Mí nido gaucho



Und wieder einmal habe ich gerade einen geplanten Milongabesuch gestrichen, als ich den Namen des DJs las: Nein, wenn der nur halb so langweilig auflegt, wie er sich selber auf dem Parkett  bewegt – entsetzlich! Wir werden lieber in unserem Wohnzimmer im kleinen Kreis zu etlichen Titeln tanzen, die Manuela das letzte Mal aus Zeitgründen nicht mehr auflegen konnte: ohne Anfahrt, Parkhaus, Fußweg und dem Posttango-Gefühl, seine Zeit bei dem Tanz verschwendet zu haben, der uns früher regelmäßig dazu motivierte, dreistellige Kilometerzahlen zurückzulegen.

Adiós, Muchachos, compañeros de mi vida…

Aber ist es noch „der Tanz“? In der Summe nicht mehr.

Natürlich gibt es eine Reihe anderer Gründe für diese Empfindung: Man wird älter und damit weniger bereit zu Kraftanstrengungen mit ungewissem Ausgang. Und man hat auf diesem Gebiet schon so viel – auch Fantastisches – erlebt, dass sich die Sehnsucht nach neuen Erfahrungen in Grenzen hält. Das Gefühl „Warum tue ich mir das an?“ stellt sich immer öfter ein, eine bleierne Müdigkeit bereits eine halbe Stunde nach dem Eintreffen auf vielen Milongas. „Muss ich das jetzt wirklich tanzen – und wenn ja, mit wem ganz sicher nicht?“

Es finden sich allerdings immer noch gegenteilige Impressionen, wie neulich bei unserer Wohnzimmer-Milonga, als unsere DJane eine Reihe von Lidia Borda-Titeln spielte. In solchen Situationen werde ich sofort hellwach und muss das tanzen – egal mit wem:



„Nido gaucho“ wurde übrigens 1942 von Carlos Di Sarli komponiert, ist also sowas von EdO… Dennoch: Solch inspirierende Einspielungen wie diese mit dem Orchester El Arranque bietet man auf den üblichen Milongas nicht: Ende, aus, totgeschwiegen… Wahrscheinlich zu dramatisch, zu modern, nicht gleichförmig genug im Tempo, „untanzbar“ – was weiß ich. Auch das Publikum auf dem YouTube-Video bekommt die mitreißende Interpretation ja lediglich als Konzert serviert.

Bestenfalls (wenn überhaupt) darf man den Titel in dieser Ausführung tanzen:



Gewiss nicht schlecht – braver, streng durchgehaltener Viervierteltakt, aber

„Florecerán mis ilusiones
y se unirán los corazones“

doch eher nicht… Man müsste doch hören, dass dieses Arrangement wesentlich gleichförmiger daherkommt! Doch machmal muss ich bei solchen Beispielen an Brechts Galilei" denken, der die Kardinäle aufforderte, einmal durch das Teleskop zu blicken allein sie wollten nicht!

Neulich hatte ich das Vergnügen, auf einer ziemlich traditionellen Milonga die „moderne Alibirunde“ mit der besten Ehefrau von allen zu tanzen – noch dazu auf ziemlich leerem Parkett: Die meisten saßen bei diesen Neotangos lieber.

Auf dem Heimweg, den wir danach unverzüglich antraten (da dieses Erlebnis schwer zu toppen war), wurde mir die Bedeutung der gerade erlebten Situation glasklar:

Moderne, komplexe Arrangements zu vertanzen, überfordert die überwiegende Tangopopulation von heute deutlich. Derzeit marschieren Menschen in Regimentsstärke in Kursen und Milongas ein, die kaum Fertigkeiten in anderen Tänzen (egal ob Ballett oder Gesellschaftstanz) mitbringen. Über diesbezügliche Gründe kann man spekulieren: verkopfte Grundorientierung, wenig Fitness, Körpergefühl und Bewegungstalent, mangelnde Musikalität… Sie waren meist in den letzten Jahrzehnten kaum tänzerisch aktiv oder sind aus irgendwelchen Standard-Ehepaartanzkreisen geflüchtet, weil sie dort nicht weiterkamen.

Warum ist für diesen Typus gerade der Tango so attraktiv? Zum einen natürlich durch die Mär, dieser Tanz wäre einfach zu erlernen – nur Gehen reicht bekanntlich... Andererseits verspricht dieses „Glückspaket“ ihnen all das, was sie nicht haben: Tuchfühlung, Schweben, Emotionalität, Erotik, unverkrampfter Kontakt zum anderen Geschlecht. Dass man mit einem Anstreicherpinsel keine Kalligrafie hinbekommt, wird ausgeblendet.

In fast jeder anderen Branche würden allerdings talentreduzierte (bzw. übungsfaule oder kaum neugierige) Adepten früher oder später mitkriegen, dass es weit höhere Sphären gibt, in welche sie mit dieser Machart niemals vorstoßen – und viele von ihnen würden das zu anspruchsvolle Feld wieder räumen.

Beim Tango jedoch setzte eine Marketingstrategie ein, die ich nur als genial bezeichnen kann: Die Mängel wurden zum erstrebenswerten Ziel umfunktioniert! Wer nicht mehr kann als zu einfachster Beschallung auf einer Spur im Kreis zu laufen, darf für sich die höheren Weihen des „traditionellen Tango“ reklamieren! Schwierigere Musik ist nicht etwa ein Überforderungssignal für alle, die es halt noch nicht besser können – nein, sie ist „untanzbar“… und eigentlich überhaupt kein Tango!

Natürlich wäre es dann blöd, nebenan Paare zu erleben, welche sich sogar zu Piazzolla-Stücken stimmig und attraktiv bewegen und so die Mär von der „Untanzbarkeit“ widerlegen. Die einfache Lösung: Man spielt solche Musik gar nicht mehr und erfindet hierfür die Legende von der unvergleichlichen Qualität der Tangoaufnahmen der „Goldenen Epoche“. Was danach kam, ist halt minderwertig bzw. keine Tanzmusik und daher nicht wert, aufgelegt zu werden.

Es bleibt allerdings das Problem, dass begabte Tänzer/innen selbst zu Museumsklängen noch ihre höheren Fertigkeiten unter Beweis stellen könnten. Also konstruiert man die „Tradition der Códigos“, welche ja – je nachdem, welchen Quellen man glauben möchte – seit zirka 10 bis 100 Jahren existieren und direkt aus der Kaaba der Pilgermetropole des Tango stammen. Schauerliche Geschichten über schwerste physische und psychische Verletzungsgefahren für brave Ringelreihen-Tänzer lassen den Eindruck entstehen, als ob Rettungssanitäter und psychiatrische Notdienste Dauergast auf Milongas wären, die gelegentlich Musik aus den Jahren nach 1960 darbieten… Folglich braucht es zur Verhinderung kreativeren Tuns Tanzflächen-Benutzungsordnungen". Hamdulillah!

Apropos: Zu dieser wirklich bewundernswerten Verkaufstechnik gehört natürlich ganz zentral die „Pseudo-Authentizität“. Die ganze Chose nennt sich ja „Tango argentino“, und daher benötigt man jede Menge Kronzeugen aus dem „Mutterland des Tango“ (sehe ich eher stiefmütterlich – bekanntlich wäre der Tango längst tot, wenn er sich nicht mehrfach per Flucht nach Europa und Nordamerika vor den Argentiniern gerettet hätte). Die einschlägigen Sprechpuppen requirierte man aus zwei Personenkreisen: Erstens bejahrte Milongueros, die – altersbedingt nicht ganz unvorhersehbar – über das ganze moderne Zeugs im Tango herziehen und daher als Zitatgeber unverzichtbar sind. Die weit wichtigere Gruppe besteht aus südamerikanischen Tanzpaaren, die sehr schnell merkten, dass sie besser den ganzen Neo-Kram aus den 90-er Jahren auf den Müll werfen und sich zwecks Rollen des Rubels lieber als super-traditionelles Lehrerpaar darstellen sollten. (Dass in beiden Fraktionen durchaus auch andere Sichtweisen vorkommen, wird tunlichst verschwiegen…)

Als Gipfelpunkt der Unverfrorenheit behauptet man dann noch, die Anhänger vielfältiger Tangomusik würden sich einer Weiterentwicklung" verweigern. Das erinnert mich an gewisse esoterische Naturheilkundler, welche die Rückkehr zu Schröpfköpfen und Aderlass ausgerechnet als neuen Trend" verkaufen und das Argument über die böse Pharmaindustrie" wirklich für jeden Quatsch einsetzen. 

Dieses gesamte Marketing-Konzept ist – im wahrsten Sinne des Wortes – Gold wert: Das Umdichten des Mangels zum strahlenden Ziel bringt Tangoreise-, Unterrichts-, Mode- und Milongaanbietern ein Zehnfaches an Kundschaft. Nur so ist beispielsweise die Aggressivität der Reaktionen aus diesem Personenkreis gegenüber denen erklärbar, welche die Fadenscheinigkeit von „des Kaisers neuen Kleidern“ offenlegen: „Traditioneller Seiltanz“ auf Manegenhöhe…

„Verschwörungstheorien“ liegen mir allerdings fern – da man in der Szene eh alles abkupfert, was Kohle bringt, reicht es ja, wenn einer mal auf solche Einfälle kommt…

Was könnte man, ohne ideologische Scheuklappen, im Tango hinbekommen, dann aber wohl verbunden mit einer (Gesund-)Schrumpfung der Szene und des ökonomischen Erfolgs? Meine Lust, mich am heute angesagten Sums zu beteiligen, sinkt immer mehr.

Wo bleibt in Zukunft mein „Gaucho-Nest“? Nur noch im eigenen Wohnzimmer oder auf den relativ wenigen anderen Milongas, welche die Qualität vor den Kommerz stellen? Eine Bekannte sagte mir neulich: „Wenn man einen solchen Abend erlebt, hat man anschließend kaum noch Lust, auf die üblichen Tangoveranstaltungen zu gehen.“

Die Hoffnung stirbt also zuletzt:

„Porque un día será ese nido gaucho de los dos…“

P.S. Eine englische Übersetzung von “Nido gaucho“ findet man hier:
http://www.planet-tango.com/lyrics/nidogauc.htm

Kommentare

  1. Lieber Gerhard,

    was Du hier beschreibst, findet sich nicht nur im Tango, sondern in vielen Bereichen. Ist etwas in Mode, kommen die Geschäftemacher, oder Verführer, oder Sektierer, oder auch Mischungen von allem, und bieten den Leuten ein geschlossenes Weltbild, das sich vor allem aus Abgrenzung definiert. Erlebt habe ich das z.B. früher auch mal im Aikido (zu Kampfkünsten gab es hier ja mal einen Beitrag), wo es auch verschiedene Schulen gibt, und jede behauptet, die wahre Lehre zu verbreiten. Und vor allem, dass die anderen die falsche Lehre verbreiten. Die Parallelen zwischen den verschiedenen Betrachtungsweisen im Tango verblüffen mich immer wieder.

    Ich bin ja keine Sozialpsychologin, aber es scheint mir, dass viele Leute eine Art Sicherheit brauchen, ein Regelwerk, das ihnen sagt, wo es lang geht, damit sie sich nicht selbst entscheiden müssen. Das bedienen manche Unternehmer nur zu gern und finden ihre Gefolgsleute.

    Was Musik angeht, ist es aber komplizierter. Das merke ich immer wieder, wenn ich die Leute zu ihrer Meinung zu meiner Musik ausfrage. Je nachdem, wieviel Musikerfahrung sie mitbringen, reagieren sie sehr unterschiedlich. Als ich mal eine Neuanschaffung auflegen wollte, "Mordiendo el suelo" vom Sexteto Visceral, was ich genial finde, merkte ich, dass es einfach nicht ankam. Es kam die Rückmeldung "kannst Du nicht mal was Schönes auflegen". Damit war keinesfalls Traditionstango gemeint, aber eher Eingängiges, also simplere Harmonien, einfacherer Rhythmen, schlichtere Melodien usw. Das liegt einfach an der musikalischen Sozialisation, und das nehme ich auch niemandem übel. Du hast ja selbst mal auf den Aufsatz von Volker Marschhausen (Tangodanza 1/2015) hingewiesen, den ich daraufhin noch mal gelesen habe. Ich finde, der hat sehr recht, es hat mir wirklich Augen geöffnet. Er beschreibt die "Seelenverwandtschaft von klassischen Milongas und Fusions-Events", warum die "deutlich sperrigeren Tango Nuevos und Neotangos" eher abgelehnt und die "weichgespülte Alchemie aus Groove und Melodieführung" bevorzugt wird. Das ist wirklich so. Das liegt am Geschmack der Leute. Schauen wir uns Leute an, die mit Tango gar nichts am Hut haben. Ich nehme mal nur als Zufallsauswahl meine Nachbarn, die eine liebt Helene Fischer, der andere Hard Rock und zwar von Vinyl, der nächste Filmmusik (Fluch der Karibik), ein anderer Händel-Opern. Ist so.

    Ich versuche bei unseren Milongas trotzdem einen Kompromiss zwischen meinem eigenen Geschmack und dem meines lieben Publikums zu finden. Das führt dazu, dass ich seltener meine Lieblinge auflege, als ich eigentlich möchte. Aber gerade die Rubatos, rauhere Harmonien und kompliziertere Rhythmen bedürfen der Gewöhnung. Aber ich bleibe dran.

    Liebe Grüße

    Annette

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    1. Liebe Annette,

      ja, ich fürchte, diese Mechanismen gibt es in vielen Bereichen.
      Apropos: Möchtest du nicht mal über diese Parallelen beim Aikido schreiben? Würde ich sehr gerne als Gastbeitrag veröffentlichen!

      Als DJ muss man stets den Spagat hinbringen, einerseits nicht auf die eigenen „Lieblinge“ zu verzichten und trotzdem (?) die Menschen auf der Tanzfläche zu halten. Letzterem dienen natürlich „Schnulzen“ im weitesten Sinne.

      Ich habe früher stets fifty-fifty alte und moderne Einspielungen aufgelegt. Aber nachdem man inzwischen mit der „Museumsmusik“ flächendeckend beschallt wird, leiste ich es mir in unserem privaten Rahmen, auf diese fast völlig zu verzichten.

      Sicherlich nimmt man beim Auflegen Rücksicht auf den musikalischen Erfahrungshintergrund der Gäste. Nur hat sich der meinem Eindruck nach gewandelt. Vor zehn und mehr Jahren hatte ich die wenigsten im Verdacht, privat eher Helene Fischer oder Florian Silbereisen zu bevorzugen. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher…

      Keiner hat was dagegen, wenn beim Tango Menschen mit schlichter musikalischer Grundausstattung und/oder bescheidenem Bewegungstalent auftauchen. Sollen sie - und manche schaffen ja auch erstaunliche Fortschritte. Schlimm wird es nur, wenn dieser Persönlichkeitstyp im Tango stilbildend wird – als Veranstalter, DJ oder gar Tangolehrer. Kenne ich für alles Beispiele…

      Liebe Grüße
      Gerhard

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  2. Lieber Gerhard,

    ja, das mit dem Gastartikel mache ich mal, muss nur die Zeit finden.

    LG Annette

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