Maulkorb-Erlass



„Ich habe beispielsweise erhebliche Bedenken, ob das, was Gerhard so veröffentlicht, noch unter den Begriff Satire bzw. Ironie fällt (und damit in dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 GG liegt). Für mich ist das häufig einfach nur üble Polemik bzw. bewusste Schmähung Andersdenkender.“
(Tangoblogger Cassiel auf Facebook)

Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Tage wieder einmal in einem Beschluss die Kollegen an anderen Gerichten über den Stellenwert der Meinungsfreiheit belehrt.

Der konkrete Fall: Ein Rechtsanwalt vertrat seinen Mandanten, einen Vereinsvorsitzenden, in einem Ermittlungsverfahren wegen Veruntreuung von Spendengeldern. Anlässlich der Verkündung eines von der Staatsanwaltschaft beantragten Haftbefehls ging es wohl zwischen dem Verteidiger und der Staatsanwältin verbal bereits hoch her.

Als noch am Abend desselben Tages ein Journalist den Anwalt telefonisch um Auskünfte bat, hatte der zunächst gar keine Lust, das Verlangte zu liefern. Als der Pressemann allerdings hartnäckig blieb, redete der Verteidiger sich dann doch in Rage und ließ offenbar folgende Ausdrücke fallen:
·         „dahergelaufene Staatsanwältin“
·         „durchgeknallte Staatsanwältin“
·         „widerwärtige, boshafte, dümmliche Staatsanwältin“
·         „geisteskranke Staatsanwältin“

Selbstredend stellte die Strafantrag, worauf der Rechtsanwalt zu 70 Tagessätzen à 120 €, mithin 8400 €, verurteilt wurde. Die Revision dagegen blieb erfolglos.

Seiner Verfassungsbeschwerde jedoch gab das höchste deutsche Gericht statt. Zitate aus der Begründung:

„Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen. Vielmehr darf Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen. Einen Sonderfall bilden herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. In diesen Fällen ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktritt. Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden.“
(…)
„Es hätte insoweit näherer Darlegungen bedurft, dass sich die Äußerungen von dem Ermittlungsverfahren völlig gelöst hatten oder der Verfahrensbezug nur als mutwillig gesuchter Anlass oder Vorwand genutzt wurde, um die Staatsanwältin als solche zu diffamieren. So lange solche Feststellungen nicht tragfähig unter Ausschluss anderer Deutungsmöglichkeiten getroffen sind, hätte das Landgericht den Beschwerdeführer nicht wegen Beleidigung verurteilen dürfen, ohne eine Abwägung zwischen seiner Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Staatsanwältin vorzunehmen.“
(…)
„Dabei ist freilich festzuhalten, dass ein Anwalt grundsätzlich nicht berechtigt ist, aus Verärgerung über von ihm als falsch angesehene Maßnahmen einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwalts diese gerade gegenüber der Presse mit Beschimpfungen zu überziehen. Insoweit muss sich im Rahmen der Abwägung grundsätzlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen durchsetzen. Die insoweit gebotene Abwägung ‑ die sich gegebenenfalls auch auf die Strafzumessung auswirkt ‑ obliegt jedoch den Fachgerichten.“

Der Fall wurde folglich an das Landgericht Berlin zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Vielleicht nochmal in juristendeutsch-freiem Klartext:

Der hohe Stellenwert der Meinungsfreiheit gebietet es, nicht jede überspitzt oder beleidigend klingende Äußerung sofort als „Schmähkritik“ einzustufen, womit der Schutz nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz entfiele. Vielmehr muss in jedem Einzelfall geprüft werden, ob der Sachzusammenhang im Vordergrund steht (also hier immerhin die Vertretung eines Mandanten, der in U-Haft genommen werden soll) oder es vorwiegend darum geht, einer missliebigen Person „eins auf den Deckel“ zu geben.

Hier der Originalbeschluss im Wortlaut: 1 BvR 2646/15

Diese Position des Bundesverfassungsgerichts ist übrigens nicht neu: In mehreren früheren Verfahren hat diese Instanz bereits so geurteilt, zum Beispiel in einem Fall aus dem Jahr 2014, bei dem es ein abgewiesener Kläger in einer Dienstaufsichtsbeschwerde nicht gut mit der zuständigen Richterin meinte: 

Er protestierte „gegen das schäbige, rechtswidrige und eines Richters unwürdige Verhalten der Richterin“ und war der Meinung, „sie müsse effizient bestraft werden um zu verhindern, dass diese Richterin nicht auf eine schiefe Bahn gerät“.

Dafür setzte es (trotz der doppelten Verneinung) zunächst 80 Tagessätze à 20 €, allerdings musste sich das zuständige Landgericht von den Verfassungsrichtern ins Poesiealbum schreiben lassen:

Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen. Schmähkritik ist ein Sonderfall der Beleidigung, der nur in seltenen Ausnahmekonstellationen gegeben ist. Die Anforderungen hierfür sind besonders streng, weil bei einer Schmähkritik anders als sonst bei Beleidigungen keine Abwägung mit der Meinungsfreiheit stattfindet. Wird eine Äußerung unzutreffend als Schmähkritik eingestuft, liegt darin ein eigenständiger verfassungsrechtlicher Fehler, auch wenn die Äußerung im Ergebnis durchaus als Beleidigung bestraft werden darf.“
(…)
„Auch überspitzte Kritik fällt grundsätzlich in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden und die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur sogenannten Schmähkritik bekräftigt. Selbst eine überzogene oder ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Vielmehr muss hinzutreten, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Herabsetzung einer Person im Vordergrund steht. Nur dann kann ausnahmsweise auf eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls verzichtet werden.“
(…)
„Zudem ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, dass sich der Beschwerdeführer im Kampf ums Recht' befand und ihm hierbei zur plastischen Darstellung seiner Position grundsätzlich erlaubt ist, auch starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um seine Rechtsposition zu unterstreichen, ohne jedes Wort auf die Waagschale legen zu müssen.“


Damit ich Missverständnisse ausschließe: Niemand vertritt hier eine "Hau drauf-Gesinnung", zumal sprachliche Entgleisungen einem dann oft genug selber auf die Füße fallen. Wem es jedoch klar um die Sache geht, darf schon mal zu etwas gröberen Formulierungen greifen, ohne sich gleich einer Strafverfolgung auszusetzen!

Den hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit hat das Verfassungsgericht auch in folgender Entscheidung beschrieben, die man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte:

„Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“
Quelle: BVerfGE 7, 198 (208)

Nicht nur uns Bloggern wird also ein Maulkorb erlassen. Ich finde das beruhigend – gerade zu einer Zeit, in der, gar nicht so weit von uns entfernt, missliebige Sender und Zeitungen geschlossen und Journalisten reihenweise verhaftet werden!

Vielleicht sollten einschlägige Staatsoberhäupter einmal über ein Zitat aus dem „Mutterland der Demokratie“ nachdenken:
„Wenn zwei Menschen immer dasselbe denken, ist einer von ihnen überflüssig.“
(Winston Churchill)

P.S. Die Idee zu diesem Text verdanke ich (einmal mehr) meinem Kollegen Thomas Kröter, der zum Beschluss des BVerfG ebenfalls einen Kommentar verfasst hat:

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