Biotope einer Milonga

 

Die Auflistung von „Tango-Typen“ bildete die „Keimzelle“ meines späteren Tangobuches. In meiner Naivität bot ich das Manuskript vor zirka 15 Jahren der „Tangodanza“ zum Abdruck an. Was mich längst nicht mehr wundert: Ich bekam nicht einmal eine Antwort.

Nun halte ich meine damalige Aufstellung nicht für eine satirische Meisterleistung. Solche überzeichneten Typologien rangieren eher in der Kategorie „glossierende Fingerübungen“. Dennoch hatte ich von Anfang an das Gefühl, der Text würde ankommen. Er war dann Bestandteil des „Kleinen Milongaführers“, eines Gehefts von einigen Seiten, das wir auf unserer früheren Milonga auslegten. Wenige Jahre später fand es Eingang in die erste Version meines „Milonga-Führers“.

Keine andere Passage meines Tangobuches wurde mit derartig viel Häme, ja Hass belegt. So schrieb der frühere Tangoblogger Cassiel in seiner umgehend veröffentlichten Rezension:

Muss man tatsächlich mit einer eher abstossenden Härte über die schreiben, die anders unterwegs sind? Oder soll das alles Satire sein? Im weiteren Verlauf des Textes gibt es beispielsweise eine Auflistung von Tangotypen im Umfeld des DJs, aus der ich hier exemplarisch einmal zitiere. Neben der GDS (Gemeine DJ-Schnepfe) und den ETAs (Edeltanguer@s) werden die VIPs (völlig inaktive Profis) beschrieben: (…)

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich habe nichts gegen Satire und eine knackige Glosse kann sehr amüsant sein. Wenn sich aber die Satire über 300 Seiten quält, dann wird es irgendwann anstrengend. Und mir fehlt ein ausgleichendes Augenzwinkern um das ich mich in meinen Glossen stets bemühe.“

Na ja, das „ausgleichende Augenzwinkern“ kriegte ich anschließend vom Fanclub des Bloggers noch jahrelang ab. Einige Kostproben:

Selten habe ich so viel Arroganz auf einem Haufen gefunden.“

„Ich finde selbst Deine Rezension zu höflich. Mir geht dieser selbstgerechte Zeitgenosse unglaublich auf den Wecker.“

„Was für ein unerträgliches Gegockel. Das wohl überflüssigste Tangobuch aller Zeiten.“

„Ein furchtbares Buch, ein unangenehmer Mensch! Eigentlich darfst Du seine Beleidigungen als Kompliment nehmen. Er ist komplett schmerzfrei im Angriff von Anderen und merkt dabei gar nicht, dass seine Ausfälle eigentlich nur eine halbwegs gelungene Beschreibung seiner eigenen Psyche sind.“

„Ich finde es unklar, es ist kein Sachbuch, sondern immer wieder eine ziemlich eitle Selbstdarstellung des Autors mit all seinen ebenfalls völlig anonym bleibenden, sagen wir es ruhig mit seiner Wortwahl, Pöbeleien gegen viele Aktive in der Tangoszene.“

„Kann man diesen Gefahrenherd unter Quarantäne stellen, inklusive der Restauflage dieses fürchterlichen Buchs?“

https://tangoplauderei.blogspot.com/2010/09/gerhard-riedl-der-groe-milonga-fuhrer.html

In den folgenden Auflagen meines Buches habe ich der Passage daher eine Warnung vorangestellt:

„Im Folgenden werden diverse Arten von Tangofest-Besuchern mit zwei- bis dreibuchstabigen Kürzeln charakterisiert, was zu Missverständnissen führen kann und mir schon schwerste Vorwürfe eingebracht hat. Mir liegt jedoch die Behauptung fern, dass beim Tango nur Spinner oder Stümper herumliefen – im Gegenteil! Vorwiegend trifft man zwar nicht völlig normale, aber nette Menschen, allerdings je nach dem speziellen Event mit einer Häufigkeit zwischen 95 und 5 Prozent… Und bitte lassen Sie die mir schon häufig gestellte Frage: ‚In welche Kategorie würde denn ich gehören?‘ Es ist nicht mein Problem, wenn Sie eines mit Satire haben!“

Zum nostalgischen Amüsement hier noch einmal der Text unter dem Titel „Biotope einer Milonga“:

Die Disko-Theke ist kein Platz für den normal Sterblichen, sondern

den DJ (Abkürzung für „doller Job“)

die Gemeine DJ-Schnepfe (GDS): Aus Garderobenrichtung schnatternder Einflug über die Tanzfläche, flügelschlagende Landung am DJ-Pult, hinter dem sie dann in kicherndem Gespräch verharrt, bis jede/r gesehen hat, welch inniges Verhältnis sie mit dem Alpha-Männchen am Laptop verbindet (auch deshalb tragen viele „Aufleger“ Kopfhörer…)

ETAs (Edeltangueros/Edeltangueras): Der männliche ETA ist in einen körperumfließenden Strampelanzug, nadelgestreifte Schlaghosen oder ein anderes, derzeit schwer angesagtes Outfit gehüllt. Unvermeidlich sind die zweifarbigen, in Buenos Aires handgeklöppelten Tangopuschen. Das zugehörige Weibchen leidet an parabolischem Schleierblick unter markisenlang gebogenen Wimpern, blondiertem Haar, Magersuchtfigur sowie bauchfreiem Hohlkreuz, mit dem sie sich schattengleich an den männlichen ETA schmiegt. 

Der VIP-Bereich (völlig inaktive Profis) besteht aus meist lauschigen, mit quer liegenden ETAs verzierten, relativ bequemen Sitzmöbeln auf exponiertem Terrain und ist für die Veranstalter sowie die restlichen bereits beschriebenen Alphas reserviert. Allenfalls noch ein Bleiberecht haben dort Mitglieder angesagter Cliquen, die oft aus  langjährigen Tangoschülern bestehen und daher schon aus ökonomischen Gründen Veranstalters Lieblinge sind. Auffallend ist hierbei die immer größere Übereinstimmung mit den Tangolehrern (Kleidung, Blick, Tanzstil) – wobei es leider umgekehrt wie bei Haustieren ist, wo irgendwann das Herrchen seinem Hund ähnelt…

Die Tanzfläche ist sicherlich der Ort mit dem größten Selektionsfaktor: Schon der Zugang wird via Aufforderung durch natürliche Auslese (sprich: auserlesene Natur) geregelt. Nirgendwo in der Tangowelt liegen Lust und Frust, Entspannung und Verkrampfung, Erniedrigung und Ermutigung so nahe beieinander wie bei der paarweisen Bewegung zur Musik. Man verlässt das Parkett selten so, wie man es betreten hat. Welche Arten von Organismen tummeln sich nun auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“?

-       PP (Parkett-Pauker, nur echt mit dem erhobenen Zeigefinger): Die Tanzfläche ist mal voller und mal leerer, aber meistens voller Lehrer. Diese Individuen sind fast immer männlich sowie schon etwas älter und können daher besser reden als tanzen, was sie zum Einnehmen der Missionarsstellung verleitet: Gehen den Partnerinnen durch unerbetene Privatstunden oft ziemlich auf den Geist – anderen Tänzern auch, da diese imaginäre „Seminar-Räume“ zu umkurven haben.

      Merke: Tango lernt man durch Tanzen, nicht durch Reden!      

-       GF (Gefühlter Fortgeschrittener): Naher Verwandter des PP; erkennbar an fortgeschrittenem Alter, kariertem Hemd, Bundfaltenhose und deutlich arthrotischem Bewegungsmuster. Zerrt entschlossen an den Frauen herum, weil die ja sonst eh nicht merken, was er führt.

Tipp: Auch diese Tangos gehen, schon wegen der begrenzten Kreislaufkapazität, vorbei; und jener Typus vom alten Schlag neigt Gott sei Dank zum Abschluss von Privathaftpflichtversicherungen…

-       GFD (Gemeine Figurendreher): Die beim letzten Workshop erworbene Turbokombination muss exekutiert werden, und koste es die Bandscheibe (muss ja nicht die eigene sein…). Zu den Unterarten der GFD zählen

·         STA (Standard-Abweichler): Kommen von der ADTV-Tanzschule und zeigen abenteuerlichste Figuren in ausladender Standardhaltung (Paardurchmesser bis zu den Ellbogenspitzen mindestens 1,50 m) bei maximalem Tetanus der Skelettmuskulatur wie nach Kontakt mit Weidezaun („Monsieur/Madame 100 000 V“)

·         PD (Posendrücker): Hemmt selbst bei flottester Musik den Tanzfluss, indem er an seiner in Duldungsstarre verharrenden Partnerin so lange herumdrückt, zerrt und würgt, bis diese die Position einer verknoteten Beate Uhse-Puppe erreicht hat. Verschafft sich Zwangspublikum, weil keiner an ihm vorbeikommt!

-       OL (Orientierungslose): Besitzen das räumliche Vorstellungsvermögen von Bachstrudelwürmern und sind daher in ständiger Kollisionsgefahr mit anderen Paaren. Zu ihnen gehören

·         RT (Rückwärtstänzer): Der männliche Teil beginnt auch auf vollstem Parkett jeden Tango mindestens mit einem Schritt nach hinten (siehe „Grundschritt“) und räumt dann bei fortlaufenden Drehungen im Rückwärtstaumel ganze Längsseiten ab, wobei den attackierten Paaren nur der Hechtsprung in den Gegenverkehr oder auf die Sitzmöbel bleibt.

·         TS (Tangoschleicher): Ist mit der Geschwindigkeit sowie Unabänderlichkeit einer sanft angestoßenen Bergwerkslore auf meist linearem Geleise unterwegs und sieht bevorstehenden Kollisionen gleichmütig ins Auge (sofern er seine Brille nicht verlegt hat). Inzwischen durch den traditionellen Tango in massenhafter Verbreitung zu bewundern!

      Motto: „Was heißt hier ausweichen? Bei der Figur fehlen noch drei Vorwärtsschritte… und außerdem tanze ich verinnerlicht“

·         AAT (Acrobatic Action Tanguero): Erscheint meist mit Anfängerin, die er logischerweise immer wieder auswechseln muss. (Wo er’s nur immer wieder hernimmt?) Schleudert seine nichts ahnenden, untrainierten Opfer wild umher oder wirft sie in erotischer Raserei flach aufs Parkett (legt sich folglich bisweilen mit dazu). Vorsicht: Gefahr durch tief fliegende Highheels, Ohrclips und Tangueras! (Inzwischen durch die „Códigos“ genannten Tanzflächen-Benutzungsordnungen vom Aussterben bedroht!)

·         Die weibliche Variante des AAT hört auf die Bezeichnung KT (Karate-Tanguera) und besticht durch diverse, unmotivierte Tritte ans Schienbein oder noch prekärere Zonen des männlichen Partners.

      Frage: Wofür hat man beim Tango einen schwarzen Gürtel? Damit die Hose nicht rutscht!

TH (Tango-Hirsch): Paarhufer, welcher mit schwerem Schuhwerk zarte weibliche Füße zu malträtieren pflegt bzw. von ihm „Barridas“ genannte Tritte verteilt.

Wenn man sich den Text heute durchliest, fragt man sich vielleicht, warum er damals ein solches Erdbeben auslöste. Ich gebe zu bedenken: Um 2010 war der Tango-Hype auf einem Höhepunkt – und daher auch das Bemühen gewisser Einflussnehmer, sich in unserem Tanz Geltung zu verschaffen. Voraussetzung war, tiefsten Ernst und Bedeutung zu verströmen. Ausgelacht zu werden war das Letzte, was man brauchen konnte. Daher war meine kleine Satire wohl eine unsägliche Provokation.

Ganz so verkniffen ist man heute nicht mehr. Gott sei Dank!

Viel später fand ich ein Video des vielgerühmten Tangolehrers Murat Erdemsel, in dem er mir 2013 nacheiferte. Seine Parodie verschiedener Tangotypen wurde mehr als 100000 Mal angeklickt und fand uneingeschränkte Zustimmung. Die lag vielleicht daran, dass Murat eher die konservative Sicht verbreitete – und natürlich mit seiner männlichen Ausstrahlung mühelos Eisprünge auslösen kann.     

Sehen Sie selbst:

https://www.youtube.com/watch?v=mDJs-71f5dk

Apropos: Ein Tänzerinnen-Typ ist mir damals naiverweise entgangen. Freuen Sie sich daher auf meinen nächsten Artikel zum Thema „Die Tangopromi-Jägerinnen“!

Kommentare

  1. Sehr treffend beschrieben Ihre Tanzstereotype. Bei uns gibt es einen Herren der zu 100 % dem STA entspricht.

    Liebe Grüße,

    Ihr Arno Nyhm

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  2. Vielen Dank!
    Solche Rückmeldungen erhalte ich übrigens öfters. Mir wurde auch schon unterstellt, Personen auf weit entfernten Milongas zu kennen, da sie genau einem der Tangotypen entsprachen.

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  3. Raimund aus Berlin18. Februar 2022 um 22:07

    Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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    1. Danke für das Lob - aber Kommentare veröffentliche ich nur bei Nennung des vollen Namens!

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