Warum es so wenig Tanz gibt, wenn Leute Tango tanzen
Die
bekannte Tangobloggerin Veronica
Toumanova hat unter dem Titel „Why there is so
little dance in people dancing tango” schon vor zweieinhalb Jahren einen sehr
interessanten Artikel veröffentlicht. In der Tangowelt blieb er wohl zunächst ziemlich
unbemerkt – und auch ich selber kam erst durch einen Hinweis der
Wiener Tangofreundin Alessandra Seitz auf diesen Text.
Worum
geht es?
Das
Schwierigste für Tangolehrer, so die Autorin (die selber Tango unterrichtet),
sei nicht die Vermittlung der korrekten Bewegungen, sondern die Menschen zum Tanzen zu bringen. Die formale
Beschreibung dieser Betätigung als „rhythmische
Bewegung zur Musik“ sei nicht ausreichend – sie träfe ja auch auf Soldaten
zu, welche zu den Klängen einer Militärkapelle vorwärts schritten.
Tanzen
bestünde jedenfalls nicht aus Technik wie Körperhaltungen, Balance und Dynamik
– eher würde umgekehrt ein Schuh draus: Man müsse erst tanzen, um diese
Fähigkeiten zu entwickeln. An Meistern dieses Fachs bewunderten wir zwar ihre
Technik, aber es sei deren Tanz, der uns emotional
berühre.
Physische
Aktionen gebe es im Sport, dort gehe es um ein Ergebnis – beim Tanzen jedoch um
Ausdruck. Dies erfordere nicht
Anstrengung, sondern Mühelosigkeit,
oder besser einen Aufwand, welcher der Aufgabe angemessen sei.
Obwohl
Tango als der „Tanz der Leidenschaft“
gelte, sei eine sinnliche oder sexuelle Spannung nicht notwendigerweise
präsent, eher werde sie ausgedrückt. Es gehe nicht um den „Flirt“ der
Geschlechter, sondern um weit mehr: eine tiefe
menschliche Beziehung. Sinnlichkeit könne den Tanz bereichern, aber nicht
ersetzen – daher sei Tango auch mit zwei Männern oder Frauen oder in
umgekehrter Führung möglich.
Wie
die Umarmung sei auch die Musik zwar
ein wichtiger Bestandteil, aber die Verbindung mit ihr sei noch nicht Tanz.
Dazu gehöre, mit dem eigenen Körper Gefühle und Ideen auszudrücken, die
zeigten, wie man Musik höre. Wie jeder kreative Akt (z.B. Kochen oder das
Erzählen einer Geschichte) erfordere Tanzen Einfälle, Energie und Ausdrucksmittel: „Therefore dance is not something you DO, it is something you must
BECOME.“
Spezifisch
für den Tango seien zwei Komponenten: die eigene Aktion und ebenso die
Kommunikation mit dem Partner. Durch die enge
Umarmung teile sich schon der kleinste Impuls mit, was – je nachdem – eine
Quelle höchster Freude oder größten Unbehagens sein könne.
Tango
sei eine Konversation, und dazu brauche man Stille, damit eben die kleinste Absicht sich mitteile. Dies mache
Tango so introvertiert und emotional erfüllend. Wir erinnerten uns nicht an die
Schritte, sondern an die Empfindungen.
Die
wahre Meisterschaft sehe man an Paaren, die ruhig, natürlich und fast
bewegungslos im oberen Körperbereich wirkten – und dennoch als Ganzes extreme
Dynamik und Musikinterpretation hinbekämen. Die Tangolehrer hätten die komplexe
Aufgabe, sowohl die energiebetonte
wie auch die stille Komponente
dieses Tanzes aufzuzeigen.
Was
imitiere ein Anfänger? Das, was er
sehen könne: Zeige der Lehrer sehr dynamische Aktionen, ahme der Schüler große
Bewegungen nach. Würden die „kleinen
Dinge“ demonstriert, werde der Bewegungsdrang erstickt, die Verspannungen
nähmen zu. Beginner könnten sich nicht gleichzeitig frei und subtil bewegen –
und dann noch in einem Raum mit ebenso gestressten Paaren navigieren.
„Auf allen
Tanzflächen sieht man Menschen, die ihr natürliches Bewegungsbedürfnis zügeln
und so versuchen, in diesem extrem sensitiven Bereich der gemeinsamen Umarmung
zu bleiben. Ihr Aktionsdrang wird oft auch durch persönliche Schwierigkeiten
blockiert: Schüchternheit, Angst, sich zu zeigen, Furcht vor Fehlern, vor dem
Kontakt, Unfähigkeit, die Musik zu hören und so Ideen und Gefühle zu deren
Ausdruck zu entwickeln. Wir sehen auch das Gegenteil: Leute, welche ihrer
Energie freien Lauf lassen, sich stark innerhalb der Umarmung bewegen, was sicher
eine bestimmte Art zu tanzen kreiert, aber die Kommunikation zwischen den
Partnern steigert sich zu zwei Leuten, die sich anbrüllen, obwohl sie nur eine
Fußlänge voneinander entfernt sind.“
Um Tango zu lernen,
müsse man es erst falsch machen, bevor man es richtig könne. Dies heiße, seiner
Energie erst einmal freien Lauf zu lassen, durchaus auch einmal zu großen
Aktionen. Wenn Kinder oder junge Hunde eine neue Fähigkeit lernten, hätten sie
zunächst ein simples Ziel, welches sie immer wieder ansteuerten – mit zu viel oder zu wenig Bewegung, hinfallend
und wieder aufstehend, es auf jede Weise versuchend, bis sie die richtigen
Reflexe erlernten und alles wegließen, was hinderlich sei. Es sei jedoch für Erwachsene schwierig, sich in ein Kind
oder einen jungen Hund zu verwandeln – zumal, wenn man dabei rundum beobachtet
werde. Kinder störe es nicht, etwas falsch zu machen, Erwachsene aber wollten
es von Anfang an richtig machen. Diejenigen lernten es am schnellsten, die sich
nicht davor fürchteten, sich zu bewegen, sich auf die Musik einzulassen – ohne
Angst, lächerlich zu wirken.
„Außerdem kommen die
meisten von uns zum Tango nach einer weitgehend intellektuellen Ausbildung. Wir
leben in unseren Köpfen, unseren Computern, nicht unseren Körpern. Wir
versuchen, das intellektuell zu verarbeiten, was mit uns geschieht. Wenn man
Bewegungen lernt, ist dies nicht effektiv. Unser Körper funktioniert in einer
Weise, die wir nicht voll ergründen können – schon gar nicht durch totale
geistige Kontrolle. Steuern Sie Ihre Verdauung? Aktivieren Sie Ihren
Herzschlag? Treiben Sie bewusst das Blut durch Ihre Adern? In Ihrem Gehirn sind
mehr Nervenverbindungen als Sterne in unserer Milchstraße – und das ist ein
Fakt und keine Redewendung.
Kontrollieren Sie
diese? Oder werden Sie von ihnen kontrolliert? Die Erstarrung eines Tänzers ist
oft das Ergebnis seines Bewusstseins, mit dem er jede Aktion verstehen und steuern
will, BEVOR sie geschieht, was schlicht unmöglich ist. Nicht ihr Verstand lässt
die Show laufen – er hilft Ihnen nur dabei, die Absicht und die Mechaniken der
Bewegung zu verstehen. Das ist es, wonach Führende die Folgenden anflehen: ‚Bitte
hör auf zu denken!‘“
Abschließend
erfindet Veronica Toumanova den
schönen Ausdruck, man müsse „tanzend
werden“. Die „wahre Glückseligkeit“ im
Tango ergebe sich durch Verzicht auf die bewusste Steuerung, welche durch
Automatisierung das Erreichen des “Flow” ermögliche.
Dieser
Tanzfluss sei ganz natürlich, wenn man nicht versuche, alles zu kontrollieren,
sich anzustrengen – eigentlich ganz simpel. Und deshalb könne man so schon von
seinem ersten Tango an tanzen, und bis zum letzten. Das sei doch eine gute
Nachricht, oder?
(Hier
der Originaltext:
Gerade
dieser Gedanke der Autorin rennt bei mir natürlich offene Türen ein: „Die Birne kann kein Tango“ ist übrigens
nach wie vor einer der meistgelesenen Texte meines Blogs: http://milongafuehrer.blogspot.de/2016/11/die-birne-kann-kein-tango.html
Gerade
in der heutigen Tangopopulation kann das allerdings kaum einer von Anfang an –
noch schlimmer: Die Mehrzahl lernt es
nie – und zwar nicht nur wegen der eigenen Probleme.
Frau
Toumanova ist ja selber Tangolehrerin, und da hätte es mich
schon interessiert, was sie zu dem sagt, was ihre Kollegen landauf, landab so
veranstalten. Wenn es das erklärte Ziel ist, bei den Schülern den Kopf
auszuschalten, ja, sie (welch sympathisches Bild) wie die jungen Welpen übers
Parkett tollen zu lassen: Wie passt dies damit zusammen, dass man heute flächendeckend
zu Kursbeginn die „Códigos de la milonga“ verkündet, über Aufforderungsarten und
die rechte Spurbenützung salbadert? Liebe Tanzpädagogen, falls es für euch neu
sein sollte: Ein Anfänger kann nicht
navigieren – kein bisschen! Und er lernt auch nicht entspannt zu tanzen,
wenn man ihm zuerst mal das Hirn mit Regeln verklebt.
Und
darf der Schüler anschließend zunächst einmal alles falsch machen? Nein – von vornherein wird ihm ja „das Richtige“ vorgezeigt – sprich, die
Art, wie sich sein Tanzlehrer bewegt. Dies hat er dann bis zur
Besinnungslosigkeit zu imitieren…
Wo
wird im heutigen Tanzunterricht das Eingehen auf den Partner, das „Miteinander“ betont? Nein, „der Mann führt“… Flächendeckend sieht
man daher nicht nur verspannte Paare – nein, eher zwei Einzelpersonen, welche
voreinander her irgendwelche Schritte abspulen. Eine „tiefe menschliche Beziehung“? Det wüsst ick aber… „Ein „kreativer Akt mit Einfällen und Energie“
im traditionellen Tango? Ach geh…
„Stille und
Empfindungen“
bei einem pausenlos daherlabernden Tanzlehrer? Wahrlich, Frau Toumanova sollte diesen Text einmal bei
einem Seminar für ihre Kollegen
einsetzen! Vielleicht könnte man ihrem Rat „no fake orgasms“ noch ergänzen: „no fake
speech“!
Insgesamt
finde ich, die Autorin hat mit ihrem Text sowas von Recht – sogar mehr, als sie
meint!
In
einem muss ich ihr freilich widersprechen: Wenn sie alles von der „engen Umarmung“ her ableitet, wird sie
zum Opfer ihrer traditionellen Ideologie: Auch im weiteren Abstand (oder gar
bei Auflösung der Haltung) kann man sehr subtil führen – und hat weit mehr
Bewegungsoptionen, ohne hierbei unbedingt übertreiben zu müssen. Insofern wäre
ihr ein Tango nuevo-Lehrgang
dringend zu empfehlen.
Vor allem dabei kann ich ihr voll zustimmen: Guter Tango ist stets ein „Ritt auf der Rasierklinge“ – heftige
Impulse dürfen nie dazu führen, den Kontakt zu verlieren, die Sanftheit
aufzugeben oder – anderes Extrem – in Langeweile zu versinken. Wenn allein
dieser Gedanke Allgemeingut werden würde, hätte sich der Artikel von Veronica Toumanova gelohnt!
P.S.
Als „klebriges Bonbon“ kann ich mir zum Schluss das Zitat eines
Facebook-Kommentars zu diesem Text nicht verkneifen:
„großartiger Artikel ! Dies sollte allen am Tango-Fielöd
bewußt sein - oder brwußt gemacht werden !!!- .... auch Tango-Leherer/Trainer
sind gefordert - kompölizierte Schritte allein ergeben keine echtes Tango
Argentino Feeling - .... und im provisierte Kommunikation in `Dialogen´ kann
man nicht ´lernen ´ - m,uß man selbst erarbeioten ...!!!“
Ich fand die Auszüge des Textes toll und versuche nun den Rest noch zu lesen, vielen Dank fürs zitieren :)
AntwortenLöschenAlle von dir gestellten Fragen werden zu meinem Glück hier beantwortet :-P
Na, was bin ich froh auf dem Tangoplaneten Wiesbaden zu wohnen!! Hier hat sich scheinbar ein völlig eigenes Ökosystem, abseits der restlichen Tangoplaneten, entwickelt, in welchem die Spezies "Tango Vermittelnder" einen Großteil der oben positiv genannten Aspekte, in verschieden starker Ausprägung, den interessierten Schülern zu vermitteln Suchen, was diese mal mehr, mal weniger erfolgreich umsetzen, mich eingeschlossen. Es hat jeder auch immer sein eigenes Tango "Thema", welcher jeder für sich bearbeiten muss, und hat man eins bewältigt lacht einen auch schon das nächste, hinter der nächsten Ronda, an ;-) Ich habe mir das Privileg heraus genommen und fast alle besucht :)
Ist ja manchmal schrecklich zu lesen auf welchem Planeten du zu leben scheinst, schüttel!
PS: Die Autokorrektur kann aber auch abgeschaltet werden ;)
Da meine Frau in Wiesbaden geboren ist, weiß ich die Qualität dieser Stadt durchaus zu würdigen! Schön, dass da offenbar die Tango-Vielfalt regiert.
LöschenAber es gibt auch in unserer Gegend etliche Möglichkeiten, zu interessanter Musik zu tanzen – an diesem Wochenende zum Beispiel machen wir von Freitag bis Sonntag durch!
Wenn du dir die Mühe des Übersetzens der ganzen Toumanova-Artikels sparen willst: Jochen Lüders das schon längst besorgt:
http://www.jochenlueders.de/?p=10613
P.S. „Autokorrektur“ ist für mich die des Autors selber – nicht alle können sie offenbar einschalten…