Liebes Tagebuch... 6
Kürzlich
auf einer Milonga: Eine Tänzerin, die mir schon längst aufgefallen war, da sie
unser Tun auf dem Parkett lächelnd mit Blicken verfolgte. Offenbar gefiel ihr, was
sie sah – kein schlechter Grund, sie vor unserer Abfahrt noch aufzufordern.
Das
Restrisiko: Ich hatte sie vorher nicht tanzen sehen. Ein Prise Abenteuer also
in unserer inzwischen ach so ordentlichen Tangowelt! Und irgendwie ahnte ich
schon, dass es ein bemerkenswertes Erlebnis werden sollte…
Um
mit dem Negativen anzufangen: Sie konnte nicht wirklich Tango. Umarmung, Achse,
Fußtechnik, Körperspannung, Basics – die „Mängelliste“, wenn ich sie denn hätte
erstellen wollen, wäre lang geworden.
Dazu
hatte ich allerdings weder Lust und noch gar Zeit: Sekunden nach unserem Beginn
übernahm sie das Kommando und trieb zur (glücklicherweise dynamischen) Musik
vielfältigste Kapriolen. Aus dem Tangorepertoire waren ihre choreografischen
Muster nur ansatzweise – eigentlich aus überhaupt keiner mir bekannten Tanzart –
eher ihrer Fantasie entsprungen.
Ich
bin sicher, die Mehrzahl der Tangueros hätte die Dame spätestens nach einem
Tanz wegen „Unführbarkeit“ wieder abserviert. Oder wäre ihr Verhalten bei denen
„braver“ ausgefallen? Fest steht, dass sie meine Konzentration in einem Maß
beanspruchte, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe.
Natürlich
hätte ich diese Frau in bekannter Manier in einen „Schraubstock-Klammergriff“
nehmen und ihr irgendwelche „Grundschritte“ aufdrücken können. Mein Rezept in
solchen Fällen lautet jedoch umgekehrt: machen lassen, bei ihr bleiben und
dennoch nicht im Weg stehen – also mittanzen statt führen.
Es
war ja nicht so, dass sie meine Anregungen völlig ignorierte. Sie nahm sich
das, was ihr in den Kram passte, ließ mir sogar manchmal die Zeit für kleine
solistische Einwürfe – und irgendwie blieben wir tatsächlich in der Musik.
Allerdings war es ein Ritt auf der Rasierklinge!
Als
wir uns nach vier Tangos schwer atmend, jedoch ehrlich bedankten und
verabschiedeten, hatten wir so ziemlich alle „Reglements“ des Paartanzes
gebrochen (außer, dass wir niemanden gerempelt oder gar umgetanzt hatten). Und trotzdem
(oder deshalb?) war uns etwas völlig Unwiederholbares gelungen, an das
zumindest ich noch lange denken werde.
In
der Garderobe lief mir eine Tangobekannte über den Weg. Ich konnte mir den
Spruch nicht verkneifen: „Da heißt es
immer, der Mann führt. Was für ein Unsinn!“ Da sie (wohl nicht als Einzige)
unser Treiben auf dem Parkett verfolgt hatte, war ihr sofort klar, worauf ich
anspielte: „Na, soweit ich sehen konnte,
hattet ihr doch beide großen Spaß!“
Ja,
tatsächlich hatte diese Tänzerin mir etwas geschenkt, was im heutigen Tango
ziemlich rar ist: Verrücktheit. „Mit
einem Gedicht und einer Posaune dein Herz zu wecken“ – vermutlich hätte sie
verstanden, was Horacio Ferrer da in „Balada
para un loco“ meint. Was wäre der Tango ohne die Bekloppten?
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