Die Facebook-Experten
Seit Jahren beobachte ich eine Spezies, welche sich in den sozialen Medien immer mehr ausbreitet: der „Facebook-Experte“.
Erstmals fiel mir das Phänomen in der Corona-Krise auf, wo eine bemerkenswerte Zahl von Tangoaktiven sich plötzlich in Fachbereichen wie Virologie oder Epidemiologie auskannte. Wahlweise wurde der sofortige Lockdown aller Milongas gefordert oder genau das als völlig übersteigert gebrandmarkt. Als man dann Tests und Impfstoffe hatte, wurde auch dazu das Für und Wider in grellen Farben ausgemalt – bis hin zu veritablen Verschwörungshypothesen.
Ich habe vom damaligen Gezeter in 138 Artikeln berichtet:
https://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Corona
Glücklicherweise konnte man nach dem Abklingen der Pandemie zum Osteuropa-Fachmann umschulen und seine Expertisen zum Ukraine-Krieg veröffentlichen, wenig später auch zum Sachkundigen in Energiefragen sowie Klima oder im landwirtschaftlichen Bereich aufsteigen. Derzeit beliebt ist die Abgabe fachlicher Statements zum Rechtsextremismus inklusive sich aufdrängender Rechtsfragen.
So schrieb neulich ein ehemaliger Tangoblogger:
„Ich denke, dass jedem, der sich länger als 10 Minuten mit dem gescheiterten Verbotsantrag gegen die NPD beschäftigt, absolut klar ist, dass ein Verbotsantrag gegen die AfD keine Chancen hat.“
Ja, so einfach kann Jura sein – ganz ohne Studium und zwei Staatsexamina…
Das Strickmuster solcher Posts ist stets ähnlich: Die großen Probleme sind ganz simpel zu lösen, wenn man nur auf den richtigen Gedanken kommt. Und den kann man in wenigen Zeilen formulieren – kurz und knackig. Dazu sucht man sich eine Quelle, welche die eigene Meinung wiedergibt. So einfach ist die Welt!
Warum sich mit einem Thema umfassend auseinandersetzen, genau recherchieren, unterschiedliche Perspektiven beleuchten, die Grautöne herausarbeiten und nicht den Schwarz-Weiß-Kontrast? Und dann eine längere Betrachtung veröffentlichen? Vielleicht sogar betonen, dass man lediglich seine persönliche Ansicht beschreibt? So mit Konjunktiv?
Nein, da orientiert man sich an einem der schrecklichsten Adjektive neuerer Zeitrechnung, das ich kenne: „meinungsstark“. Knallharter Indikativ, knackige Sprüche! Alles andere wäre unmännlich.
Einen besonders krassen Fall möchte ich einmal durchbuchstabieren: Vor einigen Tagen veröffentlichte ein Blogger zwei nebeneinanderstehende Bilder mit folgendem Kommentar:
„Damals und heute.
Wer genau verachtet die Demokratie und versucht das Parlament lächerlich zu machen?“
Die eine Szene zeigt den Auszug der NSDAP-Fraktion aus dem Reichstag im Jahr 1931. Die andere das beinahe leere Berliner Abgeordnetenhaus: Alle Fraktionen außer der AfD haben während der Rede einer AfD-Abgeordneten das Parlament verlassen.
Für den flüchtigen Betrachter lautet die Botschaft also: So wie einst die Nazis nun CDU, SPD, Grüne und Linke. Als einzige unverdächtig scheint also die „Alternative für Deutschland“.
Nun wäre schon einmal zu fragen, ob es stets ein Zeichen der Demokratie-Verachtung ist, wenn Fraktionen aus dem Plenum marschieren. Im Einzelfall könnte es dafür doch nachvollziehbare Gründe geben – so am 13.3.1975, als die Unions-Abgeordneten den Bundestag während einer Rede von Herbert Wehner verließen, da der mit Blick auf die Konservativen mit einem Nazi-Vergleich aufwartete.
Und stets gilt natürlich der legendäre Satz des SPD-Urgesteins: „Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen!“
https://www.youtube.com/watch?v=sLFMvdgKgCk
Was war der aktuelle Grund für den Auszug der Berliner Abgeordneten? Man hätte es recherchieren können: Die AfD-Fraktionsvorsitzende Dr. Kristin Brinker hielt eine Rede. Sie hatte im letzten Sommer an einem Treffen eher radikaler Rechter teilgenommen, bei dem auch der berüchtigte Martin Sellner von der „Identitären Bewegung“ anwesend war.
„Ich höre keiner Rechtsradikalen zu, wie sie nach den aktuellen Enthüllungen über rechtsextreme Netzwerke relativiert und lügt. Deswegen haben wir spontan das Plenum nach den ersten Sätzen verlassen“, so der CDU-Fraktionschef Dirk Stettner.
Brinker gab an, vorher von der Anwesenheit Sellners nichts gewusst zu haben und seine Thesen nicht zu teilen. Teilnehmer berichteten jedoch, dass sie den Abend „sehr genossen“ habe und bis in die späte Nacht dabei gewesen sei.
https://www.zeit.de/news/2024-01/18/abgeordnete-verlassen-plenarsaal-bei-rede-von-brinker
https://www.youtube.com/watch?v=x9Vn9aK-d1U
Man kann gerne darüber streiten, ob dieser Auszug sinnvoll war. Die Hintergründe aber sollte man kennen.
Und worum ging es 1931 im Reichstag? Auch das könnte man nachlesen:
Was die Nazis damals aufregte, war eine Rede des Zentrums-Abgeordneten und ehemaligen Ministers Johannes Bell. Der hatte nämlich 12 Jahre vorher den Versailler Kapitulationsvertrag mitunterschrieben. „Novemberverbrecher“ war hierfür das Schimpfwort, welches die extreme Rechte prägte.
Ihm antwortete der Nationalsozialist Franz Stöhr:
„Es kommt der Tag, und er kommt sehr bald, an dem Ihnen für Ihr schamloses Verhalten die Quittung ausgestellt werden wird, die Sie verdienen! Wir verlassen zum Protest gegen Ihre Handlungsweise den Saal."
Die NSDAP-Fraktion verließ das Plenum mit „Heil“-Rufen und unter Absingen des Horst Wessel-Lieds.
Die Nazis haben es also einem konservativen Politiker übelgenommen, dass er einen Friedensvertrag unterzeichnete!
Nun habe ich mehrere Stunden an dem Thema gearbeitet, 777 Wörter verwendet und acht Quellen zitiert. Man kann es natürlich auch mit einem mumpfigen Stammtischspruch abtun.
Was bleibt von einer solchen schrecklichen Vereinfachung? „Ja, die Altparteien sind auch nicht besser als die Nazis…“ Herzlich willkommen in der AfD-Argumentationswelt!
Ich finde, der Kollege sollte lieber wieder Artikel über den Tango schreiben. Er würde so weniger Schaden anrichten!
Quelle: https://www.facebook.com/helge.schutt.7/posts/pfbid0139gyr1bydwGEHm2iW2KLpK2TQ5iywuxxDVGsPqtCAhVzi1dHhjJEP1pU5mzBU9yl
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