Wie argentinisch ist der „Tango argentino“?
Weiterhin
verspricht hierzulande das Geschäftsmodell „authentisch
argentinisch“ hohe Gewinnaussichten bei Tänzern, Musikern und Tangolehrern.
Angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der Einwohner dieses Landes von
europäischen Auswanderern abstammt, erhebt sich bei diesem Label die Frage:
Spanier, Italiener, Deutscher, Osteuropäer oder was?
Da die
Diskussion dieser Frage offenbar immer wieder Interesse findet (siehe http://www.tanzmitmir.net/tanzpartner-boerse/viewtopic.php?t=17118
), nachfolgend dazu eine (etwas bearbeitete) Leseprobe aus meinem Buch „Der noch größere Milonga-Führer“:
Interessiert
es Sie wirklich, ob ein Wiener Würstchen tatsächlich aus Wien (und nicht etwa aus Frankfurt oder vom
Dorfmetzger) kommt? Na dann:
Das
weltweit bekannteste Tangostück, „La Cumparsita“,
wurde 1916 von dem 17-jährigen uruguayischen Studenten Gerardo Matos Rodríguez verfasst. Auch der Tango insgesamt entstand
keinesfalls pauschal „in Argentinien“, sondern in den Ballungszentren am Rio de
la Plata (also auch Uruguay), weshalb es immer wieder Versuche gab, diese Musik
als „Tango rioplatense“ zu
bezeichnen, was sich aber nicht durchsetzte. Der berühmteste Tangosänger und
-komponist, Carlos Gardel, wurde
angeblich in Frankreich (Toulouse) geboren – andere Quellen vermuten Uruguay.
Das typische Instrument des Tango, das Bandoneon, wurde von dem Chemnitzer Carl Friedrich Uhlig erfunden und dem
Krefelder Fabrikanten Heinrich Band
produziert. Als die bis heute besten Instrumente gelten die aus der (seit
DDR-Zeiten nicht mehr existierenden) Manufaktur der Gebrüder Arnold in Carlsfeld (Erzgebirge) – die berühmten „Doble
A’s“, auf denen auch jetzt noch alle großen Bandoneonisten spielen. Derzeit ist
übrigens in Argentinien die Ausfuhr dieses Instruments verboten – so wichtig
nimmt man dieses deutsche Produkt!
Schon
diese drei Beispiele zeigen die multikulturelle
Entstehung des Tango.
Wie
erwähnt, konnten die Argentinier zunächst mit dem Tanz der Einwanderer nichts
anfangen. Dies änderte sich erst, als das „Kind der Slums“ ab 1913 von der
Pariser Schickeria entdeckt und zum Kult erhoben wurde. Den damaligen Blickwinkel
der Oberschicht am La Plata zeigt eine Verlautbarung des argentinischen
Botschafters in Paris, Enrique Larreta,
aus dem Jahr 1914:
„Der Tango ist in Buenos Aires
ausschließlich ein Tanz schlecht beleumdeter Häuser und Tavernen der übelsten
Art. Niemals tanzt man ihn in anständigen Salons oder unter feinen Leuten. Für
argentinische Ohren erweckt die Musik des Tango wirklich unangenehme
Vorstellungen. Ich sehe keinen Unterschied zwischen dem Tango, den man in den
eleganten Tanzschulen in Paris tanzt, und dem der niedrigen nächtlichen
Vergnügungszentren von Buenos Aires. Es ist der gleiche Tanz, mit den gleichen
Gesten und den gleichen Verrenkungen.“
(zitiert
nach Dieter Reichardt: „Tango – Verweigerung und Trauer“)
Der
Chronist Sem („La ronde de nuit“, Paris 1912) beschreibt diese erste
„Auswanderung“ des Tango: Viele Argentinier und Uruguayer ließen „die Kutscherpeitsche oder den Besen, mit
dem sie die Straßen Buenos Aires’ oder Montevideos gekehrt hatten, liegen, um
sich in Paris als ‚Tangolehrer’ auszugeben.“ (zitiert nach Michel Plisson: „Tango“)
Was
lernen wir hieraus? Früher hatten Tangolehrer halt noch
eine solide Ausbildung!
Frage:
Was ist ein Ocho? Antwort: Zweimal Hartz IV…
Doch
Berühmtheit hat meist ihre Schattenseiten: In der Folge wurde dieser
anarchische Tanz in verschiedener Weise „gezähmt“: In Europa, zunächst in
England, erhielt er von Tanzlehrern per Ignorieren seines Hintergrunds das
„Eins, Zwei, Wiegeschritt“-Image eines Standardtanzes, den bis heute jeder
normale Tanzschüler beigebogen kriegt. In Argentinien säuberte man ihn von
seinen anrüchigen Wurzeln (schlagen Sie mal nach, was „El Choclo“ wirklich bedeutet): Seine teilweise ziemlich
drastischen Texte gerieten braver, sie durften nur noch das persönliche Schicksal,
nicht mehr seine sozialen Ursachen oder gar sexuelles Elend, beklagen – und
dies in Hochspanisch und keinesfalls im Lunfardo, der Sprache der Unterschicht.
Der Orchesterchef Francisco Canaro
berichtet in seinen Memoiren, dass er oft ganz klare Anweisungen erhielt, wenn
er von sozial höher gestellten Gastgebern engagiert wurde: Die Musiker dürften
sich weder betrinken noch den jungen Mädchen zublinzeln und schon gar nicht
Tangotexte der schlimmeren Art singen!
(aus
Dieter Reichardt: „Tango – Verweigerung und Trauer“).
Die
Musik geriet glatt und kommerziell, vor allem bemüht, den Tänzern einen
gleichmäßigen, klaren Rhythmus („compás“) zu verschaffen; gefällige, nette
„Tanzmusik“ eben: Dies war jene, von den Traditionalisten so hoch gelobte
„goldene“ Ära der großen Tangoorchester der 30-er bis 50-er Jahre – nur, mit
den authentischen, subversiven Ursprüngen des Tango hat dies auch nicht sehr
viel mehr zu tun als die Hugo Strasser-Arrangements
des Standard- und Turniertango („Tanze
mit mir in den Morgen, schrumm, schrumm…“). Ab den 60-er Jahren machten
Rock ’n Roll, Beatmusik und Militärdiktatur dem Tango in seinem „Heimatland“
fast den Garaus. Seine Renaissance im Europa der 80-er Jahre hat er
ausgerechnet den so „tangotypischen“ Bühnenshows zu verdanken, mit denen er
beispielsweise in Berlin ein regelrechtes „Tangofieber“ erzeugte. In der Folge
kam es zu einer „Masseneinwanderung“ argentinischer Tanzlehrer und Musiker.
Seit über fünfzehn Jahren schwappt die Welle nun zurück und beschert
Argentinien seinen Tourismusfaktor Nummer eins. Das konnte nicht ohne
Konsequenzen bleiben: Wieder mal ist das Bürgertum auf dem Tango-Trip…
Und Astor Piazzolla, der geniale Begründer
des Tango nuevo? Auch hier die heftigste Ablehnung in seiner argentinischen
Heimat: Ob seiner neuen Kompositionen wurde er auf der Straße als „Verräter“
beschimpft und bespuckt, es gab Prügeleien bei seinen Konzerten; Presse,
Radiostationen und Musikverlage boykottierten ihn. Wieder kam der Erfolg über
Europa, vor allem Paris: Erst seine dortigen Erfolge bewogen seine Landsleute,
sehr zögernd und allmählich, ihren Frieden mit seiner Musik zu machen – noch
heute aber wird er, vor allem auf Milongas mit „argentinischem“ Einschlag, fast
komplett ignoriert – ebenso wie die „widerborstigen“ Tangos von Autoren und
Interpreten wie Enrique S. Discépolo
oder Roberto Goyeneche bis hin zu Sängerinnen
wie Adriana Varela. Dem gegenüber
findet der „Elektrotango“ gerade beim jüngeren Publikum mehr Zulauf: wenig
textlastig, mit gefälligen Anleihen bei diversen aktuellen Strömungen der
Popmusik.
Selbst zum „Nationalheiligtum Nr. 1“
stellt Michel Plisson in seinem Buch „Tango“ fest: „Verschwiegen wird auch die
Tatsache, dass Gardel ein international gefeierter Star war, bevor er wirklich
in Argentinien Anerkennung fand, wo er nicht immer den erhofften Erfolg hatte.
Der Mythos Gardel begann erst mit seinem unerwarteten wie brutalen Tod 1935.“
(Gardel, sein Texter Alfredo Le Pera und ein Großteil seiner Musiker kamen bei
einem Flugzeugabsturz – mit bis heute dubiosem Hintergrund – ums Leben.)
Insgesamt
könnte man zu der ketzerischen Schlussfolgerung kommen: Zumindest das
argentinische „Establishment“ hat viel gegen den Tango und seine Entwicklung
unternommen. Immer wieder musste er emigrieren und im Rest der Welt seine (auch
pekuniäre) Wirkung beweisen, um in seinem „Heimatland“ Geltung zu erlangen.
Derzeit lässt sich das argentinische Lehrpersonal vor den Karren der angeblich „traditionellen“
Milongas spannen – so nach dem Motto: „Sag
mir, was Tango für dich ist, und ich verkaufe ihn dir!“
2010
wurde der Tango zum „immateriellen
UNESCO-Weltkulturerbe“ erklärt. Das weist für mich in die zutreffende
Richtung: Diese Musik ist, schon von ihrer Entstehung her, zutiefst
multikulturell. Niemand bestreitet den Anteil „argentinischer“ (d.h. zumeist
von Einwanderern abstammender) Komponisten, Musiker, Textdichter und Tänzer,
doch gibt es – bis heute – kaum eine Region unseres Globus, die nicht ihren
Beitrag zum Tango geleistet hätte und immer noch leistet.
Satire:
Selbst die Finnen glauben beispielsweise, dass sie Tango
tanzen! In seinem Roman „Tango ist meine Leidenschaft“ verrät Mauri A.
Numminen, seine Landsleute bräuchten zur Erkennung des Rhythmus vor allem eine
große Trommel sowie einen Sänger, der den Takt mit dem Knie am Mikrofonständer
klopfe… Aber wieso nicht auch mal mit Bermudas, Birkenstocksandalen und
Rucksack auf dem Buckel übers Parkett marschieren?
Das
unglaubliche Phänomen Tango bildete sich damals in den Hafenbezirken am Rio de
la Plata – heute könnte es genauso in Kreuzberg, den Pariser Banlieues oder den
Slums von Rio de Janeiro entstehen: Sein Nährboden sind die Widersprüche
zwischen sozialem Elend, persönlichem Schicksal und der Sehnsucht nach etwas
Geborgenheit, Wärme und Glück. Die Füße im Schlamm der Straße und die Augen zu
den Sternen gerichtet: Diese Diskrepanz muss man fühlen, um einen Tango zu
tanzen, der wirklich unter die Haut geht -
und dergestalt, so hoffe ich, wird der „Rebell vom La Plata“ auch weiterhin
allen Reglementierungsversuchen seiner oft saturierten Epigonen trotzen!
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