Liebes Tagebuch… 63

 

Post vom Zombie

Was wäre der Tango-Blogger ohne freundschaftliche Beziehungen in der Szene? Er müsste auf wunderbare Geschichten und eindrucksvolle O-Töne verzichten. Glücklicherweise bin ich da privilegiert.

Wie ich jüngst erfuhr, bekamen Tangoveranstalter auf die Einladung zu ihrer Milonga bemerkenswerte Antworten. Der Stein des Anstoßes: Man verlangte von den Besuchern einen Nachweis über vollständige Corona-Impfung bzw. stattgehabte Genesung. Ein Test reiche wegen der hohen Fehlerquote derzeit nicht. In der Einladung bedauerten die Organisatoren es, mit so vielen Einschränkungen starten zu müssen, sie baten um Verständnis für die Vorsichtsmaßnahmen.  

Daraufhin erhielten sie auch solche Mails:

„Hallo (…),

schön daß Ihr wieder eine Milonga plant. Nur die Bedingung mit der doppelten Giftspritze (mit bis zu 40 Nebenwirkungen, z.T. mit Todesfolge) kann ich nicht erfüllen. Also brauch ich erst gar nicht hinzufahren. Schade. Ich wünsche Euch einen schönen Sonntag! ☀ 

Viele Grüße, (…)"

„Hallo (…),
heiliger Tango, was für eine prickelnd verführerische Einladung! Geimpfte und Genesene. Gesunde sind nicht erwünscht? Aha!  
Damit dies eine ebenso formvollendete wie coole Zombie-Veranstaltung wird, wäre die Verkleidung unbedingt abzurunden durch Ganzkörper-Schutzanzug, Gasmasken und - nicht vergessen - Windeln!!! Für diejenigen, die sich aus Angst vor dem Virus in die Hosen machen könnten. Denn bis zum Stattfinden dieses kulturellen Ereignisses ist bestimmt die Lambda- oder gar die Omega-Mutante unterwegs.
Herr, lass Hirn regnen und schütze mich vor den dramatischen Folgen des sich stetig ausbreitenden und wirklich gefährlichen Virus der geistigen Umnachtung auf diesem Planeten.“

Zweifellos erwirbt man sich mit solchen Texten die Eintrittskarte auf mein Blog.

Den Satiriker reizt natürlich die Feststellung, vor allem die Schreiberin der zweiten Mail lebe offenbar in sehr trockenen Regionen… Viel Hirn jedenfalls ist nicht erforderlich, um eine kleine Auswahl sattsam bekannter Querdenker-Metaphern abzulassen.

Und selbstredend ist es jedem freigestellt, unter Missachtung des schulmedizinischen Mainstreams eine potenziell lebensrettende Impfung als „Giftspritze“ zu titulieren. Beziehungsweise möglichst diskret die eigene anale Phase abzuarbeiten. Vor allem aber eine Milonga-Einladung zu akzeptieren respektive nicht wahrzunehmen.

Sicherlich darf man sich im Meinungsstreit rund um die Pandemie pointiert äußern – vor allem, wenn man dabei niemanden persönlich heruntermacht. Mir geht es in solchen Fällen weniger um individuelle Ansichten als vielmehr um fehlende Kinderstube: Ich finde es unsäglich, ein freundliches Angebot mit solchem Verbalradikalismus zu quittieren – noch dazu Veranstaltern gegenüber, die den Tango nicht professionell betreiben, sondern sich seit Jahren mit viel Herzblut und privatem Engagement für unseren Tanz einsetzen. Und sich stets aufopfernd um ihre Gäste kümmern.

Ich fürchte, die Ursache solcher Ausfälle ist sehr simpel: Man will wo rein, darf aber nicht und pampt daher die Türsteher an.

Wenn es danach ginge: Ich habe in all den Jahren eine Vielzahl ziemlich bescheuerter Tango-Einladungen erhalten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Erst im Zustand völliger geistiger Umnachtung hätte ich eine „Dirndl-Milonga“ besucht. Klar, ich habe über solche kulturellen Amokläufe schon Artikel verfasst – niemals aber wäre es mir eingefallen, den Veranstaltern persönlich mitzuteilen: Liebe Leute, lieber erscheine ich mit einer Windel statt in einer Lederhose!

http://milongafuehrer.blogspot.com/2016/09/oktoberfest-milonga-von-der-dirne-zum.html

Ich kann es schon verstehen, dass man sich derzeit über die „Privilegien“ Geimpfter aufregt. Wieso dies aber ausgerechnet im Tango geschieht, ist mir rätselhaft. Schließlich gehört Ausgrenzung seit vielen Jahren zu den vorherrschenden Stilmitteln der Szene: Wer anders als per Cabeceo auffordert, begeht eine sexuelle Nötigung, wer sich nicht in die Ronda einfügt, ist ein rücksichtsloser Geselle – und wer moderne Tangomusik auflegt, verursacht einen kulturellen Niedergang. Am besten, man ekelt solche Leute raus, indem man sie oder ihre Partner nicht mehr auffordert.

Bekanntlich klage ich seit vielen Jahren darüber, dass professionelle Kreise mit teilweise nicht sehr feinen Mitteln bestrebt sind, das Musikangebot auf den Milongas auf „Tanzbares“ einzuschränken – sprich: Mittels simpler Dudelmusik die kommerziell profitable Mär zu befördern, Tango sei ein sehr einfacher Tanz, den jeder Depp erlernen könne.

Die Replik aus dieser Richtung kenne ich seit langer Zeit: Jeder Veranstalter habe das Recht, seine Milongas so zu gestalten, wie er meine. Und ich könne mir ja Events suchen, welche meinen Vorstellungen entsprächen. Oder halt selber welche organisieren. Hinsichtlich wichtiger Maßnahmen zum Gesundheitsschutz soll dies nun nicht gelten?

Wenn ich mich jemals entschlossen hätte, ein Encuentro zu besuchen, hätte ich per vorherige Erklärung bestätigen müssen, auf jegliche tänzerische Individualität zu verzichten. Noch schlimmer aber: Ich glaube nicht, dass man mich selbst dann als Teilnehmer akzeptiert hätte – gelte ich doch in der Szene als Häretiker, welcher auszugrenzen sei. Wegen meiner inakzeptablen Gesinnung habe ich selbst auf normalen Milongas schon Hausverbote erhalten.

Daher, liebe Mail-Verfasser: Erinnert euch doch beim nächsten Mal daran, was euch Mutti oder ersatzweise die Lehrer beigebracht haben! Wenn man sich überhaupt genötigt fühlt, eine solche Einladung abzulehnen und dies gar noch begründen zu sollen – wie wäre es mit:

„Liebe (…),

danke für die Einladung. Leider entsprechen die gesundheitlichen Auflagen eurer Milonga nicht meinen Vorstellungen, so dass ich nicht teilnehmen möchte. Ich wünsche euch aber weiterhin viel Erfolg beim Tango!

Herzliche Grüße, (…)“

Und ich weiß als Biologe: Hirn kam in der Evolution nicht durch Niederschläge zustande. Es bildete sich dort, wo auch die meisten Sinnesorgane lagen: vorne. Somit privilegierte die Selektion Individuen, welche auf sich nähernde Gefahren möglichst schnell und adäquat  reagieren konnten.

Bei den Primaten stand die Zunahme der Großhirnrinde in enger Verbindung mit dem Sozialverhalten. Bei den meisten jedenfalls.    

P.S. Das Copyright für meinen Vorschlag einer Antwort-Mail gebe ich hiermit frei. Zur weiteren Info empfehle ich:

 

Kommentare

  1. Sehr schön gesagt! Vielleicht sollten sich solche Typen die angekündigten Windeln vor den Mund binden ...

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