Herz-Schmerz-Milonga
„Die
Deutlichkeit ist die Höflichkeit des Kritikers.“
(Marcel Reich-Ranicki)
O
je, welche Tragik: Wenn mir auf einem Tangoabend schon mal ausnahmsweise
Pizzolla angeboten wird (noch dazu live gespielt), habe ich keinen Platz, das
zu tanzen!
Auch
insgesamt bekam ich gestern von den Titelbegriffen dieser Milonga im fernen
Offenbach einiges eingeschenkt.
Bevor
man mir nun wieder einmal E-Mails in verschwörerisch-aufklärendem Unterton
schickt: Ja, ich weiß (und es war auch vor Ort unübersehbar), dass es sich bei
der „Herz-Schmerz-Milonga“ in der „Grande Opera“ um eine
Tangoveranstaltung in einem Fetisch-Club handelt! Uns schreckte dies allerdings
kein bisschen ab, da wir auch auf üblichen Milongas der sexuellen Orientierung
der Gäste (so uns überhaupt bekannt) wenig Beachtung schenken. Und
glücklicherweise hielt sich die Mehrzahl der Besucher an die Erkenntnis Eckhard von Hirschhausens, dass Models
deshalb so gut bezahlt werden, weil 95 Prozent der Menschen bekleidet besser
aussehen als nackt.
Das
Motiv für unsere 330 km-Fahrt in die einstige Lederwarenstadt war der Kontakt mit der
dortigen DJane Annette, die zusammen
mit ihrem Mann Helge für die jeden
Mittwoch stattfindenden Kurse, Practica und Milongas verantwortlich zeichnet.
Einmal jährlich (so wie gestern) gibt es dann eine größere Sause mit
Live-Musik. Ebenso wie ich veröffentlicht die Chefin ihre Playlists im Internet
– und was ich da jeweils an musikalischer Variationsbreite lesen durfte,
erfreute mein traditionsgeplagtes Herz ungemein.
So
war es auch tatsächlich vor Ort: Die beiden begrüßten und betreuten nicht nur
liebevoll alle Gäste, sondern Annette gestaltete den Abend mit einem genialen
Mix verschiedenster Stile und Epochen der Tangomusik mit dem Schwerpunkt auf
zeitgenössischen Tangointerpreten. Dafür höchsten Respekt und Chapeau!
Für
diejenigen, welche den (nicht ganz tangofernen) Insignien wie imposanter Bar,
Plüsch, Rotlicht sowie opulenten, eher textilfreien Wandgemälden etwas
abgewinnen können, ist die Atmosphäre des Clubs samt überdachter Terrasse schon
ein Erlebnis, welches man sich nicht entgehen lassen sollte.
Zudem
gab es noch jede Menge Live-Musik: Das erste Set bestritt die Gruppe „Tango Waggong“ mit der Hausherrin am
Klavier und inklusive der restlichen Besetzung (Bass, Cello, Violine,
Klarinette, Bandoneón und Gesang) immerhin ein Septett! Erst seit einem Jahr
spielen sie in dieser Aufstellung zusammen – da kann man natürlich noch keine
feinen Ausdifferenzierungen erwarten. Liebevoll und sensibel interpretiert
waren die klassischen Titel allemal.
In
den drei (!) Sets des nachfolgenden Ensembles „Papas C.“ war da schon eine beeindruckende Routine zu bemerken. Mit
Bass, Klavier, Akkordeon bzw. Bandoneón, zwei Violinen und Gesang wirkten
teilweise Musiker der vorhergehenden Formation mit. Neben traditionellen
Kompositionen war erfreulicherweise auch Tango nuevo zu hören.
Viel
tänzerische Anregung, die man nur zu gerne auf dem Parkett umgesetzt hätte –
wenn das denn so einfach gewesen wäre! Dafür gab es mehrere Gründe:
Erstens
herrschte der bei „Tango-Sonderveranstaltungen“ übliche starke Zulauf – will sagen:
Der Laden war brechend voll.
Dazu
kommt, dass offenbar der Hesse als solcher, selbst wenn er tanzen kann und keine
Fesseln trägt, sich sehr laaangsam bewegt, und zwar ziemlich unabhängig von der
gebotenen Musik. Und die Navigation auf der Piste litt schon daran, dass
etliche Tangueros ihre Partnerinnen, auch wenn diese keine Augenmaske trugen,
mit dem Hintern voran auf die Tanzfläche zogen.
Man
muss den Gastgebern zu Gute halten, dass sie wirklich eine sehr offene und
ungezwungene Atmosphäre schaffen. Wenn diese allerdings dazu führt, dass Aficionados
wie wir Piazzollas „Adiós Nonino“
lieber auslassen, da die Mehrzahl der Tanzenden dazu einen Stehblues vollführt,
steigt unser Tango-Herzschmerz in ungeahnte Höhen – wohl in einem solchen Club
nicht ganz unpassend. Tango ist halt mehr als Ringelpiez mit Anfassen.
Natürlich ist er ein reiner Improvisationstanz, aber auch das muss man erlernen und
kann sich zu diesem Behufe nicht völlig unbeleckt auf den Tanzboden stellen und
ein wenig herumwackeln – und schon gar nicht zu solch anspruchsvoller und
inspirierender Musik. Immerhin sah man, zumindest im Stillstand, in ziemlich
viele verträumte Augen. Des einen Engel ist halt des anderen Deibel…
Den
Vogel schoss sicher ein Herr ab, der – wie weiland die Schlange Kaa in Disneys
„Dschungelbuch“ – eine junge Dame liebevoll mit einem meterlangen Seil
einwickelte. Seine Erklärung: „Sie hat
zwei falsche Ochos getanzt, daher muss sie nun bestraft werden!“ Draußen
auf der Straße sagte ich zu meiner schwer atmenden Frau: „Wenn das hier der Maßstab ist: Soviel Seil gibt es in ganz Offenbach
nicht.“
Ich
mag – angesichts des etwas heiklen Themas – lieber nicht darüber spekulieren, ob
hier von manchem Besucher das Thema Tango nicht doch als scheinbar verruchtes
Versatzstück für ganz andere Spielfelder eingesetzt wird. Jacun a son gout! Doch
muss man dazu einen Stau auf dem Tanzboden verursachen?
Jedenfalls
wünsche ich den sehr netten und engagierten Gastgebern viel Erfolg mit ihren
Veranstaltungen, die musikalisch sicherlich zur bundesdeutschen Spitze gehören.
Gerne verbinde ich damit die Aufforderungen an die gesammelten guten
Tangotänzer im Rhein-Main-Gebiet: Macht euch mittwochs auf nach Offenbach und verteidigt
das Parkett!
So
könnte sich zu Herz und Schmerz sogar noch tänzerisches Glück gesellen, was
wohl auch in einer solchen Location toleriert würde!
Lieber Gerhard,
AntwortenLöschenda fühlen wir uns doch sehr geschmeichelt, danke für diese sehr deutliche Kritik, die durch das Zitat von Reich-Ranicki an Wert gewinnt! Ja, die Spannweite ist sehr breit, was Geschmack angeht, sowohl in der Musik, als auch im Ambiente, im tänzerischen Können und sonstigen Vorlieben. Letztere sind bei uns zugegebenermaßen manchmal etwas speziell. Einigen war einiges zu viel, anderen zu wenig… Für die Musik haben wir einige Komplimente eingesammelt, freu freu freu…. Und „Veranstaltungen, die musikalisch sicherlich zur bundesdeutschen Spitze gehören“ geht mir natürlich runter wie Butter. Eitelkeit gehört natürlich auch zu meinen Eigenschaften. Ein sonst besonders kritischer Vertreter sprach sogar von einem „Alleinstellungmerkmal“ in Rhein-Main, weil wir so vieler Musiker auf die Bühne gebracht hätten. Das ist es nicht, denn diese Musiker treten auch woanders auf, insbesondere Papas-C hat schon öfter auf Milongas gespielt und unsere beiden frankfurter argentinischen Profis Daniel Adoue und Amadeo Espina sowieso. Trotzdem, wir haben uns sehr gefreut. Unsere Playlist ist jetzt auch online: http://tango-diavolo.de/Playlisten.html#040516. Es war aber auch eine Dame im Publikum, die Piazzolla „atonal“ findet. Mit Musikgeschmack ist es wie mit Essensgeschmack, kaum verhandelbar. Mein Motto ist hier frei nach Heiratsanzeigenjargon: „humorlos zwecklos“.
Helge meint, wir sollten mal ein spezielles Konditionstraining einführen, damit der „Hesse als solcher“ demnächst vielleicht etwas mehr an Fahrt gewinnt. Allerdings war die Bude auch noch nie so voll wie gestern, und wir haben einige Anfänger dabei, das hat wohl auch eine Rolle gespielt. Unser Lehrer hat auch den Kopf geschüttelt und etwas von „Ronda“ gemurmelt. Das ist jetzt sein Job, daran zu arbeiten.
Wir hoffen, dass wir mal Zeit finden, die 330 km in die andere Richtung nach Pörnbach zu fahren und zu einer Wohnzimmermilonga zu kommen.
Liebe Grüße
Annette
Liebe Annette,
Löschenwie schön, dass Du mit Kritik so souverän umgehen kannst – meinen höchsten Respekt! (Und das unterscheidet Dich sehr von der konservativen Tangofraktion, bei der Schaum vor dem Mund zur Grundausstattung gehört: „humorlos zwecklos“…)
Was ich noch vergessen hatte zu schreiben: Natürlich ist mein Bericht eine Momentaufnahme unter sehr speziellen Bedingungen. Und er ist aus der Interessenlage eines Tanz-Aficionados geschrieben. Viele Gäste, denen es eher um das Musikerlebnis und vielleicht ein bisschen Schwofen ging, haben das natürlich ganz anders erlebt.
Mir wurde erst kürzlich von einem Tangolehrer attestiert, diese nicht konforme Musik sei auf Pörnbach beschränkt. Es ermutigt mich riesig, immer mehr Veranstaltungen zu erleben, welche diese Behauptung widerlegen. Und nochmal in vollem Ernst: Deine Playlists (vor allem auch die vom Mittwoch) liegen selbst im Ranking musikalisch gemischter Milongas ganz weit oben!
Herzlichen Dank auch für das Verlinken meines Beitrags zu Eurer Veranstaltung – ich hoffe, auch die anderen Gäste nehmen meine kritischen Anmerkungen depressions- bzw. aggressionsfrei auf. Ich empfand die Atmosphäre bei Euch als sehr offen, freundlich und zugewandt.
Wir würden uns natürlich riesig freuen, wenn Ihr auch einmal die lange Fahrt nach Pörnbach schafft. Und bis dahin macht’s bitte genauso weiter, Euer Weg ist goldrichtig!
Liebe Grüße, auch an Helge
Gerhard
Hallo Gerhard,
AntwortenLöschenhier noch ein paar Rückmeldungen zur Veranstaltung und zu Deiner Kritik:
Auszüge aus Mails:
"Ja, wir können beide keinen Tango, aber wir lieben ihn. Wobei ich gar nicht tanze, aber ...[seine Frau] es liebt, geführt zu werden und sich einmal mit einem netten Herren die Gelegenheit dazu geboten hat. Ganz nebenbei wurden uns dazu auch die Regeln (Blickkontakt / Nicken) wieder einmal etwas näher gebracht ;)
Pause: zwischendrin jetzt den Artikel von G.Riedel gelesen
Toll, alles was wir jetzt schreiben würden, würde wie abgeschrieben klingen ;) daher gehen wir auf das Gastgebergeschick ein.
Es verblüfft uns immer wieder, welch ein Gentleman Helge doch ist und wie gut Annette das Klavier beherrscht und wie ihr insgesamt ein ganz tolles Gastgeber - Paar seid. Wir haben uns - auch wenn ich steif und verklemmt bin (leider Nicht - Tänzer eben) - sehr wohl gefühlt und das interessante Tango - Publikum hat uns sehr gut gefallen. Es waren viele unterschiedliche Facetten, die man beobachten konnte.
Der ältere Herr mit dem Zopf, der den Tango wohl schon länger praktiziert und der Herr mit der grünen Hose bilden wohl so ein wenig das breite Spektrum des Tango?!? wieder, jedenfalls waren beide sehr selbstbewusst.
Wir selbst tendieren zu Milonga. Schneller, leidenschaftlicher, emotionaler...."
"Das ist ja ein toller Artikel, der aber auch sehr dezent einige Bilder des Abends aufgreift..."
"Die Musikauswahl hat uns gut gefallen, wir haben viel getanzt und es gab viel
zu sehen. Die Tanzfläche hatte gut zu tun es wurde rücksichtsvoll miteinander
umgegangen und auch 1 oder 2 Paare, die nicht einen Tangoschritt kannten,
bewegten sich mit Freude zur Musik. Tango ist Gesellschaftstanz. Das Outfit
der Damen hat uns gefallen, es war dezent erotisch ohne voyeuristisch oder gar
ordinär zu sein."
Und einige mündliche Anmerkungen von gestern abend:
- Unsere Fortgeschrittenen wollen nächstes Mal wieder die Anfänger mit dabei haben und mit ihnen tanzen. (Die sind wirklich klasse, kommen öfter mal zum Anfängerkurs, falls jemand zum hospitieren gebraucht wird)
- Es waren zwei Gäste da, die sie sehr rücksichtslos fanden: Auf voller Tanzfläche mit viel Speed in die falsche Richtung...
- Die Stimmung hat allen gut gefallen.
- Eine Dame fand es sehr schön, dass nicht so ein Frauenüberschuss war.
- Eine Einzelmeinung: Einer wäre gerne noch "mehr aus sich herausgegangen", aber er fand, dass zu viele Beobachter da waren.
Das fanden die anderen (gestern abend) nicht.
- Deinen Kommentar fanden die meisten lustig, einer, der nicht tanzt und sich auch nicht so für Tango interessiert, war etwas beleidigt, wegen der Langsamkeit "des Hesses als solcher", andere haben gerade darüber schallend gelacht.
Du bist jetzt jedenfalls in unserer Szene bekannt...
Liebe Grüße
Annette
Liebe Annette,
Löschenes beruhigt mich sehr, dass ich es anscheinend wagen könnte, nochmal nach Offenbach zu fahren…
Nein, im Ernst: Wenn ich es mir herausgenommen hätte, über eine traditionelle Milonga auch ein paar Ironien zu verbreiten, wäre mal wieder ein Aufruhr durchs Netz gegangen. Toleranz (oder gar Humor) ist dort wenig anzutreffen. Umso mehr: Danke für Eure Nachsicht mit mir!
Das Meinungsbild zeigt, wie viele unterschiedliche Motivationen und Blickwinkel es bei Besuchern von Tangoveranstaltungen gibt. Und so soll es doch auch sein!
Dem Lob über die Gastgeber kann ich mich nur anschließen.
Und zum „Hessen als solcher“: Immerhin bin ich mit einer Hessin verheiratet. Karin ist in Wiesbaden geboren, wenngleich sie diesen Ort schon im zarten Alter von neun Monaten verlassen hat.
Herzliche Grüße an Euch beide!
Gerhard