So modern wie einst


Wie ich auf den DJ Andreas Groll gekommen bin, möchte ich nicht im Einzelnen erklären – nur so viel: Ich wurde auf gewisse Äußerungen seiner Gattin in sozialen Medien aufmerksam, auf welche ich dann auch auf meinem Blog einging.

In dem Zusammenhang erfuhr ich auch, dass ihr Mann auflege – die Sprache kam auf bayerische Walzer vom „Herbert Pixner Projekt“. Das erregte meine Aufmerksamkeit: Wer im heutigen Tango solche Stücke spielt, taucht wohl nicht im derzeitigen Mainstream-Einerlei unter!

Als ich daraufhin noch erfuhr, besagter DJ lege manchmal in der von mir sehr geschätzten Regensburger Milonga „Tango im Fluss“ auf, stand mein Entschluss fest, mir das einmal anzuhören. Gestern nun war es so weit:

Ob die gebotene Musik mich anspricht, merke ich meist schon während des Schuhwechsels: energiearmes Gedudel oder frischer Wind? Ziemlich dynamische Rhythmen schlugen mir schon da entgegen: War das D’Arienzo? Nein, wohl eher eines der heutigen Cover-Orchester, immerhin!

Als kurz darauf eine fetzige Milonga-Tanda erklang, hielt es meine Frau und mich nicht auf den Sitzen. Danach fiel uns das maximale Kompliment ein: Jetzt könnten wir eigentlich schon wieder heimfahren – und die einstündige Anreise hätte sich dennoch gelohnt!

Um es kurz zu machen: In den nächsten zweieinhalb Stunden brannte der DJ ein Programm ab, das es in sich hatte: natürlich auch traditionelle Titel (oft in modernen Versionen), höchst originelle Walzer, schnelle moderne Arrangements, auf die man wunderbar Milonga tanzen konnte – und höchst romantische, oft gesungene Schnulzen.
 
Andreas Groll gelang es, einen Spannungsbogen aufzubauen, der nie abebbte – die Tandas waren in sich harmonisch, jedoch nie redundant, und der Gesamtablauf immer wieder zum Tanzen motivierend. Großes Kompliment, da ich nur zu gut weiß, wie lange man vorher herumbasteln muss, dass einem dies gelingt – und wenn ich mich nicht sehr irre, war dennoch einiges improvisiert.

Wahrlich, wer Fresedos „Sollozos“ oder „Nunca tuvo novio" auflegt (was außer mir kaum einer tut), gewinnt mein Herz ziemlich schnell – noch dazu, wenn er es daneben hundertprozentig vermeidet, mich mit tausendmal abgenudelten Zeug in der Preislage von „Hotel Victoria“ oder „Milonga sentimental“ zu nerven. Im Gegenteil: Ich kannte die meisten Aufnahmen an diesem Abend überhaupt nicht – Gott sei Dank!

Klar, der DJ vermied es deutlich, allzu „schräg“ daherzukommen. Fast alles, was er spielte, ginge auch bei Skeptikern noch als „Tango“ durch, es waren genug klassische Titel im Programm, das Moderne wurde gefällig verpackt und schmeckte erst zu späterer Stunde deutlicher hervor. Piazzolla hörte ich keinen (na ja, vielleicht gab es ja nach Zwölf noch eine Runde, als wir schon weg waren…).

Und natürlich war alles brav in Tandas und Cortinas strukturiert – doch wer zwischen den Tänzen auch mal „Girl from Ipanema“  anspielt, dem verzeihe ich das gerne.

So gab es selbst für nicht völlig festgefahrene Traditionalisten eigentlich keinen großen Grund zur Beschwerde – im Gegenteil: Die Milonga war außergewöhnlich gut besucht, das Parkett stets auffallend voll, und bei der Vorstellung des DJ wollte der Applaus kaum enden. Und: Es waren überdurchschnittlich viele gute Tänzer/innen da. Obwohl es manche nicht glauben: Auch eine solche Musik zieht Publikum an – die Szene ist nicht halb so festgefahren wie die Mehrzahl ihrer Repräsentanten.

Und  Andreas Groll ist ja jung genug, um sich weiterzuentwickeln und im Lauf der Zeit noch mutiger aufzulegen. Ein hervorragender Anfang ist jedenfalls gemacht – und bietet den DJs meiner Generation einen Trost: Wir müssen keine Angst haben, uns allmählich zur Ruhe zu setzen – in der Szene kommt gelegentlich mehr nach als angepasste, fantasielose Computer-Nerds.

Das Sensationelle an diesem Abend: Ein DJ, der ganz viel selber tanzt – und das nicht nur mit wenigen, ausgesuchten Alpha-Weibchen. Dass ich sowas noch erleben darf… Und dabei war die Wiedergabequalität jederzeit bestens – ein Schlag ins Gesicht von Zeitgenossen, die uns erzählen wollen, man müsse den ganzen Abend festgenagelt hinter dem Computer sitzen und an den Knöpfen drehen anstatt sich am Treiben auf der Piste zu beteiligen!

Mit der Entdeckung dieses DJs haben die Gastgeber Christiane Solf und Sven Frais einen Glücksgriff getan. Verwunderlich ist das nicht. Seit vielen Jahren haben sie sich Tango-Moden verweigert: kein Festival-Gedöns, weder Schuh- noch Kleiderverkauf, keine Workshops internationaler Starlehrer. Nein – einfach Tango, und das mit wechselnden DJs, welche die einzelnen Segmente der Musik aus über 100 Jahren bestens abdecken: Es gibt rein traditionelle Abende, Milongas mit gemischter oder auch sehr moderner Musik – und neuerdings auch Traumtänze mit einem Talent wie Andreas Groll. Am 17. August wird er wieder dort auflegen. Die Termine findet man hier:

Wenn ich auf Milongas schnell müde werde und ganz bald wieder nach Hause möchte, beschleicht mich der Verdacht, es könnte an meinem vorgerückten Alter liegen. Nun, mag ja auch sein. Gestern Nacht aber sagte ich zu meiner Frau am Beginn unserer Heimfahrt:

„Heute Abend war es wieder mal wie damals, als wir mit dem Tango anfingen: Da reichte die Stunde der Heimreise kaum aus, dass wir einander begeistert von allem erzählten, was wir erlebt hatten: wunderbare Musik, tolle Tanzpartner, eine Super-Stimmung. Kein Zweifel, es war so modern wie früher – und ich finde es jammerschade, was man in den letzten 15 Jahren alles untergepflügt hat.“

Voraussetzung wäre schon einmal, endlich den ultimativ dämlichen Begriff „traditionell“ im Tango zu begraben. Viele von denen, deren Musik wir lieben, sind längst tot – ob nun Astor Piazzolla, Antonio Carlos Jobim oder Stan Getz – und seit einigen Tagen auch João Gilberto. Und „The girl from Ipanema“, das der DJ gestern als Cortina einsetzte, stammt aus dem Jahr 1962.

Ich bedanke mich jedenfalls für die Anregung und werde das Stück heute Abend auf unserer „Wohnzimmer-Milonga“ auflegen – und vielleicht spielt es Andreas Groll dereinst ja auch einmal in voller Länge:

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