…und die Musi spielt dazu


Immer öfter stoße ich im Tango auf Indizien, dass sich gerade einiges ändert: Offenbar leidet die konservative Szene doch erheblich darunter, in weiten Kreisen als „verstaubt“ und „ewiggestrig“ zu gelten. Also bemüht man sich anscheinend, der modrigen Realität einen „coolen“ Anstrich zu geben.

Kürzlich stieß ich per Zufall (oder weiß YouTube inzwischen, dass ich oft das Entsetzliche suche?) auf ein Video, welches das vor wenigen Tagen stattgefundene norwegische „Bergen Embrace 3“ vorstellt.

Nach meinen Recherchen handelt es sich eindeutig um ein Encuentro. Zitat aus der Beschreibung der Veranstalter (von mir aus dem Englischen übersetzt):

„Dies ist eine rollenbalancierte Veranstaltung (mit Ausnahme der offenen Milongas am Montag und Dienstag) für Liebhaber der engen Umarmung, bei der wir Mirada / Cabeceo verwenden und das Parkett räumen und den Partner während der Cortinas wechseln. Sie können sitzen, wo immer Sie möchten, und wir ermutigen Sie zu lächeln und nehmen an, dass dies häufig vorkommt.“

Lächelnd hinnehmen sollte man auch die Regularien zum Geschlechter-Proporz:

„Es werden ungefähr 150 Tanzende für den Haupt-Event von Freitag bis Sonntag sein. Um ein ausgewogenes Rollenverhältnis zu gewährleisten, empfehlen wir die paarweise Registrierung. Es wird auch eine Einzel- und eine Doppelrollen-Registrierungsoption geben, und wir werden so weit wie möglich mit Führenden und Folgenden zusammenarbeiten. Erfahrungsgemäß registrieren sich jedoch nur sehr wenige Führende als Single. Also versuchen Sie bitte, sich zu paaren. Es ist eine grausame Welt, wie wir wissen ...“

Tja, wer versucht das beim Tango nicht – und erlebt dabei oft die Grausamkeit der Welt!

Die Art der Musik wird übrigens in der Einladung mit keinem Wort beschrieben. Auch das halte ich für sehr aufschlussreich…

Das allein hätte mich aber nicht bewogen, diesen Artikel zu schreiben. Ab der ersten Sequenz des Videos, welche wohl etwas mit der Hierarchie bei solchen Veranstaltungen zu tun hat, erklingt jedoch für dreieinhalb Minuten eine Musik, die dort ziemlich sicher nicht gespielt wurde: „Junto a Las Piedras („Neben den Steinen“) von der Gruppe „Otros Aires“!

In weiteren Sequenzen hört man dann noch zwei Non-Tangos – lediglich mit den Titeln „Cualquier cosa“ (1927) und „Shusheta“ (1923) kehrt man zum EdO-Repertoire zurück:



Schon länger fällt mir auf, dass auf Videos solcher geschlossener Veranstaltungen die Musik meist unterlegt ist, man also kaum hört, wie die gebotene Beschallung wirklich klang. Wieso eigentlich? Man ist doch angeblich stolz darauf, welch einzigartige Tandas die verpflichteten Edel-DJs bieten! Warum darf man die fast nie hören?

Wie gesagt – ich kann mir nicht vorstellen, dass man auf diesem Encuentro Neotango gespielt hat. Auch meine Recherchen hinsichtlich der verpflichteten DJs legen das nicht nahe. Aber vielleicht war ja einer meiner Leser dort zu Gast und kann mich eines Besseren belehren.

Wenn meine Vermutung allerdings richtig ist, frage ich mich schon, was dieser Etikettenschwindel eigentlich soll. Hat man schon selber Sorge, dass die wirklich gebotenen Titel altmodisch und öde klingen? Ich könnte das verstehen…

Tja, die Musi verschönt so manchen High-Snobiety-Auflauf. Das wusste man bereits in Fred Raymonds Operette „Saison in Salzburg“ (1938). Man könnte fast meinen, der Texter Kurt Feltz hätte schon Encuentros gekannt:

Und die Musi spielt dazu

„Ma chérie“ nennt man sei‘ Dirndl,
und „My darling“ heißt der Bua,
und die feinen Leute wackeln immer
mit dem Hinterteil dazua.
(…)
Oh yes, my boy, will you dance mit mir?
Oh, oui, madame, mit avec plaisir.
Okay, my darling, ich lieben you –
und die Musi spielt dazu!
(…)
Oh thank you, schöne Lady,
s'il vous plaît, my süaßer Bua,
und die feinen Leute zwinkern
sich dabei mit beiden Augen zua.

Wäre schon ein Traum, einen solchen blasierten Laden à la Peter Alexander mittels gesanglichen Geblödels und krachlederner Tänze aufzumischen…

 

Kommentare

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