Tango-Trödelladen

 

Durch Zufall stieß ich neulich auf ein Video mit dem Titel: „3 Argentine Tango steps you must know“. Schon der versprach satirisches Potenzial: Aha, drei Schritte, die man kennen muss – oder gar können? Wirklich?

In 13 Minuten beigebogen kriegen wir die von dem aus Argentinien stammenden Tanzpaar Miriam Larici & Leonardo Barrionuevo.

Sie belehren uns gleich zu Beginn: Wenn man mit dem Tango anzufangen gedenke, seien die drei Dinger unbedingt zu lernen, denn auf den Milongas würden die allgemein verwendet. Zunächst einmal die gute, alte Basse, welche die Basis für alle weiteren Schritte in unserem Tanz darstelle. Weiterhin der Ocho cortado sowie eine Drehung (Giro). Vorsichtshalber wird daran erinnert, dem Video schon mal ein Like zu hinterlassen. Seit dem 22.1.22 haben schon über 12000 Betrachter reingeschaut.

Vor einem netzhautbetäubenden Hintergrund tun die beiden Lehrkräfte nun knapp 12 Minuten das, was sie am besten können: Tanzen und Reden – vor allem Reden während des Tanzens. Motto: Schaut her, wir können’s und zeigen euch, wie es geht!

Man muss es sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Da wird in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts immer noch fröhlich der angebliche „Grundschritt“ des Tango zelebriert – schlimmer noch: Die Idee, Tango bestehe aus Schritten, die man unbedingt beherrschen müsse. Natürlich gänzlich ohne Musik – die ist weder zu hören noch ist von ihr die Rede. Es reicht, bis acht zu zählen…

Hier das Video:

https://www.youtube.com/watch?v=yepuyZCijKY

Als Biologe fallen mir in dem Zusammenhang die lebenden Fossilien ein, die sich ebenfalls über lange Zeiträume fast unverändert erhalten haben und meist eng umgrenzte Lebensräume besiedeln, in denen sich die Umweltbedingungen kaum wandelten. Wie halt im Tango, wo die Anfänger bis heute ihre Quastenflossen im Achterschritt bewegen sollen. Eine Abfolge, welche argentinische Tangolehrer vor knapp 50 Jahren erfunden haben, weil die „Gringos“ sie immer wieder nach einem „Grundschritt“ fragten.

Warum ich die Basse gerade bei Neulingen für völlig ungeeignet halte, habe ich mehrfach dargetan:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2015/04/das-kreuz-mit-der-basse.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/05/von-der-basse-zu-den-basics_84.html

Auf dem YouTube-Kanal des Paares (über 10000 Abonnenten) findet man haufenweise solche Lehrvideos – Musik ist meist keine dabei. In Ausnahmefällen stellt Leonardo mal ein altes Orchester vor – dabei sitzend und redend.

https://www.youtube.com/c/MIRIAMLEONARDOTango/videos

Aufnahmen, bei denen man die beiden Lehrkräfte mal bei der Arbeit mit Schülern beobachten kann, habe ich keine gefunden – ein Ergebnis, das mich nicht überrascht.

Auf ihrer Website erfahren wir: Die beiden haben sich große Meriten als Showtänzer und Choreografen erworben. Momentan, so die nicht ganz bescheidene Selbstbeschreibung, zählten sie zu den Spitzenpaaren des argentinischen Tango – muss ja mal gesagt werden!

https://www.miriamleonardotango.com/about-us

Ansonsten wird der ganze Tango-Gemischtwarenladen beworben: Online-Unterricht, Tangohosen, Motiv-Drucke, T-Shirts, Schuhbeutel und Smartphone-Hüllen – gerne auch mit dem Bildnis der beiden Lehrer. Und wer nicht schon alle im Schrank hat, kann sich auch noch eine Tango-Tasse bestellen.

https://www.miriamleonardotango.com/store

Eine Foto- und Videogalerie gibt es ebenso. Vor dem Betrachten bitte ich zu bedenken: Selber bin ich durch viele solche Recherchen abgehärtet. Empfindsame Zuseher könnten jedoch Schaden nehmen – insbesondere an dem stets ähnlichen Gesichtsausdruck Leonardos, welcher in etwa ausdrückt: „Gleich vernasch ich dich, du Schlampe!“ Und Miriam scheint zu denken… nein lassen wir das! Meine Texte müssen jugendfrei bleiben.

https://www.miriamleonardotango.com/photo-gallery

Die Videos zeigen: Die beiden verkaufen halt das, wonach gerade Bedarf besteht. 2009 war es noch „Libertango“:

https://www.youtube.com/watch?v=CgTISCT_Wkk

Kein Zweifel: Die beiden sind exzellente Showtänzer – technisch gesehen. Er kämpft sich von Pose zu Pose, während seine Partnerin die branchenübliche Beckenboden-Gymnastik nebst Fußgezwirbel aufführt. Acht Jahre später ist es dann ein traditioneller Vals:

https://www.youtube.com/watch?v=lYIexpGVWOA&t=4s

Sicherlich dürfte das Abspulen schwieriger Schritte das Publikum begeistern – persönlich fehlt mir dieses schwer zu beschreibende Miteinander, die Einfühlung in den Partner und die Musik, die Tangostimmung.

Unser Tanz wird halt als käufliche Ware dargestellt: Mit den richtigen Schritten, der passenden Hose und Tasse gehört man dazu. Um die Musik muss man sich nicht kümmern – eigentlich stört sie nur. Ehrlich gesagt: In den Verein möchte ich lieber nicht eintreten…

Ob die beiden den Tango „Cambalace“ („Trödelladen“) von Enrique Santos Discépolo kennen?

„Igual que en la vidriera irrespetuosa de los cambalaches se ha mezclao la vida y herida por un sable sin remache ves llorar la Biblia contra un calefón...“

„Genauso wie in dem respektlosen Glasfenster der Trödelläden hat sich das Leben vermischt. Und verletzt mit einem Säbel ohne Niete, siehst du die Bibel weinen neben einem Wassererhitzer.“   

http://www.tango-rosetta.com/canciones/cambalache_fs.htm

Ich muss die Tangozubehör-Industrie leider enttäuschen: Die Seele dieses Tanzes kann man nicht kaufen. Die kriegt man geschenkt. Vielleicht…

Kommentare

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