Gleiche Brust für alle
Kürzlich stieß ich per Zufall hintereinander auf zwei Texte, die ich vor allem in der Kombination spannend fand.
Den einen hat Kurt Tucholsky 1928 in seinem Buch „Mit 5 PS“ veröffentlicht. Er trägt den schlichten Titel „Polizei“. Der Satire-Meister beschreibt darin die Gefühle des Durchschnittsbürgers, wenn er wegen irgendeines Papiers bei der Polizei vorsprechen muss:
„In einem großen, grauen Gebäude mit unsaubern Korridoren sitzen Männer in Uniformen und unwahrscheinlich staubige Schreiber. Sämtliche Polizeibeamte der mitteleuropäischen Länder haben zuvor ein Examen in Unhöflichkeit abgelegt. Der Polizeibeamte sagt und tut mit unfehlbarem Instinkt das Umständliche, Unerwartete, Schwierigkeiten Bereitende, Pläne Durchkreuzende. Seine Sprache ist rau und grob; dass er nicht sofort haut, liegt am Zeitmangel.“
Der Bürger und Steuerzahler merke bei dieser Gelegenheit, dass er bislang ein „ungesetzliches, eigentlich gar nicht gestattetes, allzu freies Dasein geführt hat“: „Er schrumpft zu dem Nichts zusammen, das er ist, er hat keine Rechte mehr, bedeutet nichts, ist gar nicht mehr vorhanden.“ Der Zeitbegriff sei aufgehoben – man habe in solchen Behörden vor allem einmal zu warten:
„Dass mir jemand meine Uhr stiehlt, geht nicht an – das ist allgemein anerkannt. Daß er mir aber meine Zeit stiehlt, diese meine Zeit, in der ich arbeiten, Geld verdienen, mich meines Lebens freuen will – das geht sehr wohl an, wenn der Dieb nur einen Helm trägt, eine bunte Mütze, einen Säbel oder, mit aufgeknöpftem Uniformkragen oder im kümmerlichen Zivil, in der Polizeischreibstube sitzt.“
Wenn man dann endlich vor einem Beamten stehe, fühle sich das so an: „Der Gewaltige verbreitet eine Atmosphäre von Grobheit und schlechter Körperpflege um sich. Martialischer Trutz und ungewaschene Füße geben dem Mann ein eignes Aroma.“
Der Begriff „Polizeistaat“, so Tucholsky, sei ein Pleonasmus: „Überschreite die Schwelle, und du bist verloren. Hier hören alle Gesetze der Vernunft, der Höflichkeit, der allgemein gültigen Formen völlig auf. Verzaubert bist du. Frage, und es antwortet dir keiner; sie haben eine besondere Krankheit: die Polizeitaubheit. Bitte um Formulare, sie haben keine. Zeige Papiere vor, sie sehen sie nicht. Du schüttelst den Kopf; du glaubtest, du seist ein Mensch. Es ist ein Irrtum. Dich gibt es gar nicht.“
https://de.wikisource.org/wiki/Polizei_(Tucholsky)
Über 90 Jahre später sieht die Sache für mich etwas anders aus – womit wir beim zweiten Kapitel wären. Es spielt – was mich nicht wundert – in Berlin:
Ende Juni besuchte die 37-jährige Architektin und Theaterberaterin Gabrielle Lebreton einen Wasserspielplatz (auf Berlinerisch: „Plansche“) im Treptower Park. Dieses Gelände ist eingezäunt und nur zu bestimmten Zeiten geöffnet. Dabei hatte Frau Lebreton – in der Presse „Aktivistin für Geschlechtergerechtigkeit“ genannt – ihren sechsjährigen Sohn und einen Freund mit dessen vierjähriger Tochter. Die Dame sonnte sich – nur mit einer Badehose bekleidet. Zwei Mitarbeiter eines kommunalen Sicherheitsdienstes monierten das: „Oben ohne“ werde zwar im Park geduldet, nicht jedoch an einem Kinderspielplatz.
Es entspann sich eine lichtvolle Debatte, ob es nicht – im Sinne der Gleichberechtigung – Frauen erlaubt sein solle, sich mit nacktem Oberkörper zu präsentieren. Männer dürften das schließlich auch! Da man sich erwartungsgemäß nicht einigen konnte, wurde schließlich die Polizei beigezogen, welche 30 Minuten später in Form zweier Beamter erschien. Die ließen noch weniger mit sich reden. Die Alternative sei BH anziehen oder innerhalb von fünf Minuten verschwinden. Letzteres geschah dann wohl – allerdings unter lautem Protest:
Frau Lebreton, welche solche Protestaktionen mit nacktem Busen wohl nicht zum ersten Mal durchführte und sich in den Presseberichten gerne auch per (Porträt-)Foto präsentiert und ihren Beruf nennt, bleibt dabei: „Aber ich verstehe auch nicht, warum ich meine Brüste verstecken soll, während alle anderen Männer (sic!) sich mit nacktem Oberkörper frei auf der Wiese unterhalten und bewegen können", zitiert sie die „Berliner Zeitung".
Sie hat nun die Initiative „Gleiche Brust für alle" gegründet und will sich eine Anwältin (!) suchen, um vor Gericht diese schreiende Ungerechtigkeit zu beseitigen.
An dieser Stelle möchte man als Satiriker neidvoll den Griffel sinken lassen. Zweifellos wird der BH-Zwang die Justiz bis hin zum Europäischen Gerichtshof beschäftigen – wo kämen wir sonst hin! Wobei ich als alter, weißer Mann mit diesem Motto eher weniger anfangen kann – ich finde gewisse Unterschiede ganz nett…
Ich hoffe allerdings, auch Männer werden ihren Anspruch auf Mutterschutz einklagen: Dass sie die Kinder nicht selber austragen müssen, ist reiner Biologismus und eine schreiende sexuelle Diskriminierung!
Ich hätte die Dame gerne einmal gefragt, wie sie denn reagieren würde, wenn dann am Wasserspielplatz irgendwelche Typen den schönen Anblick mittels Pfiffen und einschlägigen Kommentaren gefeiert hätten. Wäre das Catcalling?
Ich weiß auch nicht, ob es für ihren Sohn oder die kleine Tochter des Freundes wirklich gut ist, wenn sie Zeugen eines eventuell eskalierenden Polizeieinsatzes werden. Unsere Aktivistin hat dazu in ihrem „Gedächtnisprotokoll“ eine klare Meinung:
„Mein Sohn ist augenscheinlich verängstigt und sagt: Mama bitte zieh dein T-Shirt an. Ich bin total im Stress, aber antworte meinem Sohn wohlwollend, jedoch entschieden: Ich verstehe, dass du Angst hast. Ich werde kein T-Shirt anziehen. Die Polizei verhält sich manchmal gegen das Gesetz und das dürfen wir nicht akzeptieren. Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Ich bin ein Mensch. Daran musst du dich erinnern.“
Na gut, es wird die revolutionäre Gesinnung eines Sechsjährigen sicherlich fördern, die französische Mutti an der Plansche im Sinne von Delacroix als Freiheit auf den Barrikaden zu erleben:
Auf jeden Fall scheint sich seit Tucholsky das Verhältnis zwischen Bürger und Polizei etwas verändert zu haben: Heute sehen sich die Ordnungskräfte eher als Moderator:innen, auf die man nicht stundenlang in öden Amtsstuben warten muss. Nein, sie kommen gerne nicht nur ins Haus, sondern auch an die Badestelle, um mit Durchgeknallten aller Geschmacksrichtungen sozialpolitische Themen zu erörtern. Auch der Personaleinsatz ist erheblich: Es kümmerten sich immerhin vier Mann um zwei Brüste. Nun wurde der Dame auch noch ein Gespräch mit der Gleichstellungsbeauftragten des Bezirks angeboten. Da macht es doch Spaß, zu meckern!
In Deutschland unverzichtbar ist natürlich eine abschließende Beleuchtung der Rechtslage: Grundlage ist der Paragraf 118 des Ordnungswidrigkeiten-Gesetzes, der sich „Belästigung der Allgemeinheit“ nennt:
„Ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen.“
https://dejure.org/gesetze/OWiG/118.html
Juristen nennen so etwas einen „Auffangtatbestand“, da ja der Scheiß, den man öffentlich anstellen kann, nicht im Einzelnen aufführbar ist. So werden nach dieser Bestimmung sowohl nackte Körperteile wie auch Reichskriegsflaggen bußgeldpflichtig.
Hilfreich ist vielleicht das Urteil gegen einen männlichen Nacktjogger, dem diese Betätigung im Stadtgebiet von Freiburg untersagt wurde. Da er sich nicht daran hielt, wurde gegen ihn ein Zwangsgeld verhängt (angedroht waren 3000 bis 4000 Euro). Gegen diese Verfügung zog der Mann vor Gericht: Er habe ja gar nicht gänzlich nackend gejoggt, sondern „sein Geschlechtsteil durch eine hautfarbene Nylonsocke verhüllt“. Reicht nicht, befand der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg: Denn es habe die Gefahr bestanden, dass sie den Blick auf das Geschlechtsteil oder Teile davon aufgrund des durchsichtigen Materials oder während der Bewegung freigibt. Die Verbotsverfügung sollte jedoch nach ihrem Inhalt gerade vermeiden, dass Passanten unfreiwillig den Schambereich des Joggers wahrnehmen können und der Schambereich auf sie nackt wirkt.
Nun wissen wir doch endlich, was man unter dem Begriff „Sockenschuss“ versteht…
https://de.wikipedia.org/wiki/Sockenschuss
Quellen:
https://www.stern.de/familie/leben/polizei-in-berlin---entweder-sie-ziehen-einen-bh-an-oder-sie-muessen-das-gelaende-verlassen--30599366.html
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