Vor der Hacke iss duster



„Ein Experte ist ein Mann,
der hinterher genau sagen kann,
warum seine Prognose nicht gestimmt hat.“
(Winston Chrchill)

Neulich fand ich auf der Facebook-Seite von Thomas Kröter einen Text des Chefs der Neotango-Gruppe „Otros Aires“, Miguel Di Genova (die Original-Quelle ist mir leider nicht bekannt).

Der Bandleader verkündet hierin seine optimistische Vorhersage zur Entwicklung der modernen Tangomusik. Bereits dem Kollegen Kröter kommt dabei der eher skeptische alte Bergmannsspruch in den Sinn, mit dem ich meinen Text betitelt habe.

Doch eins nach dem anderen – hier zunächst meine Übersetzung des Textes von Miguel Di Genova:

Wenn wir in die Tango-Vergangenheit schauen, können wir zu einer bestimmten Zeit einen Boom des Tango nuevo erkennen. Diese Periode brachte sicherlich viel gute Musik hervor, aber auch solche von schlechter Qualität. Ich glaube, die letztere verursachte den jetzigen Niedergang des Nuevo und die Rückkehr des traditionellen Tango.

Aber Tango ist seiner Natur nach in Bewegung, und es dauerte stets viele Jahre, um neue Musikformen in die Tradition einzubinden. In Bezug auf den Elektrotango glaube ich an die Notwendigkeit einer Veränderung, um ihn vom Zwang zu befreien, elektronische Effekte einzubeziehen, und ich sage voraus: In fünf bis zehn Jahren wird er einen anderen Namen erhalten. Der könnte schlicht „Tango“ lauten, falls „Elektrotango“ schon ein historischer Begriff ist, oder „Neotango“, „Tango nuevo“ – oder, wie ich ihn sogar nenne, „Tango des 21. Jahrhunderts“.

Die Evolution dieses Tangos des neuen Jahrhunderts wird Zeit brauchen. Es ist ein offener musikalischer Stil, der große musikalische Kenntnisse und einige Bereitschaft zum Experimentieren benötigt. Die Entwicklung wird langsam, aber stetig erfolgen. Eines Tages, vielleicht in fünf, zehn oder zwanzig Jahren, wird der Moment kommen, an dem der „Tango des 21. Jahrhunderts“ die hauptsächliche Musik auf den Milongas werden wird, während der Tango des 20. Jahrhunderts – oder der traditionelle Tango, wie wir ihn heute nennen, sich zu einer wichtigen Form zurückverwandeln wird.

Heute sind die meisten Milongas von traditionellem Stil, während nur ein paar modern sind. Für die Zukunft kann ich eine Umkehr dieses Trends voraussagen. Einer der Hauptgründe dafür ist die Notwendigkeit, neue Anhänger für den Tango zu gewinnen. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hatten Gruppen wie „Gotan Project“, „Bajafondo“ und „Narcotango“ die Kraft, eine große Zahl von Menschen, meist junge, zum Tango zu locken. Der Grund war, dass solche Bands geeignete Wege fanden, Tango mit verschiedenen musikalischen Ausdrucksformen zu verbinden, die näher am heutigen Zeitgefühl waren als der klassische Tango. Wir wissen, dass die Menschen im Allgemeinen zu der Musik tanzen wollen, die sie auch gerne hören.

Ich vermag schon die Ausgangsbasis dieses Beitrags nicht zu teilen: Tango nuevo, also die Kompositionen Astor Piazzollas und der von ihm inspirierten Musikergeneration, gibt es bereits seit über 60 Jahren. Nach der zunächst schroffen Ablehnung durch die argentinischen Tänzer machte diese Musik ab den 1980-er Jahren (vorwiegend inspiriert durch die Bühnenshows in den USA und Europa) auch als Tanzform Furore. Noch bis vor zehn Jahren kam auch der normale Milongatänzer an der Interpretation von Piazzolla-Titeln nicht vorbei. Seit dieser Zeit erst erfolgte ein riesiger Umschwung: Heute machen sich DJs und Tänzer geradezu verdächtig, wenn sie sich mit dem berühmtesten Tangokomponisten aller Zeiten befassen.

Hier stimmt also bereits der Zeitablauf nicht einmal in der Größenordnung! Zudem halte ich den Tango nuevo vom künstlerischen Anspruch her – für Musiker und Tänzer – für die künstlerisch größte Herausforderung im Tango. Die Aufnahmen früherer Zeiten kommen über das Niveau guter Schlager- und Tanzmusik nicht hinaus. In welchem Sinne hier „schlechte Qualität“ für einen Rollback hin zum traditionellen Tango gesorgt haben sollte, ist mir schleierhaft.

Anders sieht es beim Neotango (oder „Elektrotango“, „Tango Fusion“ etc. – viele Namen für einen Musiktyp) aus, der Ende der 1990-er Jahre entstand: Während bei Piazzolla & Co. deutliche Bezüge zu Bartok, Strawinsky, Gershwin und vor allem zum Jazz zu hören sind, nähern sich die oft elektronisch gemixten Klänge der aktuellen Popmusik. Selbst wenn dann ab und zu als Alibi noch ein Bandoneón dudelt, geht öfters das verloren, was den Tango auszeichnet: Sensitivität, Schwermut, Rhythmus- und Tempowechsel, Emotion. Dies alles findet man im traditionellen Tango schon eher.

Sollte Herr Di Genova fälschlicherweise „Tango nuevo“ mit „Neotango“ verwechselt haben, hätte er sogar recht: Da gibt es zwar etliche sehr schöne Titel (zum Beispiel von seiner Gruppe), jedoch auch eine Menge Mist! Es kostet mich dann viel Geduld, mich durch ein fünfminütiges Gesäusel zu bewegen, bei dem ich bereits nach 30 Sekunden (wie bei einem schlechten Krimi) die Hoffnung auf irgendwelche Überraschungen aufgegeben habe.

Zudem gibt man sich ja auf „modern“ betitelten Milongas oft nicht einmal die Mühe, Stücke zu spielen, bei denen wenigstens noch auf dem CD-Cover das Wort „Tango“ vorkommt – was natürlich den tiefdüsteren Herrschaften von der EdO-Fraktion das bequeme Argument liefert, wer Non-Tangos spiele, solle darauf halt auch keinen Tango tanzen.

Ich meine aber nicht, dass die mangelnde Qualität dieses Genres der Grund für die Rückentwicklung zum traditionellen Tango war, denn über dessen Musik ließe sich Ähnliches sagen: zwar eine Menge sehr schöner Aufnahmen, aber auch viel Zweit- bis Drittklassiges.

Man sollte jedoch bedenken, dass es eine große Auswahl der Einspielungen von vor 1960 noch gar nicht so lange zu kaufen gibt. Erst im Laufe des Tango-Hypes der letzten zwei, drei Jahrzehnte kamen die wieder verstärkt in den Handel und waren sicherlich eine Basis für die EdO-Renaissance. Und sie klingen halt mehr nach „Tango“ als die komplizierten Rhythmen Piazzollas oder das Lounge-Gesäusel heutiger „Neolongas“.

Der entscheidende Grund für den Rücksturz des Tangos ist für mich die seit einem Jahrzehnt stetig zunehmende Kommerzialisierung. Der Leitsatz bei der Akquise von Kunden lautet, dass Tango ein sehr einfacher Tanz und daher von jedermann leicht zu erlernen sei. Die Musik der Goldenen Epoche ist in sich ziemlich geschlossen, hat einen klaren (für Romantisierungen bestens geeigneten) kulturellen Background, bietet viel Tangotypisches und überfordert tänzerisch niemand. So ist viel Platz für Tradition, Regeln sowie Ordnung, und das mag der Mitteleuropäer.

Moderne Tangomusik ist vielgestaltiger, schwerer einzuordnen und erfordert teilweise mehr Kreativität und Mut zum Experimentieren. Das schätzt insbesondere der Deutsche nicht – vor allem, wenn er nicht nur zuhören, sondern sogar dazu tanzen soll.

Eines schließe ich übrigens völlig aus: dass die jetzige neokonservative Phase von den Argentiniern forciert wurde. Die reisenden Tangolehrer von dort orientieren sich (wer will es ihnen bei der heimischen Wirtschaftslage verdenken) an dem, was ihr Konto füllt: Wenn es hierfür Bedarf gäbe, würden sie auch einen Tango lehren, bei dem man auf den Händen läuft...

Miguel Di Genova geht selbstverständlich davon aus, dass es beim Tango eine Evolution geben müsse. Er übersieht dabei die Möglichkeit des Aussterbens von Arten, die sich nicht den geänderten Umweltbedingungen anpassen können (oder wollen). Ich fürchte, der Tango wird noch eine Zeitlang in seiner traditionellen Form fortbestehen, sich aber – wie andere seltene Hobbys (z.B. das Veranstalten von Ritterspielen) – zahlenmäßig und kulturell marginalisieren. Und die moderne Tangomusik könnte sich – da eh „untanzbar“ – in die Konzertsäle (bzw. Diskotheken) zurückziehen.

Interessanterweise erwähnt der Bandleader von „Otros Aires“ eine Sparte des modernen Tango überhaupt nicht: Die Gruppen, welche alte Titel in zeitgemäßen, frischen und dynamischen Arrangements interpretieren und ihnen so neues Leben einhauchen. Der Erfolg mancher Ensembles (wie des „Sexteto Milonguero“) rechtfertigt noch am ehesten einen bescheidenen Optimismus. Wenn, dann ist das für mich der "Tango des 21. Jahrhunderts"!

Dennoch bin ich froh, den Tango ab 1999 noch in einer kreativeren und packenderen Form erlebt zu haben. Uns hat man nicht mit dem Versprechen angelockt, dass Tango die einfachste Sache der Welt wäre. Wir sind freiwillig gekommen, da er uns fasziniert hat. Ob diese Zeit wiederkehrt, ist alles andere als sicher.

Glück auf, vielleicht kommt der Steiger ja noch und hat sein helles Licht angezündt‘ – aber dennoch ist es vor der Hacke duster: Ob man auf taubes Gestein oder Kohle trifft, erweist sich erst hinterher.

Und um Kohle geht es ja heutzutage…

Kommentare

  1. Hallo Gerhard,

    das ist eine sehr schöne, zutreffende Analyse! Ich frage mich auch oft, warum einerseits EdO sehr viele Fans findet, andererseits der Neo- und Nontango, während Nuevo den Leuten zu schwierig ist. Ja, es stimmt, Nuevo ist viel mehr Kunst, und Neo- und Non-Tangos sind mehr Tanzmusik und Unterhaltung, wie EdO auch. Ich mag alles, und ich mag auch die Abwechslung, und auch die Einflüsse von Weltmusik. Die Neo- und Non-Tango-Fans, wie wir auch bei Tango Diavolo viele haben, sind unbeleckt von Dogmatismus und freuen sich über Abwechslung, aber einige tun sich auch schwer mit Nuevo.

    Die Frage, warum das so ist, beschäftigt mich schon lange. Es liegt vermutlich an der musikalischen Sozialisation der Leute. Viele haben auch mit Bartok, Jazz oder Gershwin wenig am Hut, um so mehr aber mit gängiger Popmusik.

    Anders ist dies mit Musikern, die lieben gerade Piazzolla und Nuevo, wenn sie mit Tango in Berührung kommen. Eben eine andere musikalische Sozialisation. Die Geigenlehrerin meines Sohnes z.B. findet Piazzolla toll, obwohl sie sonst mit Tango nichts am Hut hat.

    Und so geniale Ensembles und Musiker wie das Cuarteto Rotterdam, Beltango, Sexteto Visceral oder Lidia Borda bespielen ganze CDs nur mit Piazzolla und Nuevo, auch wenn sie gleichzeitig wunderbare Tanzmusik machen. Die können gar nicht anders. Und ich bin mir sicher, diese Kunst wird sich weiterentwickeln.

    Ich versuche immer, beim Auflegen alle mal zu erfreuen, einschließlich mich selber. Deshalb gibt es bei mir immer Klassiker, allerdings von aktuellen Gruppen, Neo, Weltmusiktango und Nuevo. Seit neustem auch Non-Tangos, weil sich einige dann freuen. Mal mehr, mal weniger, außer im Urlaub.

    Viele Grüße aus Norderney von Annette

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  2. Nachtrag: Wir spielen mit dem Gedanken, mal eine Nuevo-Milonga zu veranstalten. Dann kämen einige bestimmte Leute wohl nicht, vielleicht dafür aber andere. Jedenfalls hätten wir dann wohl mehr Platz auf der Tanzfläche als bei der HerzSchmerz-Milonga neulich....

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    1. Liebe Annette,

      lustige Idee und sicher machbar, wenn man es deutlich ankündigt.

      Ansonsten ist es aber auch mein Kurs, den Tänzern genug leichter Umsetzbares zu präsentieren - die Mischung macht's.

      Und ich bin selber ein großer Freund der Tangoschnulze (so in Richtung "Vida mía" oder "Nido gaucho"): Kann ein Abschlaffen im letzten Drittel einer Milonga verhindern und die Tanzfläche neu füllen.

      Generell freue ich mich, dass sich allmählich ein "Netzwerk" von DJs bildet, die im Einzelnen zwar verschieden, aber mit Sinn für musikalische Offenheit auflegen.

      Weiter so und noch einen schönen Urlaub!

      Gerhard

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