Hurrah! Sandal!

 

Die einzige Kirche, der ich angehören möchte, ist die, die man im Dorf lässt.“ (Harald Martenstein)

Man muss es dem ehemaligen Journalisten und Tangoblogger Thomas Kröter schon lassen: Wer seine Facebook-Seite verfolgt, dem entgeht wenig Neues – von (Tango)musik über sonstige Kultur bis zur Politik. Ich habe viel davon profitiert – dafür an dieser Stelle einmal herzlichen Dank!

Ein aktueller Fall scheint Kröter besonders umzutreiben, da er ihm gleich ein halbes Dutzend Posts gewidmet hat: Der Berliner „Tagesspiegel“ hat eine umstrittene Online-Kolumne des Schriftstellers und Journalisten Harald Martenstein gelöscht, worauf der Kolumnist die langjährige Zusammenarbeit mit der Zeitung beendet hat.

Auch auf Martenstein bin ich durch Thomas Kröter vor Jahren aufmerksam geworden: Er arbeitet für namhafte Blätter wie die „Zeit“ und wurde vielfach ausgezeichnet. So erhielt er 2004 den Egon-Erwin-Kisch-Preis für einen Text über Erb- und Führungsstreitigkeiten im Frankfurter Suhrkamp-Verlag. Nachdem er in der 1970-er Jahren eine Zeitlang Mitglied der DKP war, entwickelte er sich später zunehmend zu einem Kritiker linker Ideologien und Denkverbote sowie der Cancel Culture.

Sein Antipode Stefan Niggemeier meinte, Martenstein stehe „stellvertretend für die sich für schweigend haltende Mehrheit weißer, heterosexueller, alter Männer, die die Welt nicht mehr verstehen“; er schreibe ignorant gegen den Machtverlust an.

Für mich ein abgrundtief dämlicher und diskriminierender Satz.

https://de.wikipedia.org/wiki/Harald_Martenstein

Womit hat Martenstein im aktuellen Fall die Bewahrer der Political Correctness gereizt? In seiner neuesten Kolumne meint er, die Verwendung des Judensterns durch Corona-Maßnahmen-Kritiker („ungeimpft“) sei nicht antisemitisch. Man sollte das jedoch im Zusammenhang lesen:

„Laut Godwins Gesetz, benannt nach einem US-Autor, taucht in jeder öffentlichen Diskussion von emotionaler Bedeutung irgendwann ein Nazi-Vergleich auf. Godwins Gesetz kommt der Wahrheit ziemlich nah. Dass Donald Trump, Wladimir Putin, Sebastian Kurz oder die AfD heute mit Hitler oder der NSDAP verglichen oder gar gleichgesetzt werden, versteht sich von selbst, obwohl sich dabei Historikern die Fußnägel hochrollen und man so etwas durchaus ‚Verharmlosung des Holocaust‘ nennen könnte. (…)

Wer den Hitlervergleich bemüht, der natürlich nie stimmt, möchte sein Gegenüber als das absolut Böse darstellen, als Nichtmenschen. Der Vergleich will Hitler gerade nicht verharmlosen, er macht ihn zu einer Art Atombombe, die einen politischen Gegner moralisch vernichten soll. Der Judenstern dagegen soll seine modernen Träger zum absolut Guten machen, zum totalen Opfer. Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch.“  

In einer „Verteidigungsrede“ fügt er später hinzu: „Leute, die Judensterne benutzen, um sich zu Opfern zu stilisieren, sind dumm und geschichtsvergessen. (…) Ich habe meine Meinung nicht geändert. Vielleicht irre ich. Wo man glaubt, nur man selbst sei im Besitz der Wahrheit, bin ich fehl am Platz.“

https://harald-martenstein.de/

Die Chefredaktion des „Tagesspiegels“ schreibt dazu unter anderem:

„Scharf dürfen Glossen, Kolumnen und Kommentare sein; persönlich verletzen sollten sie nicht. Wir nutzen Ironie, aber wir vermeiden Zynismus. Wir verzichten auf Provokationen um der Provokation Willen und vermeiden Graubereiche, die zu Missverständnissen einladen oder verleiten.“

Ich weiß jetzt nicht, wen Martenstein mit seiner Kolumne persönlich verletzt hat – jedenfalls würde ein solch pflaumenweiches Statement mich nicht motivieren, mich bei dem Blatt als Kolumnist zu bewerben.

https://plus.tagesspiegel.de/meinung/stellungnahme-der-chefredaktion-zur-kolumne-uber-das-tragen-von-judensternen-auf-corona-demos-384475.html

Auch nach mehrfachem Lesen von Martensteins Kolumne ist mir nicht klar, wieso sie einen derartigen Anstoß erregte, dass sie gelöscht werden musste. Hauptthema waren übrigens nicht die Judensterne, sondern der Schwachsinn mit den andauernden Hitler- und Nazivergleichen. Jeder Depp, der seinem Gegner ordentlich einen mitgeben will, ist schnell mit Vokabeln wie „Nazi“ oder „Faschist“ zur Hand. Wie der Autor halte ich das für eine Verharmlosung der NSDAP-Verbrechen, die historisch wirklich jeden Vergleich sprengen.

Ob die Verwendung von Judensternen mit der Aufschrift „ungeimpft“ nun antisemitisch ist oder nicht, kann man lang und breit diskutieren. Auf jeden Fall ist sie – und das hat Martenstein betont – dumm, geschichtsvergessen und für die Überlebenden des Holocaust und ihr Umfeld schwer auszuhalten. Allerdings finde ich es auch kaum erträglich, bei einem Autor den Stecker zu ziehen, der sich in seinem ganzen Berufsleben geweigert hat, brav den Mainstream nachzuplappern. Das nicht mehr zu ertragen leistet denjenigen Vorschub, die mal wieder behaupten werden, man könne dies oder jenes „nicht mehr sagen“.

Und klar, Martenstein ist ein Provokateur. In einem Gespräch mit seinem Kontrahenten Niggemeier wird er darauf angesprochen, dass er so oft übers Gendern schreibe. Seine Antwort: „Wenn sich keiner mehr darüber aufregt, höre ich sofort auf damit. Ein Mann nach meinem Herzen…

https://uebermedien.de/29452/man-sollte-mit-der-verteidigung-der-freiheit-nicht-warten-bis-es-keine-mehr-gibt/

Satirewürdig finde ich das, was Thomas Kröter zu der ganzen Chose einfällt: Er widerspricht der „taz“, welche die Löschung „feige“ findet. Stattdessen nennt er sie „doof“ und schreibt in einem beklagenswürdigen Deutsch weiter:

HM (Harald Martenstein) hat seit geraumer zeit den mainstream seiner redaktion & ihrer lesers haft systematisch gereizt. mich auch. ich ich hab meist nur noch die titel seiner texte gelesen. dann wusst ich: nicht schon wieder... nun hat die spitze seines (ex)blattes ihm den gefallen getan, sich als helden der meinungsfreiheit aufzuspielen. mich hat HM immer mehr an meine schülerzeitungszeit erinnert. da ham wir postpubertät überlegt, wie wir die lehrerschaft am besten reizen könnten. das titelbild mit meinem nackten hintern war dann der volltreffer. unser vertrieb auf dem schulgelände wurde verboten. hurrah! sandal! n meiner interpretation hat der langjährige TSP (Tagesspiegel) starschreiber der blattspitze ebenfalls seine entblößte kehrseite gezeigt. ich weiß nicht, wieviele abos der autor sein blatt gekostet hat.“

Was wir ebenfalls nicht wissen: Wie viele Abos Martenstein dem Tagesspiegel" seit 1988 gebracht hat.

Um das Grauen voll zu machen postet Kröter dann noch das Corpus Delicti: Seinen siebzehnjährigen entblößten Hintern mit einem Kastanienzweig in der Poritze. Dazu Erläuterungen, was der Pflanzenstiel unten verdeckt. Übrigens nicht zum ersten Mal – ich kenne das Bild schon von einem früheren Post. Einmal war es auch ein Gorilla-Hintern.

Nein, lieber Thomas, die Verirrungen deiner Pubertät mit einer durchaus gelungenen und nachdenkenswerten Kolumne zu vergleichen, ist nicht nur mutig, sondern tollkühn! Wie wäre es denn mal mit einem inhaltlichen Eingehen auf den Text Martensteins? Aber so? Der nackte Hintern auf Facebook ist auch nicht besser als der blanke Busen auf Seite drei – Bildzeitungs-Niveau halt.

Was ist aus dem Autor wunderbarer Tango-Glossen geworden, die ich dereinst so schätzte? Man könnte weinen, wenn’s nicht auch komisch wäre…

Übrigens habe ich mit Siebzehn ebenfalls an einer Schülerzeitung mitgewirkt. Meine pubertäre Idee entsprang dem Farbbild eines Gorillas, das ich in einem alten Zoologie-Lehrbuch fand. Dazu das Brustbild unseres damaligen Direktors, den man getrost als reaktionär bezeichnen kann. Meine Idee: Als Titelbild den Kopf vom Chef auf den Affenkörper montieren! Unser Betreuungslehrer, der einzig Liberale im Kollegium unseres Gymnasiums, weigerte sich, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Meine rettende Idee: Wie wäre es dann mit dem Gorilla-Kopf auf dem Hals des Chef-Fotos? Unser Lehrer meinte, das ginge notfalls!

Haben wir dann so veröffentlicht. Man sieht also: Selbst in meiner ärgsten Adoleszenz interessierte ich mich mehr für Köpfe denn für Hintern.

Um aber seriös zu enden: Gerade in einer Zeit, in der weltweit Autokraten kritische Medien an die Leine legen, werde ich bis zum letzten Atemzug für die Freiheit des Wortes kämpfen. Vor vielen Jahren habe ich dazu einmal geschrieben:

Im Anfang war das Wort – und wo es am Ende fehlte, sieht es danach aus.

Illustration: www.tangofish.de
 

Quelle: https://www.facebook.com/thomas.kroter.5 (Posts vom 20. und 21.2.22)

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