), deren Umarmung alte Stücke für mich etwas jünger erscheinen lässt (und
mich selbst obendrein).“
Tja, lieber Thomas,
was soll ich da erst in der Provinz,
ja auf dem Dorf sagen, welches nach
deiner geografischen Mentalität „hinter
den sieben Bergen“ liegt? Von der „50
Prozent-Marke“ kann ich nur träumen. Auf den durchschnittlichen von mir
besuchten Milongas wäre ein Drittel schon viel… Und unter ständiger
„Blutauffrischung“ durch Mägdelein aus aller Herren Länder leiden wir auf dem
flachen oberbayerischen Land nicht direkt. Dennoch: Das luthersche „in der Woche zwier“ an Milongabesuchen schaffe ich noch – öfters auch mehr.
Ich finde es allerdings überhaupt nicht schlimm, nicht
mehr alles haben zu müssen. Gerade die „angesagten“
Termine mit viel Show, Kronleuchtern und den Notabeln der
„Bussi-Bussi-Gesellschaft“ laufen doch heutzutage derartig normiert ab, dass
sie dem gleichen, was der Altherrenwitz manchmal dem weiblichen Geschlecht
andichtet: „Kennze eine, kennze alle“.
Sehr aufrichtig und dennoch für mich verstörend stellt Kröter fest: „Für versierte Kolumnisten und Blogger wie Harald Martenstein oder
Gerhard Riedl ist das keine Frage. Sie wissen alles. Und das besser. Sie hätten
sofort und pointengespickt eine griffige These zur Hand. Ich nicht.“
Sorry, Thomas, habe ich auch nicht! Und mir geht es ähnlich. Ob nun wirklich alles an der Musik liegt, an der jahrelangen Gewöhnung,
der Verspießerung der Szene oder dem alterstypisch veränderten Hormonspiegel,
der andere Männer zu noch größeren Verirrungen wie dem Golfspiel oder dem
Erwerb einer Harley Davidson drängt? Ich weiß es nicht – aber es ist mir
ehrlich gesagt völlig Wurst! Könnte und wollte ich es ändern, falls es mir klar
wäre? Wohl kaum.
Und wenn dann eine solche Verrücktheit nachlässt – so
what? In meinem Leben haben mich immer wieder Leidenschaften wie das Schreiben, die Zauberei und das Tanzen in
ihren Bann gezogen, und eine lange Zeit standen die Naturwissenschaften im
Vordergrund – ja selbst dem Erziehen anderer Leute Kinder konnte ich etwas
abgewinnen (was ich mir heute allerdings überhaupt nicht mehr vorstellen kann).
Die Summe dieser „Parallelwelten“ blieb in etwa gleich,
deren Anteile jedoch haben sich regelmäßig verändert – und tun es weiterhin.
Dass Thomas Kröter mich allerdings mit dem bekannten und
renommierten Kolumnisten Harald Martenstein vergleicht, ist eine große Ehre für mich, selbst wenn es
ironisch gemeint sein sollte… Der war früher mal eine ziemlich linke Socke und hat sich
angeblich hin zu einer „neoreaktionären“
Haltung gewandelt. Inwiefern? Beispielsweise hat er sich über den „Genderwahnsinn“
und andere Heiligtümer in fortschrittlichen Tabernakeln lustig gemacht.
Das macht ihn mir sympathisch. Zwar kam ich selbst in der APO-Zeit nicht über linke Standpunkte
der Jusos hinaus, und die Partei meiner
Großväter, die Kurt Schumachers und Willy Brandts wird mir auch eine Andrea
Nahles nicht vermiesen können. In politischen Diskussionszirkeln allerdings
habe ich mich nie herumgetrieben. Aber Sätze wie „das hat man jetzt so“ oder „das
darf man nicht mehr sagen“ reizen mich stets dazu, mal die gegensätzliche
Sichtweise zu testen oder es doch zu sagen – weil da Hüte hochgehen, die mir ziemlich alt erscheinen, und sich meist
die Leute ärgern, denen ich es gönne.
Wenn der Medienjournalist Stefan Niggemeier schreibt, Martenstein
stehe „stellvertretend für
die sich für schweigend haltende Mehrheit weißer, heterosexueller, alter
Männer, die die Welt nicht mehr verstehen“, dann fühle ich mich durchaus
ebenfalls gemeint.
Martenstein sprach kürzlich von der „Erkämpfung des
Rechts auf Zweifel“ und davon, es sei erlaubt, „ein Ketzer zu sein“. Da bin ich voll auf seiner Seite.
Also, so lange Thomas
Kröter mich nicht mit dem Wahrheiten-Dröhner Hans-Ulrich Jörges vom
„Stern" vergleicht, ist alles in Ordnung! Und ein Tangoblog zu betreiben hätte ich Thomas schon vor Jahren geraten, wenn
mich nicht die Furcht, er könnte es eben darum sein lassen, gehindert hätte.
Also,
immer zu, da kann man doch Journalismus
betreiben bis zum Abwinken! Vielleicht darf ich einmal in aller Bescheidenheit
feststellen: Vor acht Jahren dominierte den Tango im deutschsprachigen Raum ein Blog, das
mit ideologischer Militanz für ein Rollback zu Musik und Verhaltensnormen trommelte,
die mindestens siebzig Jahre zurücklagen. Das dortige Wort war vielen Gesetz. Heute ist dieses Forum so gut
wie tot, und an seiner Stelle gibt es etliche Webseiten, die ein sehr buntes
Bild des Tango beschreiben und sich eher in Kritik denn Affirmation des
Mainstream üben. Und trotz einer spürbaren Linie auch mit Humor und Augenzwinkern
nicht geizen.
Immerhin
– und das halte ich für einen riesigen Fortschritt – lehnt man in der
traditionellen Szene nicht mehr alles ab, was später als 1955 an Musik gespielt
und aufgenommen wurde. Zumindest Coverbands
mit durchaus eigener Note erklingen selbst auf Milongas mit dem EdO-Siegel.
Möchte man doch ein wenig vom Image des
Ultra-Langweiligen weg, welches
Leute wie Kröter, Riedl & Co. lange und liebevoll genug beschworen haben?
Wir
Satiriker müssen, wie Werner Schneyder
es einmal gesagt hat, ebenso hartnäckig sein wie die Katholiken in Punkto
Erbsünde. Dass die Schlachten um den Cabeceo
und dergleichen längst geschlagen und verloren sind, ist ein fataler
Irrtum. Ich kenne aus eigener Anschauung keine Milonga, in denen eine direkte
Aufforderung als Fauxpas gesehen wird – jedenfalls nicht von allen, ja oft von
niemand.
Aber
es gibt noch viel vom „Muppet-Balkon“ herunterzuätzen:
Erst neulich verfolgte ich, wie Freund Thomas, eine Debatte auf einem Facebook-DJ-Forum, in der man allen
Ernstes diskutierte, ob statt einer normalen Milonga-Runde auch einmal Foxtrotts von Orchestern wie Enríque Rodriguez gespielt werden
dürften. Dabei fielen unglaubliche
Vokabeln wie „Schwarze Listen“, „derzeitiger Kanon“ und „Es hat Jahre gedauert, die Szenen dazu zu
erziehen, was wirklicher Tango ist“. Solchiges muss man klar als das
benennen, was es ist: Bullshit.
Und
noch eins, lieber Thomas – auf die Gefahr hin, dass du es grade deshalb nicht
machst: Veranstalte eine private Milonga
– zicken-, elite- und GEMA-frei – vielleicht ungefähr so:
Und
erzähl mir nicht, es würde an „Sachzwängen“ scheitern! Ein Mann mit deinen
Verbindungen wird doch im riesengroßen Berlin eine Räumlichkeit für 20 Gäste finden,
die geeignet und bezahlbar ist. Und zur Musikauswahl:
Ich kenne wenige, die davon so viel verstehen wie du! Glaub mir: Es macht nicht
nur einen Riesenspaß, auf seine
Lieblingsaufnahmen zu tanzen, sondern sich dabei gleichzeitig die Gesichter
tangoüblicher Pappnasen vorzustellen – inklusive ihres gnadenlosen Scheiterns, Piazzolla mittels Encuentro-Arschgewackels
zu interpretieren…
Aber
die kommen eh nicht, dafür aber bestimmt eine Handvoll Leute, die genau auf
eine solche Veranstaltung gewartet haben. Und den Namen dafür hast du ja
längst: „mYlonga“.
Daher
heute von einem noch etwas älteren „alten
Milonguero“: Mach et!
Und
übrigens ist „Tangokrise“ eine Tautologie – Tango selber ist bereits Krise genug. Daher habe ich mir erlaubt,
deine Überschrift mit einem Fragezeichen zu ergänzen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen