Anti-Märchenstunde für Anfänger



Dieser Beitrag richtet sich nicht an erfahrene Tänzer/innen! Die haben ja im Lauf der Jahre beim Tango (hoffentlich) schon vieles kennengelernt und das für sie Wichtige und Richtige ausgewählt. Keinesfalls möchte ich sie davon abbringen!

Ich bin jedoch immer wieder entsetzt darüber, welche Märchen man Menschen auftischt, welche neu bei diesem Tanz sind und ihren Weg dorthin nicht selten über Klischeevorstellungen gefunden haben: Harmonie, Sinnlichkeit, Erotik und vor allem leichte Erlernbarkeit – natürlich unter der fachkundigen Anleitung von „Experten“…

Genau auf dieses Marketing-Schema setzt die inzwischen recht ansehnliche „Tango-Industrie“ und bietet ein immer umfangreicheres Warenlager und Dienstleistungsspektrum an: von Musik, Lehrvideos, Tanzschuhen, Kleidung bis hin zu Tangoreisen oder kasernierten Wochenendveranstaltungen (Encuentros, Marathons, Festivals) mit Musikberieselung von früh bis spät – und natürlich Unterricht (in Form von Kursen und „Workshops“) in Hülle und Fülle.

Die Rechnung ist ziemlich simpel: Wer vom Tango leben (oder wenigstens ein anständiges Zusatzeinkommen erzielen will), kann mit reinen Tanzveranstaltungen bei Eintrittspreisen im einstelligen Eurobereich nichts werden. Mit den weiteren Aktivitäten aber lassen sich immerhin Umsätze in der drei- bis vierstelligen Region erzielen.

Nun wollen wir niemandem vorwerfen, dass er Geld verdienen will – selbst mit einer solchen Minderheiten-Aktivität wie Tango. Die Frage ist halt, ob die Leistung die Bezahlung auch wert ist. Im Zentrum steht für mich dabei der diesbezügliche Unterricht: Wenn die Schüler hernach nicht zumindest das Gefühl haben, ein bisschen Tango zu können, werden sie meist weder einen schicken Fummel fürs Parkett noch gar einen teureren Festivalbesuch einkaufen.

Aber wie viele Menschen, die mit dem Tango beginnen, bleiben dabei? Nach meiner Schätzung deutlich unter zehn Prozent. Nun gibt es dafür sicherlich einen Strauß voll Gründe. Nach meinen Erfahrungen mit dem Elend auf den Milonga-Tanzflächen dürfte aber neben der mangelnden Willkommenskultur" die schwerwiegendste Ursache der oft lausige Tangounterricht sein.

Die Gegenstrategien greifen nur teilweise: Mittels der Ideologie von der allein seligmachenden Musik aus den 30-er bis 50-er Jahren liefert man den Neulingen wirklich simpelst umzusetzende Taktmuster. Noch dazu verkauft man genialerweise den Verzicht auf technisch schwierigere Aktionen als neue Tugend der bewegungsmäßigen Enthaltsamkeit. Mangelnde Selbstständigkeit, Kreativität und Fantasie werden belohnt, indem man sie als Respekt vor dem immer dichteren Regelwerk an Tanzvorschriften preist.

Schon ein Studium einschlägiger Webseiten beweist: Der Nimbus, mit dem sich viele Tangolehrer umgeben, verhindert ziemlich zuverlässig, dass ein Versagen der Schüler ihnen angelastet wird. Wer so oft in Buenos Aires war und von derartigen Tangogöttern ausgebildet wurde, kann nichts falsch machen.

Wirklich nicht? Ich glaube, doch! Aber im Gegensatz zu den üblichen Tango-VIPs halte ich mich nicht für unfehlbar. Ich möchte lediglich dem, was ich im Tangounterricht für ineffizient bis ungeeignet halte, meine Sicht entgegenstellen. Jeder darf dann seine persönlichen Erfahrungen machen und sein eigenes Urteil fällen.

Das Totschlagargument: Buenos Aires

Die argentinische Hauptstadt muss wirklich für vieles herhalten. Ob Musikauswahl, Tanzstil, Aufforderungsweise oder Parkettbenutzungs-Ordnung – wann immer man in Erklärungsnot gerät, hilft das Zauberwort vom ewigen Brauchtum: Das hat man dort schon immer so gemacht, das hat man dort noch nie gemacht, da könnte ja jeder kommen!
 
Dass die Welt auch im Tango-Mekka bunter ist und war, als man vorgaukelt, stimmt zwar, ist aber viel zu unschön, um wahr zu sein. Der Trick mit den „erfundenen Traditionen“ funktioniert nach wie vor:
Tango ist schon von seiner Entstehung her kein rein argentinisches Phänomen – und heute gibt es weltweit die unterschiedlichsten Spielarten dieses UNESCO-Weltkulturerbes:

Die „Tangolehrer-Qualifikation“ – was Genaues weiß man nicht

Häufig finden sich auf den Webseiten des Lehrpersonals stolze Aufzählungen zu Dauer und Häufigkeit ihrer Aufenthalte in der argentinischen Hauptstadt und/oder lange Listen von Stars, bei denen die Betreffenden ihre „Tangolehrer-Ausbildung“ absolviert hätten.

Die Wirklichkeit kommt allerdings etwas nüchterner daher: „Tanzlehrer“ (und gar noch „Tangolehrer“) ist kein anerkannter Ausbildungsberuf. Jeder darf sich so nennen, wenn ihm danach ist (und vielen ist danach). Hierzulande werden zwar entsprechende Lehrgänge (meist für viel Geld) angeboten – irgendwelche nachprüfbaren Abschlüsse stehen jedoch vor allem auf dem Papier:

Also, liebe Anfänger, wie oft und wie lange euer Instruktor schon in Buenos Aires war und von welchen „Maestros“ er betreut wurde, sagt über sein reales Geschick zum Unterrichten wenig bis gar nichts aus. Eher würde ich bei solchen „Renommier-Aussagen“ sehr misstrauisch.

Die Mär vom „Grundschritt“

Kein Tanz ohne einen solchen! Daher werden Sie im Anfängerkurs gerne mit Schrittmustern wie dem folgenden versorgt:

Das Dumme ist nur: Der Tango argentino hat keinen Grundschritt, sondern ist rein improvisiert. Als Grundbewegung kann man das Gehen (caminar) ansehen – und das war’s dann auch schon. Der „paso basico“ wurde angeblich vor einigen Jahrzehnten von argentinischen Tanzlehrern zusammengebastelt, um dem Bedürfnis ihrer europäischen Schüler nach einem „Tanzschulprogramm“ nachzukommen. „Authentisch“ ist daran also gar nichts – eher enthält die im Video gezeigte Version Elemente, welche gerade Anfängern große Probleme machen:
Aber warum einfacher, wenn’s auch schwierig geht…

Der Weg zum Nicht-Tanzen: Reden und Trockenübungen

Im obigen Video mit einer Gesamtlänge von 3’41 beginnt die erste gemeinsame Tanzbewegung bei 2’20 – und zur Musik (immerhin moderner) tanzen die beiden genau 24 Sekunden lang, also knapp 11 Prozent der Laufzeit.
Dies sind durchaus typische Zahlen: Mehr als die Hälfte der Zeit wird in Tangokursen geredet. Tanzen ist allerdings keine Wort-, sondern eine Bewegungssprache – vulgo: Das ganze Gesabbel bringt genau nichts. Oder hatten Sie wegen des portugiesischen Textes im Video Verständnisprobleme bei dieser Figur? Na eben.
Zwar wird man in der Branche nicht müde zu betonen, die wahre Kunst sei, das Tanzen zur Musik – praktisch umsetzen dürfen Sie das nur in einem Bruchteil der Unterrichtszeit – eher noch Schrittfolgen per Durchzählen ablaufen: Malen nach Zahlen…

Die Übungsmusik: Tanzen auf Di Sarli reicht

Ich wette darauf, dass in Ihrem Anfängerunterricht Musiktitel wie der folgende erklingen, oft sogar in Endlosschleife:

Nun kann man ja beim Üben mit leichten Stücken beginnen – wenn sich die Klänge jedoch darin erschöpfen, sollten Sie wissen: Sie können dann zu den zirka 80 Jahre alten Aufnahmen eines bestimmten Tangoorchesters (Carlos Di Sarli) tanzen. Hundert Jahre Tangomusik bieten allerdings eine riesige Variationsbreite, welche man den Schülern aber gerne mit dem Bekenntnis zu „traditionellem Tango“ vorenthält.
Die Wahrheit ist viel simpler: Man bleibt bei der „Förderschul-Musik“, um niemand zu vergraulen, der bei anspruchsvolleren Aufnahmen Probleme bekäme: reines Marketing also.

Der künstliche Unterschied: „Tango de Salón“ versus „Tango escenario“

Wahrscheinlich werden Ihre Tanzlehrer nicht müde zu versichern, sie unterrichteten „Salontango“, keinen „Bühnentango“. Mit etwas Satire könnte man den Unterschied wie folgt darstellen: „Bühnentango“ ist all das, was Ihre Tangolehrer nicht können!
Ich habe in fast 17 Jahren Tango nun schon genügend „Showtänze“ erlitten und dabei oft festgestellt: Was das betreffende Paar da zeigte, kann man (je nach Platz vielleicht mit kürzeren Schrittlängen und eventuell bei Verzicht auf kleinere Akrobatik-Teile) im Prinzip auf jeder Milonga tanzen. Auf der anderen Seite habe ich beim ganz „normalen“ Tanzen schon Menschen erlebt, deren Bewegungen einer Bühne wert gewesen wären.

Manche alten Milongueros sind da erstaunlich offen. Ich habe auf meinem Blog einmal Carlos Copello zitiert: Oder Ihnen wird erzählt (...): ‘Ich mache Bühnentango!’ Zum Teufel, entweder ihr tanzt Tango oder nicht! Umarmt euren Tango! Ich tanze Tango, fertig! ‘Nein, ich tanze Bühnentango, nein, ich tanze...’ Nein, ich tanze Tango auf meine Weise. Wenn es Ihnen gefällt, applaudieren Sie – wenn nicht, dann nicht. Fertig!”

Die Mär von richtig” und falsch”

Seien Sie auch vorsichtig, wenn Ihre Tangolehrer aus Ihnen ein verkleinertes Abbild ihrer eigenen Tanzweise machen wollen! Es ist im Gegenteil sogar ein Zeichen von echter Weiterentwicklung, wenn Sie einen abweichenden persönlichen Stil entwickeln. Wer Sie daran hindert, hat keine Ahnung davon, worauf es im Tango wirklich ankommt. So sagt der oben schon angesprochene Carlos Copello:

Und deshalb sage ich nicht: ‘Ich bin der König des Tango.’ Nein, ich habe meinen Stil, meine Art. Das ist mein Tango. Ich weiß nicht, ob er ganz toll ist, ganz schlecht oder Mittelmaß. Und mich kümmert es nicht, es herauszufinden. Ich weiß, was ich fühle, wenn ich tanze, und ich weiß, was ich tue. Das war’s dann schon, verstehen Sie?”

Der Mann führt… und die Erde ist eine Scheibe

Es ist mir unbegreiflich, wie einem trotz eines riesigen Fundus an Tanztheorie (und im 21. Jahrhundert) noch solche Worte zum Führerprinzip" über die Lippen kommen können. Leider ist das aber im Tanzunterricht immer noch die vorherrschende und traurige Realität.
Paartanz ist eine gegenseitige Verständigung via Körpersprache: Beide müssen gleichermaßen aufeinander eingehen.

Im Endeffekt sehe ich solche Neandertaler-Formulierungen als weiteres Mittel, den schwarzen Peter von den Ausbildern auf die Schüler weiterzugeben: Wenn’s nicht klappt, hat der Kerl halt nicht genügend Souveränität, und die Partnerin kann ihre dem Weibe geziemende Unterordnung nicht erbringen eine typische, fehlgeleitete Emanze…

Beim Tango braucht man einen festen Tanzpartner

Na prima – wenn er wenigstens schon tanzen könnte… Kann mir einer mal erklären, was es bringt, zwei Menschen per enge Umarmung zusammenzupappen, die beide keine Ahnung vom Tango haben und einander ständig aus der Achse reißen?

Das ist aber das Grundprinzip in den meisten Kursen – keine Wunder, dass dabei wenig herauskommt!

Betrachten Sie das (anfängliche) Fehlen eines festen Tanzpartners als Gnade des Schicksals, welches Sie somit zwingt, es mit möglichst vielen Tänzer/innen zu probieren – und hoffentlich sind auch einige erfahrene dabei.

Und wer sagt, dass nicht mal zwei Frauen oder gar Männer (!) miteinander tanzen können? Nun kommt das Totschlagargument ausnahmsweise von mir: War früher so in Buenos Aires!
 
Und zu guter Letzt: So manches Bussi kann vergiftet sein! 
 
Im Tango reißt man Sprüche ohne Ende zur Achtsamkeit" und „Offenheit". Wer länger dabei ist, weiß: Damit ist es oft nicht weit her. Das freundliche Getue, mit dem man manchmal sogar Neulinge behandelt, ist häufig sehr oberflächlich. Hinter den Kulissen gibt es manchmal heftige Machtkämpfe und Intrigen. Die Verhältnisse sind auch nicht anders als in einer politischen Partei oder der Reservisten-Kameradschaft. 

Liebe Tangoschüler,

hoffentlich habe ich Sie nun nicht zu sehr desillusioniert! Ich finde, Sie sollten die Nase höher tragen: Wer im Tangounterricht mehr kann und es besser weiß, ist so pauschal nicht zu sagen.

Wenn Sie also im Kurs nicht recht weiterkommen, kann es (neben den eigenen, unrealistischen Erwartungen) auch an Ihren Lehrern liegen. Versuchen Sie, die Wahrheit nicht zu verdrängen: So manche Tangostunde ist schlechter als gar keine.

Daher wiederhole ich hier einen Rat, der offenbar zu einfach ist, um angenommen zu werden: Tun Sie sich mit anderen, auch erfahrenen Tänzern zu einer Übungsgruppe zusammen und lernen Sie Tango, indem Sie ihn tanzen – fast egal, mit wem – aber nicht egal, wie oft und lange!

Denn: Tango lernt man nicht von heute auf morgen nicht mal auf übermorgen...

Mit den besten Wünschen für eine stabile Tangokarriere
Ihr Gerhard Riedl

Kommentare

  1. "Tangolehrer" besteht aus zwei Komponenten: Tango(tänzer) und Lehrer. Ein guter Tangotänzer ist aber noch lange kein guter Lehrer! Tango tanzen können die meisten gut bis ordentlich, aber mit dem Lehren hapert es bei sehr vielen! Meine Empfehlung: Möglichst viele Tangolehrer ausprobieren und dann die auswählen, bei denen man am meisten profitiert. Und: Je mehr unterschiedliche Lehrer, desto besser. So lernt man, dass vieles im Tango nicht in Stein gemeißelt ist.

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    1. Wenn man sie denn überhaupt braucht!

      Bei mir ist 90 Prozent von dem, was ich heute tanze, auf den Milongas entstanden: Learning by doing.

      Aber wenn schon, dann natürlich sorgfältig aussuchen und auch wechseln - völlig einverstanden!

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  2. Ach, noch was, lieber Gerhard: Ich möchte den Tangobeginnern lieber viel Ausdauer und Geduld wünschen! "Steile Tangokarrieren" sind doch eher selten.

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    1. Ja, schon - ich wollte ja nur sagen, dass gerade beim heutigen Tango die Chancen des Einäugigen...

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