Darf man noch alles sagen?
«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.» (Immanuel Kant: „Was ist Aufklärung“)
Im Tango könnte man fallweise zu der Ansicht gelangen: Lieber nicht alles sagen!
Es ist nicht das erste Mal, dass man versucht, mich mit juristischen Schritten zu bedrohen. Aktuell schrieb mir ein Tangoveranstalter:
„Ich untersage dir
ausdrücklich, künftig meine Texte zu kopieren, meine Inhalte zu verwenden oder
meine Beiträge zu kommentieren.
Ein weiterer Verstoß – sei es durch Kommentare, Zitate oder sonstige Nutzung –
wird dazu führen, dass ich rechtliche Schritte einleite und einen Rechtsanwalt
mit einer Unterlassung beauftrage (§ 97 UrhG).“
Na ja, derzeit hätten solche Forderungen vielleicht in Weißrussland, eventuell Ungarn Aussicht auf Erfolg. In Deutschland gilt einstweilen noch der Artikel 5(1) des Grundgesetzes:
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html
Darf man bei uns also alles sagen? Natürlich nicht. Dagegen steht beispielsweise der Schutz der Privatheit. Auch das Urheberrecht und einzelne Paragrafen des Strafrechts (Beleidigung, Üble Nachrede, Verleumdung, Volksverhetzung, Billigung des Holocaust) setzen sinnvolle Schranken. Dennoch bin ich immer wieder erstaunt, wie weit Gerichte den Spielraum der Meinungsfreiheit auslegen. Einen ziemlich extremen Fall habe ich neulich besprochen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2025/07/freispruch-fur-el-hotzo.html
Einen überaus interessanten Text des MDR kann ich sehr empfehlen:
https://www.mdr.de/wissen/podcast/challenge/meinungsfreiheit-sanktionen-selbstzensur-100.html
Nach einer aktuellen Studie der Allensbacher Demoskopen hatten in den 1970er Jahren noch gut 80 Prozent der Befragten keine Probleme, ihre eigene Meinung deutlich zu verlautbaren. Ende 2023 waren es nur noch 40 Prozent.
Der Politikwissenschaftler Richard Traunmüller sieht darin ein Problem für die Demokratie, weil dadurch die Teilnahme am demokratischen Prozess behindert werde. Vereinfacht kommt er zum Ergebnis, eher linksstehende Personen hätten weniger Probleme mit der freien Rede. Konservative und rechte Positionen zu Staatsverständnis, Einwanderungsfragen, Gendern oder sexueller Orientierung würden häufiger und stärker sanktioniert. Klar, dass vor allem die AfD diese Probleme besonders deutlich anspricht. Populisten gehen gerne mit der Behauptung hausieren, der „Volkswille“ werde missachtet.
In niedrigeren sozialen Schichten sind diese Einstellungen besonders verbreitet. Klar, man hat ganz pauschal den Eindruck, nicht beachtet zu werden, nichts zu sagen zu haben. Es scheint also weniger um Meinungsfreiheit zu gehen als um das Problem, die eigenen Lebensumstände ignoriert zu sehen.
So entsteht die paradoxe Situation, dass man heute wohl „mehr sagen darf“ als in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, wo der Durchschnittsbürger schon froh sein musste, mal einen Leserbrief abgedruckt zu bekommen. In der Epoche des Internets darf jeder den größten Quatsch veröffentlichen. Das Problem ist nur: die anderen auch. Wer weltweit gelesen werden möchte, muss auch mit Widerspruch, ja Shitstorms rechnen. Das verdrießt viele.
Und klar: Das kann dann auch die Erbtante oder der Arbeitgeber lesen. Aber da gilt halt: No risk, no fun!
Ich meine: Man sollte sich schon genau überlegen, was man ins weltweite Web hinausbläst. Insbesondere, wenn es sich um Privates handelt. Im Zweifel gehen dann halt eigene (auch geistige) Nacktaufnahmen viral. Aber die anderen haben ja nicht die Hosen heruntergelassen. Das war man schon selber!
Der Kardinalfehler: Man verwechselt Meinungsfreiheit mit Widerspruchsfreiheit. Oder erst recht mit dem Schutz davor, verarscht zu werden. Der kann jedoch nicht gewährt werden, weil die Grundrechte auch für die anderen gelten.
Es ist also schon deshalb wenig aussichtsreich, den Prozesshansel zu geben.
Was ich darüber hinaus gerade beim Tango fürchterlich finde: Unserem Tanz täte das Image wesentlich besser, dass in der Szene Lockerheit und Toleranz herrschten. Stattdessen delektiert man sich an Tanz- und Verhaltensregeln, reagiert extrem humorlos auf Hofnarren wie mich. Man erzeugt den Eindruck: Wer im Tango Geltung erreichen will, sollte ja nicht kritisieren oder gar veralbern, sondern mit den Wölfen heulen. Der Eindruck, dass es in unserem Tanz entspannt zugeht, dass man auch mal über sich selbst lachen kann, nicht jede Kritik bierernst nimmt, wird so bereits im Ansatz vernichtet.
Darf man bei uns also alles (nicht strafbare) sagen? Sicher – wenn man den Widerspruch aushält. Mir war das auch in unserem Bereich bald klar: Wer Satiren verfasst, sollte im Tango keinen großen Freundeskreis erwarten. Glücklicherweise habe ich das in meinem ganzen Leben nicht erhofft. „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“ – so ein armenisches Sprichwort.
Bei mir ist es noch schlimmer: Ich erhebe keinen Anspruch auf die „ganze Wahrheit“ – und reiten kann ich auch nicht.
In seiner eingangs zitierten Schrift sagt uns Kant, wieso es mit dem Selber Denken so schwierig ist und bleibt:
«Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (…), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.»
Fazit: Selber denken ist mühsam – versuchen Sie es trotzdem! Sogar im Tango.
https://www.youtube.com/watch?v=DJa5Ugb3_6c
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